Julius-Tandler-Familienzentrum

Julius-Tandler-Familienzentrum
Julius-Tandler-Familienzentrum

Das Julius-Tandler-Familienzentrum ist ein Gebäude im 9. Wiener Gemeindebezirk Alsergrund, das 1925 als Kinderübernahmestelle der Gemeinde Wien eröffnet wurde. Von 1965 bis 1985 trug es den Namen Julius-Tandler-Heim.

Die vom Arzt und Politiker Julius Tandler begründete Institution des Roten Wien diente bis 1998 der vorübergehenden Unterbringung, Beobachtung und Weitervermittlung von Säuglingen, Kindern und Jugendlichen. Zum Zeitpunkt ihrer Errichtung galt sie international als vorbildliche soziale Einrichtung. Das Gebäude des Architekten Adolf Stöckl ist auch architektonisch bedeutend und steht unter Denkmalschutz.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Vorgeschichte und Gründung

Für Säuglinge, Kinder und Jugendliche, die entweder Waisen waren oder aus sonstigen Gründen der Obsorge der Gemeinde Wien übergeben wurden, befand sich ab 1910 in der Siebenbrunnengasse 78 im Gemeindebezirk Margareten eine Übernahmestelle. Über diese überbelegte und überforderte Einrichtung schrieb der Journalist Max Winter 1919 in der Arbeiter-Zeitung, dass „Wien keine größere Schande hat als dieses Haus“[1]. 1923 beschloss die Gemeinde Wien auf Vorschlag von Julius Tandler, der damals als Stadtrat für Wohlfahrtswesen tätig war, die Errichtung einer neuen städtischen Kinderübernahmestelle. Mit der baulichen Gestaltung wurde Adolf Stöckl vom Stadtbauamt beauftragt. Das Gebäude wurde zwischen 1923 und 1925 in unmittelbarer Nähe zum im Besitz der Gemeinde Wien stehenden Karolinen-Kinderspital errichtet und am 18. Juni 1925 eröffnet.

Die ersten Jahre

Die Kinderübernahmestelle bot eine vorübergehende Wohnmöglichkeit für rund 220 Personen. Von dort aus wurden die Säuglinge, Kinder und Jugendliche an andere Heime oder an Pflegefamilien vermittelt oder manchmal auch zurück zu ihren Herkunftsfamilien gebracht. Der Aufenthalt in der Kinderübernahmestelle betrug in der Regel drei bis sechs Wochen.[2] In der Einrichtung waren Heilpädagogen tätig und die Bewohner wurden auch medizinisch versorgt. Zur Anlage gehörten auch ein Infektionspavillon und eine Prosektur.[3]

Die Kinderübernahmestelle war zugleich eine Außenstelle des psychologischen Instituts der Universität Wien. Die Universitätsprofessorin Charlotte Bühler führte hier Verhaltensbeobachtungen durch, die sie in ihren Schriften über die Psychologie des Kleinkinds verwertete.[4] Auch der Säuglingsforscher René A. Spitz führte ab 1935 – unter der Leitung Bühlers – Untersuchungen in der Kinderübernahmestelle durch.

Zeit des Nationalsozialismus

In der Zeit des Nationalsozialismus war das Gebäude eine Schaltstelle für die so genannte Kinder-Euthanasie, die organisierte Tötung von geistig und körperlich schwer behinderten Kindern und Jugendlichen. Die Kinderübernahmestelle übernahm die Einweisung der Betroffenen auf den Spiegelgrund.[5] In den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs beanspruchte die Wehrmacht die Kinderübernahmestelle als Kampfstellung, was jedoch durch die unwahre Behauptung, die im Gebäude untergebrachten Kinder hätten schwere ansteckende Krankheiten, abgewendet wurde.[6]

Nach dem Zweiten Weltkrieg

Gedenktafel für Julius Tandler

1946 wurde eine Julius-Tandler-Gedenktafel im Hof der Kinderübernahmestelle enthüllt, die der Bildhauer Josef Riedl entworfen hatte.[7] 1950 erhielt Riedl den Auftrag zur Gestaltung von zwei weiteren Gedenktafeln für Julius Tandler, die links und rechts des Portals angebracht wurden.[8]

