Maigret und der einsame Mann

Maigret und der einsame Mann

Maigret und der einsame Mann (französisch: Maigret et l’homme tout seul) ist ein Kriminalroman des belgischen Schriftstellers Georges Simenon. Er ist der 73. Roman einer Serie von insgesamt 75 Romanen um den Kriminalkommissar Maigret und entstand vom 1. bis 7. Februar 1971.[1] Der Roman wurde im Jahr 1971 vom Verlag Presses de la Cité veröffentlicht und vom 14. April bis 21. Mai 1971 in 23 Folgen unter dem Titel Maigret et l’homme seul in der Zeitung Le Figaro vorabgedruckt.[2] Die erste deutsche Übersetzung von Hansjürgen Wille und Barbara Klau erschien 1975 unter dem Titel Maigret und der Einsame bei Kiepenheuer & Witsch. 1990 veröffentlichte der Diogenes Verlag eine Neuübersetzung von Ursula Vogel unter dem Titel Maigret und der einsame Mann.

Im Mittelpunkt des Romans steht ein ermordeter Clochard. Mehr als die Suche nach dem Täter beschäftigt Maigret die Frage, warum der Mann seine Familie von einem Tag auf den anderen verließ und zum Clochard wurde. Im Verlauf des Falles kommt er Geschehnissen auf die Spur, die 20 Jahre in der Vergangenheit liegen.

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

August 1965 in Paris: in einem verfallenen, leer stehenden Haus im Quartier des Halles wird ein erschossener Clochard aufgefunden. Auffällig ist das gepflegte Äußere des Toten, den niemand näher zu kennen scheint. Er suchte keinen Kontakt zu anderen Obdachlosen und trug wegen seines aristokratischen Auftretens den Spitznamen „Aristo“. Erste Hinweise auf seine Identität erhält Maigret, als er Fotos des Toten veröffentlichen lässt. Zwei Frauen rufen unabhängig voneinander an und erkundigen sich nach einer Narbe des Mannes, um sogleich wieder aufzulegen. Erst ein weiterer Zeuge identifiziert den Toten als Marcel Vivien, einen ehemaligen Kunsttischler vom Montmartre, der vor 20 Jahren, am 23. Dezember 1945, von einem Tag auf den anderen Frau und Tochter verließ und spurlos untertauchte. Als eben diese Frauen entpuppen sich die beiden Anruferinnen, doch sie können oder wollen die Gründe für Viviens Verschwinden nicht offenbaren.

Maigrets Nachforschungen fördern zutage, dass Vivien noch im ersten Halbjahr 1946 in Montmartre gesehen wurde, zumeist in Begleitung einer jungen Frau namens Nina Lassave. Ein anonymer Anruf nennt dem Kommissar einen Namen, der ihn auf eine neue Spur bringt: Mahossier. Maigret macht Louis Mahossier ausfindig, einen Maler, der seinen Urlaub in La Baule verbringt. Dieser streitet jede Verbindung zu dem Fall ab, obwohl ihn mehrere Zeugen am Abend von Viviens Tod in dessen Nähe gesehen haben und er eine Pistole des gesuchten Kalibers besitzt. Erst Maigrets Besuch im Zeitungsarchiv des Parisien Libéré fördert einen Kriminalfall zutage, der ebenso in den Archiven der Pariser Kriminalpolizei zu finden gewesen wäre, den der junge Maigret allerdings nicht verfolgt hatte, weil er 1946 für ein Jahr nach Luçon strafversetzt worden war: Nina Lassave wurde im August 1946 erwürgt. Die Ermittlungen führten auf die Spur von Vivien und Mahossier, die beide eine Affäre mit der jungen Frau hatten. Doch die Verdachtsmomente ließen sich gegen beide nicht erhärten, und der Fall blieb ungeklärt.

