Sinti-Kinder von Mulfingen

Sinti-Kinder von Mulfingen
Gedenktafel unter einem Fenster der Josefspflege

Die Sinti-Kinder von Mulfingen waren Kinder aus Sinti-Familien, die bis 1944 im katholischen Kinderheim St. Josefspflege in Mulfingen lebten und dann fast alle nach Auschwitz deportiert wurden.

Inhaltsverzeichnis

Von Mulfingen nach Auschwitz

Schulpflichtige Sinti-Kinder aus Württemberg, bei denen Heimerziehung angeordnet worden war oder deren Eltern bereits aufgrund des Zigeuner-Erlasses in Konzentrationslager deportiert worden waren, wurden seit 1938 in der St. Josefspflege in Mulfingen erzogen. Als „Zigeuner“ oder „Zigeunermischlinge“ dienten sie 1943 Eva Justin als Probanden für ihre Doktorarbeit über die „Lebensschicksale artfremd erzogener Zigeunerkinder und ihrer Nachkommen“. Dadurch blieben sie bis zum Frühjahr 1944 vor dem Abtransport in ein Konzentrationslager verschont. Eva Justin kam in ihrer Dissertation zu dem Schluss, dass eine Unfruchtbarmachung derartiger Kinder angezeigt sei: „Erziehen wir einen Zigeuner, […] so bleibt er infolge seiner mangelhaften Anpassungsfähigkeit in der Regel doch mehr oder weniger asozial. Alle Erziehungsmaßnahmen für Zigeuner und Zigeunermischlinge einschließlich jeder Form der Fürsorgeerziehung sollten daher aufhören […] Alle deutscherzogene [sic !] Zigeuner und Zigeunermischlinge 1. Grades […] sollen daher in der Regel unfruchtbar gemacht werden.“[1]

Eingangstür der Josefspflege

Nachdem Justin ihre Doktorarbeit beendet und eingereicht hatte, wurden 39 Kinder noch im Kinderheim in Mulfingen für die Aufnahme in einem KZ erfasst. Einigen Kindern wurde noch die Notkommunion verabreicht, ehe sie abtransportiert wurden. Am 9. Mai 1944 wurden die meisten dieser Kinder, unter dem Vorwand, es gehe auf einen Ausflug, in einem Bus zunächst nach Künzelsau gefahren; schon vorher hatte der für das Heim zuständige Pfarrer Volz beim Caritasverband um rasche Zuweisung neuer Kinder für seine nach dem Abtransport der Sinti-Kinder unterbelegte Institution gebeten.[2]

Da den älteren Mädchen und Jungen durch das Erscheinen der begleitenden Polizisten bereits klar geworden war, wohin die Fahrt ging, brach schon auf dem Hof der Josefspflege beim Einsteigen in den Bus eine Panik aus, woraufhin zur Beruhigung der Kinder die Lehrerin Johanna Nägele und die Schwester-Oberin Eytichia auf dem ersten Teil der Strecke mitfuhren. Auf dem Bahnhof von Künzelsau mussten die Kinder zunächst längere Zeit, von den Polizisten bewacht, auf den Waggon warten, in den sie dann verladen wurden. Sie erhielten die Anweisung, sich an den Bahnhöfen von den Fenstern des Wagens fernzuhalten. In Crailsheim wurde der Transport von Waffen-SS-Männern übernommen und der Wagen mit den Kindern an einen Zug nach Auschwitz angekuppelt. Die Fahrt, die öfters von Luftangriffen unterbrochen wurde, dauerte drei Tage; in Dresden stand der Wagen während eines Bombenangriffs ungeschützt auf einem Abstellgleis.

Am 12. Mai 1944 kam der Transport im Zigeunerlager Auschwitz an; dort trafen die Kinder vier weitere Sinti-Kinder wieder, die ebenfalls in Mulfingen gelebt hatten, aber schon früher deportiert worden waren. Bei der Selektion in Auschwitz wurden nur vier ältere Kinder als Arbeitskräfte aussortiert, drei Mädchen und ein Junge (Amalie Schaich, geb. Reinhardt, Luise Würges, geb. Mai, Rosa Georges und Andreas Reinhardt). Sie kamen in die Konzentrationslager Buchenwald und Ravensbrück. Die übrigen Mulfinger Sinti-Kinder wurden zum Teil noch von Josef Mengele für medizinische Experimente missbraucht[3] und dann in der Nacht zum 3. August 1944 vergast.

