Präsidentschaftswahlen in Weißrussland 2010

Präsidentschaftswahlen in Weißrussland 2010
Standarte des Präsidenten der Republik Belarus

Die Präsidentschaftswahlen in Weißrussland (Republik Belarus) 2010 fanden am 19. Dezember 2010 statt. Der seit 1994 regierende Staatspräsident Aljaksandr Lukaschenka kandidierte bei diesen Wahlen für eine vierte Amtszeit.

Inhaltsverzeichnis

Wahltermin

Das weißrussische Parlament legte im September 2010 den 19. Dezember 2010 als Wahltermin fest.[1] Der späteste mögliche Termin für die Durchführung der Wahlen wäre der 7. Februar 2011 gewesen, da gemäß der weißrussischen Verfassung die Wahl nicht später als zwei Monate vor Ende der laufenden Legislaturperiode stattfinden kann.

Amtsinhaber Aljaksandr Lukaschenka

Kandidaten

Insgesamt zehn Kandidaten traten zu den Präsidentschaftswahlen an:

Ergebnis

Platz Kandidat Stimmen
absolut  %
1 Aljaksandr Lukaschenka 5.122.866 79,67 %
2 Andrej Sannikau (164.000) 2,56 %
3 Jaraslau Ramantschuk 0126.986 1,97 %
4 Rygor Kastusjou 0126.645 1,97 %
5 Uladsimir Njakljajeu 0113.747 1,77 %
6 Wital Rymascheuski 0070.433 1,1 %
7 Wiktar Zjareschtschanka 0069.653 1,08 %
8 Mikalaj Statkewitsch (67.000) 1,04 %
9 Ales Michalewitsch 0065.598 1,02 %
10 Dimitrij Uss (31.000) 0,48 %
Für keinen der Kandidaten (Stimmenthaltung) 6,47 %
Wahlbeteiligung 92,9 %

Das Ergebnis wurde am 20. Dezember 2010 von der Vorsitzenden der Zentralen Wahlkommission Lidsija Jarmoschyna während einer Pressekonferenz kundgetan.[4] Eine Exit-Poll-Befragung des Unabhängigen Instituts für sozioökonomische und politische Studien (NISEPI), das in Wilna registriert ist, ergab hingegen eine Unterstützung von 51,1 % der Wähler für Lukaschenka, von 8,3 % für Njakljajeu und von 6,1 % für Sannikau.[5]

Die Rolle Russlands

Im Sommer 2010 kam es zu einer rapiden Verschlechterung der durch Streitigkeiten um die Lieferung von Gas und Öl geprägten Beziehungen zwischen Russland und Weißrussland. Die russische Regierung zeigte sich enttäuscht über die ausbleibende Anerkennung der von Georgien abtrünnigen und von Russland unterstützten Republiken Abchasien und Südossetien. Der weißrussische Präsident Lukaschenka behauptete, er habe die Anerkennung niemals konkret in Aussicht gestellt, während sein russischer Amtskollege Dmitri Medwedew das Gegenteil behauptete und Lukaschenka Wortbruch vorwarf.[6]

Im vom Kreml kontrollierten Fernsehsender NTW wurde eine Dokumentarserie über Lukaschenka ausgestrahlt, in der dem weißrussischen Präsidenten unter anderem Amtsmissbrauch, Kontakte zu kriminellen Strukturen und das Verschwindenlassen politischer Gegner vorgeworfen wurde.[7] Aufgrund dieser Vorgänge wurde vermutet, Russland strebe eine Ablösung Lukaschenkas an und könnte bei den anstehenden Wahlen einen der Oppositionskandidaten unterstützen. In Medienberichten wurde spekuliert, dass Andrej Sannikau von der Bewegung „Europäisches Belarus“ möglicherweise von Moskau unterstützt werden könnte.[8]

Erste Protestkundgebung in Minsk

Die Teilnehmer an den Präsidentschaftswahlen in Weißrussland durften gemäß neuen Vorschriften der Stadtverwaltung von Minsk vom 19. November 2010 keine Kundgebungen auf den zentralen Plätzen der Hauptstadt veranstalten.[9]Vertreter der Zivilgesellschaft kritisieren, dass insbesondere das generelle Verbot von Demonstrationen im Umkreis mehrerer hundert Meter um U-Bahn-Stationen legale Demonstrationen im Zentrum von Minsk de facto unmöglich macht - eine Regelung, die nicht mit der weißrussischen Verfassung vereinbar sei.

