Dedowschtschina

Dedowschtschina

Dedowschtschina (russisch Дедовщина, „Herrschaft der Großväter“) bezeichnet die in den russischen Streitkräften bis heute teilweise übliche Schikane von Dienstälteren an Wehrpflichtigen. Dabei handelt es sich nicht um klassische Initiationsriten, wie sie häufig bei der Aufnahme in geschlossene Gemeinschaften üblich sind (vgl. Bizutage), sondern um kontinuierliche Praktiken über einen längeren Zeitraum hinweg. Die Schikanen erreichen nicht selten menschenunwürdiges Ausmaß (Knochenbrüche, Körperverletzungen mit Todesfolge). Sie ist Ursache des häufigen unerlaubten Entfernens von der Truppe in der russischen Armee. Das Phänomen der Dedowschtschina lässt sich bis in die Zarenzeit zurückverfolgen. Bei der in der DDR stationierten Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland wurde das mit der Dedowschtschina zusammenhängende Entfernen von der Truppe mit drakonischen Strafen belegt. Die Flüchtigen wurden häufig mit Hunden verfolgt. Viele kamen bei den verzweifelten Fluchtversuchen ums Leben.

Jedes Jahr werden Soldaten als Invaliden aufgrund von Misshandlungen, Vergewaltigungen und psychischen Peinigungen aus der russischen Armee entlassen. Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums gab es im Jahr 2010 bis Anfang September mehr als 1700 Dedowschtschina-Opfer[1]. Im Jahr 2005 starben 16 Soldaten an den Folgen von Misshandlungen in russischen Kasernen, 276 begingen nach Quälereien und Erniedrigungen durch Vorgesetzte Suizid[2], andere Quellen sprechen von über 500 Opfern[3]. Ungeklärt ist, weshalb manchen Opfern vor der Überstellung zur Beerdigung innere Organe entfernt wurden. Angehörige vermuten, dass diese in den Organhandel gelangen[1].

Für die Aufarbeitung der Fälle und damit für die Durchsetzung der Menschenrechte in Russland tritt hier vor allem die Union der Komitees der Soldatenmütter Russlands ein.

Inhaltsverzeichnis

Der Fall Andrei Sytschow

Im Jahr 2006 wurde der Fall des damals 19-jährigen Wehrpflichtigen Andrei Sytschow auch außerhalb Russlands bekannt. Dieser wurde von Vorgesetzten so schwer misshandelt, dass ihm beide Beine, die Genitalien und Teile der rechten Hand amputiert werden mussten. Gegen zwölf ehemalige Vorgesetzte wurde Anklage erhoben.[4][5] Ein Militärarzt äußerte als Zeuge der Verteidigung, dass Sytschow sich mehrere Monate vor dem Vorfall eine Blutvergiftung zugezogen haben könnte.[6][7][8]

Am 26. September 2006 verurteilte das Garnisonsgericht in Tscheljabinsk den Hauptangeklagten Alexander Siwjakow zu vier Jahren Haft und erkannte ihm für drei Jahre den Dienstgrad als Unteroffizier ab. Zwei weitere Angeklagte, die Soldaten Kusmenko und Bilimowitsch, erhielten eine Freiheitsstrafe von anderthalb Jahren auf Bewährung.[9]

Literatur

  • Françoise Daucé, Elisabeth Sieca-Kozlowski: Dedovshchina in the Post-Soviet Military: Hazing of Russian Army Conscripts in a Comparative Perspective. (Vorwort von Dale Herspring) Reihe Soviet & Post-Soviet Politics & Society Nr. 28, Ibidem-Verlag: Stuttgart 2006, ISBN 3-89821-616-0.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. a b Russlands Armee "Die machen mich hier zum Krüppel", bei spiegel.de, 20. September 2010
  2. Das Faustrecht regiert in der russischen Armee, bei Deutsche Welle, 23. Februar 2006
  3. http://de.rian.ru/analysis/20060127/43221893-print.html
  4. Manfred Quiring: "Hier liegt ein kleiner Soldat ohne Beine", in Die Welt, 27. Januar 2006. Letzter Zugriff 14. Juli 2009.
  5. O. Bilger Die Herrschaft der grausamen Großväter, in Süddeutsche Zeitung, 11. November 2008. Letzter Zugriff 14. Juli 2009.
  6. Steven Lee Myers: Hazing Trial Bares Dark Side of Russia's Military. In: The New York Times, 11. August 2006. Abgerufen am 14. Juli 2009. 
  7. Das doppelte Opfer, in Berliner Zeitung, 16. August 2006
  8. Mediziner-Streit um Ursachen der Verstümmelungen eines russischen Soldaten, bei Deutsche Welle, 24. August 2006
  9. Aksim Bereschnow: Russland: Urteil im Misshandlungsfall Sytschow , bei Deutsche Welle, 26. September 2006. Letzter Zugriff 14. Juli 2009.

Weblinks


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