Gedenkstätten

Die Gedenktafel in Mulfingen

An der St. Josefspflege in Mulfingen befindet sich seit 1984 eine Gedenktafel, die an die Sinti-Kinder aus dem Heim erinnert. Sie trägt den Text:

Aus der Gemeinschaft dieses Heimes wurden
am 9. Mai 1944 die hier lebenden 39 Sinti-Kinder
herausgerissen und in das KZ Auschwitz deportiert - nur vier Kinder überlebten

Zur Erinnerung an die Opfer

Rudi Delis Maria Delis Rudolf Eckstein Fritz
Eckstein Martin (Markus) Eckstein Amandus
Eckstein Patrizka Georges Wilhelm Georges
Sofie Georges Ferdinand Georges Johanna
Köhler Franz Köhler Anton Köhler Olga
Köhler Anton Köhler Elise Köhler Johann
Köhler Josef Köhler Sonja Kurz Otto Kurz
Thomas Kurz Martha Mai Sofie Mai Karl
Mai Elisabeth Mai Johanna Reinhard Klara
Reinhard Scholastika Reinhard Adolf
Reinhard Siegfried Schneck Luana Schneck
Karl Weiss Maria Winter Rosina Winter
Josef Winter[4]

Ein Denkmal für die Mulfinger Kinder schuf Wolfgang Isele; es befindet sich seit 2000 im Foyer des Jugendamts[5] in der Wilhelmstraße 3 in Stuttgart. Das Denkmal zeigt 39 Aktenordner, die die Schicksale der 39 deportierten Kinder symbolisieren sollen.[6] Für die Geschwister Kurz aus Bad Cannstatt wurden Stolpersteine vor deren ehemaliger Wohnstatt in der Badergasse verlegt.[7]

Überlebende

Außer den vier Kindern, die in Auschwitz zum Arbeitseinsatz aussortiert wurden, überlebten noch einige ältere Geschwister der Mulfinger Heimkinder den Holocaust, so etwa Waltraud Köhler, Alois Winter, Emil Reinhardt und Wilhelm Eckstein.[8] Nach der Schulentlassung pflegten sich die Landwirte der Umgebung unter den Heimkindern der Josefspflege ihre künftigen Mägde und Knechte auszuwählen. Ehemalige Pfleglinge des Kinderheims entkamen so dem Schicksal der Deportation, weil sie nicht mehr auf den Listen der Josefspflege geführt wurden. Emil Reinhardt etwa arbeitete bereits als Knecht. Als er seinen jüngeren Geschwistern in der Josefspflege Lebensmittel bringen wollte, wurde er von der Polizei abgefangen und so brutal geohrfeigt, dass er dadurch sein Gehör verlor. Emil Reinhardt versteckte sich bis zum Ende des Dritten Reichs und konnte so überleben.[9]

Einen Sonderfall stellte ein 1934 geborenes Mädchen namens Angela dar, das in den Listen des Heims unter dem Namen seiner leiblichen Mutter, Schwarz, geführt wurde, bei den Behörden aber unter dem Namen seines Vaters, Reinhardt. Dadurch erschien es nicht auf der Liste der Kinder, die im Mai 1944 abtransportiert werden sollten. Angela Reinhardt, die als Zehnjährige nur durch die Ohrfeige einer Schwester gerettet wurde, die verhinderte, dass das Mädchen mit in den Bus einstieg und den „Ausflug“ mitmachte, wurde später zur Hauptperson der dokumentarischen Erzählung „Auf Wiedersehen im Himmel“ von Michail Krausnick. Unter dem gleichen Titel wurde auch ein Film über die Mulfinger Sinti-Kinder produziert, in dem Eva Justins Originalaufnahmen aus Mulfingen sowie Interviews mit Überlebenden zu sehen sind.[10]

Literatur

  • Michail Krausnick: Auf Wiedersehen im Himmel. Die Geschichte der Angela Reinhardt. 2. Auflage. Arena-Verlag, Würzburg 2009, ISBN 978-3-401-02721-0.
  • Johannes Meister: Die „Zigeunerkinder“ von der St. Josefspflege in Mulfingen. In: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts. 2 (1987), S. 14-51. (Online-Version)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. http://www.ausstellung-rausch.de/Seiten07/Ausstellungsprojekte/Roma-Sinti-2009/Ausstellung_F-A/x_Tafel_4.htm
  2. http://www.gelsenzentrum.de/katholische_kirche_sinti_roma.htm
  3. http://www.planet-schule.de/wissenspool/spuren-der-ns-zeit/inhalt/sendungen/auf-wiedersehen-im-himmel-die-sinti-kinder-von-der-st-josefspflege.html
  4. Laut einem Dokument der Kriminalpolizeistelle Stuttgart vom 14. Juni 1944 waren die Geschwister Delis und Schneck nicht am 9. Mai 1944 mit den anderen Mulfinger Sinti-Kindern abtransportiert worden, sondern schon am 21. April 1944 in das „Zigeunerlager“ Auschwitz-Birkenau eingeliefert worden. Die Schreibung des Namens Reinhard(t) entspricht den Listen des Heims.
  5. http://www.studienkreis-widerstand-1933-45.de/archiv/xxinfo/he55lsg.html
  6. http://www.stuttgart.de/item/show/305802/1/dept/131625?
  7. http://www.stolpersteine-stuttgart.de/index.php?docid=148
  8. Michail Krausnick, Auf Wiedersehen im Himmel. Die Geschichte der Angela Reinhardt, Würzburg ²2009, ISBN 978-3-401-02721-0, S. 139
  9. http://www.manfred-reinnarth.de/zigeuner.htm
  10. http://www.sintiundroma.de/content/index.php?aID=300

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