Von der Gründung im Jahr 1925 bis zum Jahr 1964 wurden in der Kinderübernahmestelle rund 63000 Säuglinge, Kinder und Jugendliche betreut – von insgesamt rund 158000, die in diesem Zeitraum in der Obsorge der Gemeinde Wien standen.[9] In den Jahren 1962 bis 1965 wurde das Gebäude restauriert. Im Zuge dessen wurde der Magna-Mater-Brunnen von Anton Hanak, der sich ursprünglich im Innenhof befunden hatte, in den Rathauspark von Mauer versetzt. Die Wiedereröffnung der Kinderübernahmestelle unter dem neuen Namen Julius-Tandler-Heim erfolgte am 22. November 1965 durch Bürgermeister Bruno Marek.[10] Zugleich erfolgte auch eine inhaltliche Neuorientierung. Stand zuvor auch die allgemeine medizinische Betreuung im Vordergrund, wurde nun mehr Augenmerk auf die psychologische Betreuung gelegt. Außerdem wurden familienähnliche Gruppen geschaffen, die das Leben im Heim erleichtern sollten.

1985 wurde die Einrichtung in Julius-Tandler-Familienzentrum umbenannt. Bis Ende der 1980er Jahre ging die Anzahl der in städtische Heime überstellten Kinder zurück und betrug jährlich rund 600. Im Jahr 1992 stieg die Zahl jedoch auf rund 1000 überstellte Kinder an, was zu einer Überlastung der Kapazitäten des Julius-Tandler-Familienzentrums führte. Die zuständige Magistratsabteilung 11 arbeitete daraufhin eine Reform der Heimunterbringung aus, die den Namen „Heim 2000“ trug.[11]

Schließung der Übernahmestelle und heutige Nutzung

Im Zuge der Reform der Heimunterbringung wurde die Übernahmestelle im Julius-Tandler-Familienzentrum 1998 geschlossen. „Heim 2000“ zielte auf die Schließung großer Institutionen und die Übersiedelung der Kinder und Jugendlichen in betreute Wohngemeinschaften. Betroffen von einer Schließung waren etwa auch die Stadt des Kindes und das Kinderheim Hohe Warte.

Heute ist im Julius-Tandler-Familienzentrum das Referat für Adoptiv- und Pflegekinder der Magistratsabteilung 11 untergebracht.[12] Außerdem befindet sich hier eine Stelle für Partner-, Familien- und Sexualberatung des Vereins „Familie und Beratung“.[13]

Lage und Architektur

Das Julius-Tandler-Familienzentrum gilt als Hauptwerk des österreichischen Architekten Adolf Stöckl, der im Auftrag der Stadt Wien unter anderem zahlreiche Gemeindebauten und Bildungsgebäude entwarf.[3] Das viergeschoßige Eckgebäude mit L-förmigem Grundriss befindet sich an der Lustkandlgasse 50 im Bezirksteil Thurygrund. Es grenzt an das 1977 geschlossene Karolinen-Kinderspital, mit dem es den Helene-Deutsch-Park umschließt.

Die palastartige Architektur entspricht der Vorgabe Julius Tandlers, dessen Ausspruch „Wer Kindern Paläste baut, reißt Kerkermauern nieder“ auf einer Gedenktafel am Gebäude angebracht ist. Die Fassade verbindet Elemente des Heimatstils und des späten Secessionsstils. Der Arkadenhof und ein Terrakotta-Medaillon an der Außenseite zitieren den Renaissancestil als Verweis auf das Ospedale degli Innocenti, ein bekanntes Renaissance-Findelhaus in Florenz. Das übereckgestellte Treppenhaus besitzt beim straßenseitigen Hauptportal eine kleine Vorhalle in Form eines Tempiettos.

Die Innenausstattung orientiert sich an der Ästhetik der Wiener Werkstätte. Im Treppenhaus befinden sich mit schwarzem Stein verkleidete Balustraden. Im obersten Geschoß des mit einer Kassettendecke abschließenden Treppenhauses sind Kinderfiguren des akademischen Bildhauers Theodor Igler[14] angebracht. Die akademischen[15] Bildhauer Max Krejca und Adolf Pohl schufen weitere Kinderfiguren für die Nebentreppen in den Seitentrakten. Im Erdgeschoß befinden sich Wandbrunnen mit Fröschen aus Keramik.[16]