Trotz des offiziellen Demonstrationsverbots versammelten sich am 24. November 2010 zwischen 1000 und 5000 (je nach Quelle) Regierungsgegner in der Hauptstadt Minsk. Mikalaj Statkewitsch, Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei (Hramada), bezeichnete die Kundgebung als „die einzige Waffe im Kampf gegen die Diktatur“. Die Demonstranten forderten den Rücktritt von Präsident Aljaksandr Lukaschenka.[10][11] Die Demonstration sollte an das umstrittene Referendum vom November 1996 erinnern, mit dem Präsident Lukaschenka das Parlament aufgelöst und die Verfassung geändert hatte, um seine Macht zu sichern.

Nach dieser ersten größeren Demonstration in Minsk drohte den zwei Präsidentschaftskandidaten, welche an der Kundgebung teilgenommen haben, der Wahlausschluss: Wital Rymascheuski, Kovorsitzender der Belarussischen Christdemokraten, und Uladsimir Njakljajeu (Kampagne "Sprich die Wahrheit") wurden von der Staatsanwaltschaft verwarnt.[12]

Großdemonstration am Wahlabend

Mehrere Tausend Menschen - nach offiziellen Angaben handelte es sich um 3000, nach Angaben unabhängiger Medien um 15.000 bis 25.000 - versammelten sich am 19. Dezember im Zentrum von Minsk, um gegen Wahlfälschungen zu demonstrieren. Es handelte sich damit um die größte Demonstration in Belarus seit den Präsidentschaftswahlen 2006. Die Demonstration wurde von Sicherheitskräften brutal niedergeschlagen, über 600 Personen wurden festgenommen. 45 Personen, denen Schüren von Massenunruhen vorgeworfen wird, drohen Haftstrafen von bis zu 15 Jahren (Artikel 293.1 des weißrussischen Strafrechts). Von diesen befinden sich 31 in Haft (Stand 18. Januar 2011), darunter die Präsidentschaftskandidaten Uladsimir Njakljajeu und Andrej Sannikau[13]. Njakljajeu war auf dem Weg zu der Kundgebung, Sannikau auf der Kundgebung selbst von Ordnungskräften schwer verletzt worden.

Umgang mit den Inhaftierten

Die meisten der über 600 Inhaftierten wurden zu Haftstrafen von 10 bis 20 Tagen verurteilt. Die individuelle Schuld der Demonstranten wurde nach Aussagen von Menschenrechtlern durch das Gericht nicht übergeprüft, zudem sei es während der Haftzeit zu zahlreichen Verstößen gegen die Menschenwürde der Gefangenen gekommen [14]

Die im KGB-Gefängnis "Amerikanka" einsitzenden prominenten Gefangenen besitzen seit über zwei Wochen keinen Zugang zu ihren Anwälten, es dringen fast keine Informationen über ihren Zustand an die Öffentlichkeit. Der Minsker Staatsanwalt Siarhej Barysenka bezeichnete diese Tatsache öffentlich als normal: "Wir haben keine Beschwerden von den Teilnehmern des Strafverfahrens erhalten [...] Die Normen der Verfassung und des Strafprozessrechts werden in vollem Umfang erfüllt"[15].