In Maigrets abschließenden Verhör löst sich sowohl der 20 Jahre zurückliegende als auch der aktuelle Fall. Vivien, der für Nina Lassave Familie und Beruf aufgegeben hatte, konnte nicht ertragen, dass sie auch die Geliebte des jungen Malers Mahossier war, und brachte sie um. Die Rückkehr in ein bürgerliches Leben schien ihm daraufhin nicht mehr möglich, und er führte 20 Jahre lang eine Existenz am Rande der Gesellschaft. Mahossier, der Nina so leidenschaftlich liebte wie Vivien, schwor sich, ihren Tod zu rächen. Obwohl längst verheiratet und Leiter eines gutgehenden Malerbetriebs, versuchte er auch 20 Jahre später noch, den untergetauchten Vivien aufzuspüren. Als er diesen eines Abends in der Gestalt eines Clochards in den Pariser Markthallen wiedererkannte, vollendete er seinen Schwur und brachte Vivien um. Nachdem Mahossier abgeführt wird, müssen Maigret und sein Assistent Torrence ihre Betroffenheit mit einem großen Bier herunterspülen.

Details zu Maigrets Biografie

Maigret und der einsame Mann ist einer der wenigen Romane der Serie, die das Geschehen in exakten Daten verorten. Der Roman spielt im August des Jahres 1965.[3] Zu seinem Alter gibt Maigret an, dass er „bald fünfundfünzig wurde“.[4] Das würde ein Geburtsjahr von 1910 nahelegen. Daneben gibt es nur noch zwei weitere Maigret-Romane, die die Handlung ähnlich exakt verorten – und sie führen beide auf ein deutlich abweichendes Geburtsdatum. In Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet ist Maigret am 27. Juni 1930 45 Jahre alt; in Maigrets erste Untersuchung zählt der junge Polizist am 15. April 1913 26 Jahre.[5] Die einander widersprechenden Angaben über Maigrets Alter im Verlauf der Serie haben verschiedene Maigret-Forscher in Chronologien zu glätten versucht.[6][7][8]

Eine Episode in Maigrets Biografie wird in Maigret und der einsame Mann nachträglich erhellt. Die im Roman erwähnte Strafversetzung nach Luçon aus dem Jahr 1946 verweist auf einen Roman, den Simenon tatsächlich bereits im Jahr 1940 geschrieben und zwei Jahre später veröffentlicht hatte: Maigret im Haus des Richters. Eine Begründung für Maigrets Strafversetzung, die damals nicht einmal Madame Maigret kannte,[9] wird nun nachgeliefert: Maigret stand zu dieser Zeit „auf Kriegsfuß“ mit dem Inspektor der Kriminalpolizei, woraufhin er nach Luçon versetzt wurde, wo er sich fast ein Jahr lang langweilte. Erst als der Inspektor in Pension ging, berief dessen Nachfolger Maigret wieder nach Paris zurück.[10]

Rezeption

Simenons Biograf Stanley. G. Eskin erläuterte am Beispiel von Maigret et l’homme tout seul den Zwiespalt vieler Maigret-Romane. Simenon breche mit den gewohnten Spielregeln eines Detektivromans, der vor allem vom kriminalistischen Rätsel lebe, und wechsle während der Handlung auf die Ebene eines psychologischen Romans. Der Effekt sei allerdings oft, dass die Romane auf beiden Ebenen nicht vollständig überzeugten. So sei in Maigret et l’homme tout seul „der Plot ziemlich mißraten“ und ein am kriminalistischen Rätsel interessierter Leser müsse eventuell „die Geschichte noch einmal nachlesen, um alles zu verstehen, und wer legt schon Wert darauf, eine Detektivgeschichte ein zweites Mal zu lesen?“ Die tiefere Ebene des psychologischen Romans werde dagegen durch die Detektivhandlung „keineswegs erhellt“ und ein daran interessierter Leser erfahre zu wenig über Louis, Marcel und die anderen Figuren und zuviel über Maigret.[11]

Positiv wertete die Handlung dagegen Tilmann Spreckelsen in seinem Maigret-Marathon: „Wie aber all dies nach einem halben Jahr eine Katastrophe herbeiführt, ein Beben auslöste, das bis in die Romangegenwart (also zwanzig Jahre später) fortwirkt, das ist zwar konstruiert, aber sehr schön konstruiert.“[12] Ingrid Müller-Münch nannte Maigret und der einsame Mann eine „meiner Herzensgeschichten von Simenon“, die wie die gesamte Maigret-Serie „auf die Fährte von Lebensläufen bringt, die lakonisch erzählt, an sich nichts besonderes sind. Bis auf das Eine: Dass sie irgendwann einmal aus dem Ruder gerieten und dass dieser Exkurs nicht mehr zu reparieren war.“[13]