Literatur

  • Regina Böhler: Die Entwicklung der Kinderübernahmestelle in Wien zwischen 1910 und 1938. In: Ernst Berger (Hrsg.): Verfolgte Kindheit: Kinder und Jugendliche als Opfer der NS-Sozialverwaltung. Böhlau, Wien 2006, ISBN 978-3-205-77511-9, S. 193–196
  • Vera Jandrisits: Die Kinderübernahmestelle als Wendepunkt der weiteren Lebensabläufe behinderter und „gesellschaftsunfähiger“ Kinder in der Zeit des Nationalsozialismus in Wien. Diplomarbeit, Universität Wien 2003
  • Julius Tandler: Kinderübernahmsstelle der Gemeinde Wien im 9. Bezirk Lustkandlgasse, Ayrenhoffgasse, Sobieskigasse. Wiener Magistrat, Wien 1925
  • Gudrun Wolfgruber: Kinder- und Jugendfürsorge im roten Wien zwischen sozialer Kontrolle und Hilfe, dargestellt am Beispiel der Kindesabnahmen. Diplomarbeit, Universität Wien 1996

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Max Winter: Das Kinderasyl der Stadt Wien. In: Arbeiter-Zeitung vom 19. Jänner 1919
  2. Kinderfreunde Wien.at: Gudrun Wolfgruber: Kindsein in Wien – Sozialpolitische und psychologische Intentionen der Jugendwohlfahrt zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Vortrag im Rahmen der Festveranstaltung 100 Jahre Kinderfreunde am 17. Oktober 2008 (PDF 105kB), abgerufen am 8. Dezember 2009
  3. a b Adolf Stöckl. In: Architektenlexikon. AzW, Wien 1880–1945, 2007
  4. Herwig Czech: Die Städtische Kinderübernahme (Küst). In: Eberhard Gabriel (Hrsg.): Von der Zwangssterilisierung zur Ermordung. Böhlau, Wien 2002, ISBN 3-205-99325-X, S. 166 f.
  5. Webservice der Stadt Wien: Einweisung der Kinder in die Anstalt – Kindereuthanasie in Wien 1940 bis 1945, abgerufen am 8. Dezember 2009
  6. Webservice der Stadt Wien: Wien im Rückblick - Kalendarium "Wien 1945", abgerufen am 8. Dezember 2009
  7. Webservice der Stadt Wien: Die Gemeinde ehrt Prof. Dr. Tandler - Enthüllung einer Gedenktafel in der Kinderübernahmsstelle, Rathauskorrespondenz vom 26. August 1946, abgerufen am 8. Dezember 2009
  8. Webservice der Stadt Wien: Gedenktafeln für Professor Tandler, Rathauskorrespondenz vom 21. April 1950, abgerufen am 8. Dezember 2009
  9. Bezirksmuseum Alsergrund | Historischer Bezirksführer, abgerufen am 8. Dezember 2009
  10. Webservice der Stadt Wien: Die Tat ist das oberste Erziehungsprinzip, nicht das Wort! - Bürgermeister Marek gab der renovierten Kinderübernahmsstelle den Namen "Julius Tandler-Heim", Rathauskorrespondenz vom 22. November 1965, abgerufen am 8. Dezember 2009
  11. Gabriele Ziering: 90 Jahre Jugendamt Ottakring 1913 bis 2003. Von der Berufsvormundschaft zur Jugendwohlfahrt der MAG ELF. Hrsg. v. d. Stadt Wien. Wien 2002, S. 47
  12. Webservice der Stadt Wien: Referat für Adoptiv- und Pflegekinder, abgerufen am 8. Dezember 2009
  13. Webservice der Stadt Wien: Partner-, Familien- und Sexualberatung, abgerufen am 8. Dezember 2009
  14. Julius Tandler: Kinderübernahmsstelle der Gemeinde Wien im 9. Bezirk Lustkandlgasse, Ayrenhoffgasse, Sobieskigasse. Wiener Magistrat, Wien 1925, S. 41
  15. Julius Tandler: Kinderübernahmsstelle der Gemeinde Wien im 9. Bezirk Lustkandlgasse, Ayrenhoffgasse, Sobieskigasse. Wiener Magistrat, Wien 1925, S. 38 f.
  16. Dehio-Handbuch Wien. II. bis IX. und XX. Bezirk. Hrsg. v. Bundesdenkmalamt. Anton Schroll, Wien 1993, ISBN 3-7031-0680-8, S. 397
48.22991666666716.352305555556

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