Einige wenige Details sind während des letzten Besuchs der Anwälten am 29. Dezember 2010 nach außen gedrungen: Der Präsidentschaftskandidat Mikolaj Statkevich soll Ende 2010 einen Hungerstreik begonnen haben. Amnesty International vermutet, dass der Präsidentschaftskandidat Andrej Sannikov im Gefängnis gefoltert wurde. Der Präsidentschaftskandidat Uladzimir Niakliaieu soll sich in einem lebensbedrohlichen Zustand befunden haben und erlitt möglicherweiser einen Herzinfarkt. Laut Staatsanwaltschaft liege dies jedoch nicht an den Umständen seiner Verhaftung, sondern an dessen "durch übermäßigen Alkoholkonsum" geschwächten Organismus.

Reaktionen auf die Wahl

Die Wahlbeobachtermission der OSZE stellte am 20. Dezember 2010 fest, dass die Wahlen nicht demokratischen Kriterien entsprachen. Unter anderem weist der Bericht darauf hin, dass die es in einem Großteil der Wahllokale den Wahlbeobachtern verboten wurde, die Stimmauszählung zu beobachten. Ein ähnliches Fazit zog die einheimische Wahlbeobachtermission "Menschenrechtler für freie Wahlen"[16]. Die Kritiker des Wahlprozesses betonten, dass das belarussische Wahlgesetz eine transparente Auszählung vorschreibt (Dekret 25 der Zentralen Wahlkommission). Beschwerden der Wahlbeobachter gegen die massiven Verstöße wurden bis auf wenige Ausnahmen nicht zugelassen.

Die Außenminister von Deutschland (Guido Westerwelle), Schweden (Carl Bildt), Tschechien (Karel Schwarzenberg) und Polen (Radoslaw Sikorski) verurteilten den Wahlbetrug und die Unterdrückung der Opposition.[17]

Nach der Kritik der OSZE am Verlauf der Wahl kündigte Anfang 2011 die weißrussische Führung die Schließung der OSZE-Mission in Minsk an, mit der Begründung, diese habe ihre Aufgabe bereits erfüllt. Der Geheimdienst führte Razzien bei mehreren nicht-staatlichen Medien und Menschenrechtsorganisationen durch. Die staatliche Zeitung Belarus Segodnja veröffentlichte im Januar Geheimdienstmaterial, in welchem Regierungen und Geheimdiensten der EU, darunter vor allem Polen und Deutschland, die Finanzierung der Wahlkampagne Njakljajeus und der Demonstration am 19. Dezember vorgeworfen wird. Ziel sei gewesen, Lukaschenka durch eine "gefügige Marionette" zu ersetzen.[18] Das Bundesaußenministerium wies die Vorwürfe als absurd zurück.[19] Der sozialdemokratische Oppositionskandidat Mikalaj Statkewitsch trat im Gefängnis in einen Hungerstreik. Nicht inhaftierte Oppositionsangehörige gründeten einen landesweiten Koordinationsrat, um ihr Vorgehen gegen die Repressionen abzustimmen. Polen schaffte als "Zeichen der Solidarität" die Visagebühren für weißrussische Staatsbürger ab und verhängte ein Einreiseverbot gegen hohe weißrussische Beamte.[20] Der Deutsche Bundestag befürwortete am 20. Januar 2011 fraktionsübergreifend scharfe Sanktionen gegen die Machthaber in Weißrussland und forderte die sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen. Gleichzeitig kündigten die Parlamentarier an, sich für Visa-Erleichterungen für weißrussische Bürger und mehr Stipendienprogramme für Studenten einzusetzen.[21] Die EU entscheidet voraussichtlich Ende Januar 2011 über mögliche Sanktionen gegen die Minsker Führung.[22]

Die Wahlen wurden jedoch vom Sekretär der GUS Sergej Lebedew als frei und demokratisch beschrieben. Die Wahlen wurden von den Beobachtern der GUS am Wahlabend als legitim anerkannt.[23]