Laut Lucille F. Becker stehe der Tote im Mittelpunkt des Romans, während die Auflösung des Falles nachrangig bleibe. Die Vorgeschichte illustriere Simenons Überzeugung, dass das Opfer in den meisten Fällen selbst eine Verantwortung für die Tat trage. Der Täter hingegen begehe den Mord, weil er, wie in allen Romanen Simenons, nicht anders könne. Und so verteile sich Maigrets Sympathie auf beide, Täter und Opfer, da er die Leidenschaft, die zwei gewöhnliche Menschen zu ihren Taten trieb, verstehen könne.[14] Für Josef Quack hatte Simenon in Maigret et l’homme tout seul „das erzähltechnische Gewicht scheinbar unbedeutender Details exemplarisch hervorgehoben und die lebensnotwendige Bedeutung geringfügigster Einzelheiten thematisiert.“ Zum ausschlaggebenden Motiv des Mordes werde letztendlich die Erinnerung des Täters an „das kleine Muttermal auf ihrer Wange, das ihr etwas so Rührendes verlieh“[15].[16]

Maigret et l’homme tout seul wurde 1982 im Rahmen der TV-Serie Les enquêtes du commissaire Maigret verfilmt. Den Kommissar Maigret spielte Jean Richard. Regie führte Jean-Paul Sassy.[17]

Ausgaben

  • Georges Simenon: Maigret et l’homme tout seul. Presses de la Cité, Paris 1971 (Erstausgabe).
  • Georges Simenon: Maigret und der Spitzel. Maigret und der Einsame. Maigret und Monsieur Charles. Übersetzung: Hansjürgen Wille, Barbara Klau. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1975, ISBN 3-462-01039-5.
  • Georges Simenon: Maigret und der einsame Mann. Übersetzung: Ursula Vogel. Diogenes, Zürich 1990. ISBN 3-257-21804-4.
  • Georges Simenon: Maigret und der einsame Mann. Sämtliche Maigret-Romane in 75 Bänden, Band 73. Übersetzung: Ursula Vogel. Diogenes, Zürich 2009, ISBN 978-3-257-23873-0.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Biographie de Georges Simenon 1968 à 1989 auf Toutesimenon.com, der Internetseite des Omnibus Verlags.
  2. Maigret et l’homme tout seul auf der Seite von Michel Martina.
  3. Georges Simenon: Maigret und der einsame Mann. Diogenes, Zürich 2009, S. 5, 7.
  4. Georges Simenon: Maigret und der einsame Mann. Diogenes, Zürich 2009, S. 50.
  5. Maigret of the Month: Maigret et l’homme tout seul (Maigret and the Loner) auf der Maigret-Seite von Steve Trussel. (englisch)
  6. Jean Forest’s Chronology of the ages of Maigret and Simenon.
  7. David F. Drake: The Chronology of Maigret’s Life and Career.
  8. Maigret Biography from the work of Jacques Baudou.
  9. Tilman Spreckelsen: Maigret-Marathon 21: Im Haus des Richters. Auf FAZ.net vom 31. August 2008.
  10. Georges Simenon: Maigret und der einsame Mann. Diogenes, Zürich 2009, S. 159.
  11. Stanley G. Eskin: Simenon. Eine Biographie. Diogenes, Zürich 1989, ISBN 3-257-01830-4, S. 411–412.
  12. Tilman Spreckelsen: Maigret-Marathon 73: Der einsame Mann. Auf FAZ.net vom 2. Oktober 2009.
  13. Die telefonische Mord(s)beratung. Literaturliste zur Sendung des WDR 5 vom 31. Oktober 2009 (pdf).
  14. Lucille F. Becker: Georges Simenon. Twayne, Boston 1977, ISBN 0-8057-6293-0, S. 40–41.
  15. Georges Simenon: Maigret und der einsame Mann. Diogenes, Zürich 2009, S. 195.
  16. Josef Quack: Die Grenzen des Menschlichen. Über Georges Simenon, Rex Stout, Friedrich Glauser, Graham Greene. Königshausen & Neumann, Würzburg 2000, ISBN 3-8260-2014-6, S. 18.
  17. „Les enquêtes du commissaire Maigret“ Maigret et l’homme tout seul (1982) in der deutschen und englischen Version der Internet Movie Database.

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