Repressionen nach der Wahl

In den Wochen nach der Wahl kam es zu einer großen Welle von Verhaftungen, Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen von Computerhardware, die zur Zeit immer noch anhält (Stand: 15. Januar 2011), und nach Meinung unabhängiger Journalisten längst nicht mehr nur Personen oder Organisationen betrifft, die mit den Ereignissen am 19. Dezember 2010 in Verbindung stehen, sondern ganz allgemein die belarussische Zivilgesellschaft und unabhängige Medienlandschaft.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Neue Zürcher Zeitung: Weihnachten mit Lukaschenko, 14. September 2010.
  2. AHP: Палітрада Аб'яднанай грамадзянскай партыі назвала свайго кандыдата ў прэзідэнты
  3. David Marples (23. März 2010): Sannikau Throws His Hat in the Ring (englisch). The Jamestown Foundation – Eurasia Daily Monitor Volume: 7 Issue: 56. Abgerufen am 27. Dezember 2010.
  4. ЦИК: за Лукашенко проголосовало 79,67 % избирателей, Die Zentrale Wahlkommission: Für Lukaschenko stimmten 79,67 % der Wähler
  5. svaboda.org: НІСЭПИ: за Лукашэнку — 51,1 %, NISEPI: Für Lukaschenka stimmten 51,1%
  6. NEWSru.com: Кремль готов "предать гласности" обещания Лукашенко признать Южную Осетию и Абхазию
  7. NEWSru.com: Канал НТВ в "Крестном батьке - 3" объявил Лукашенко психопатом
  8. NEWSru.com: http://newsru.com/world/12jul2010/lukaout.html
  9. RIA Novosti (23. November 2010): Weißrussland vor den Wahlen: Demos in Minsk verboten. RIA Novosti. Abgerufen am 25. November 2010.
  10. Schweizer Radio SR DRS (24. November 2010): Weissrussland: Demonstranten fordern faire Wahlen. Schweizer Radio SR DRS. Abgerufen am 27. Dezember 2010.
  11. gxs/dapd (24. November 2010): Weissrussland: Opposition widersetzt sich Demonstrationsverbot. Focus. Abgerufen am 27. Dezember 2010.
  12. Russland-Aktuell (24. November 2010): Demo in Minsk: Präsidentenkandidaten droht Ausschluss. Russland-Aktuell. Abgerufen am 25. November 2010.
  13. Viasna (18.Januar 2011): Criminal case on mass riot: 32 accused and 16 suspects. Human Rights Center Viasna. Abgerufen am 20. Januar 2011.
  14. Interim results of a survey of citizens who were detained during a peaceful protest on Dec. 19, 2010. International Observer Mission of the Committee of International Control Over the Human Rights Situation in Belarus. Abgerufen am 31. Januar 2011.
  15. Charta'97 (15. Januar 2011): Prosecutor’s office sees no problem in preventing lawyers from visiting their clients. charter97.org. Abgerufen am 15. Januar 2011.
  16. Einheimische Wahlbeobachtung der Präsidentschaftswahlen in Belarus 2010 (Newsletter). Europäischer Austausch/Menschenrechtler für freie Wahlen. Abgerufen am 31. Januar 2011.
  17. http://www.focus.de/magazin/archiv/debatte-offener-rechtsbruch_aid_586511.html
  18. Belarus Segodnja: За кулисами одного заговора
  19. Narodnaja Wolja: Германия опровергает обвинение в подготовке госпереворота в Беларуси
  20. Nascha Niwa: Забарона на ўезд шэрагу беларускіх чыноўнікаў у Польшчу ўжо дзейнічае
  21. Bundestag: Ende der Repression in Weißrussland gefordert
  22. Handelsblatt: Bundesregierung empört über Lage in Weißrussland
  23. Выборы президента Белоруссии признаны свободными и демократичными (Die weißrussischen Präsidentschaftswahlen wurden als frei und demokratisch anerkannt) (russisch). Постсовет.RU – postsovet.ru (20. Dezember 2010). Abgerufen am 27. Dezember 2010.

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