Deutsche Frage

Deutsche Frage

Als Deutsche Frage oder Deutschlandfrage wird der in der europäischen Geschichte zwischen 1806 und 1990 ungelöste und in unterschiedlicher Form immer wieder auftretende Problemkomplex der deutschen Einheit bezeichnet. Sie drehte sich um Grenzen und territoriale Ordnung Deutschlands. Mit der Wiedervereinigung 1990 gilt die Deutsche Frage heute als geklärt, insbesondere, da Deutschland nun in Organisationen wie den Vereinten Nationen und der Europäischen Union gleichberechtigt mit anderen Staaten vertreten ist.

Inhaltsverzeichnis

Entstehung der Deutschen Frage nach dem Zusammenbruch des Alten Reiches (1806)

Als östliche Erbschaft des Frankenreichs Karls des Großen entstand im 10. Jahrhundert ein Reich, das als Heiliges Römisches Reich den Konflikt mit dem Nachfolger des römischen Imperiums, dem byzantinischen Reich, herausforderte. Später wurde der Nachsatz Deutscher Nation in den Reichstitel aufgenommen. In diesem vormals stammesbündlerischen, im Mittelalter Reich der Königs- und Fürstentümer, lebten verschiedene Völker, aus deren Sprache sich unter anderem das Deutsche entwickelte.

Im 18. Jahrhundert entstand der preußisch-österreichische Dualismus im Reich, der zu kriegerischen Auseinandersetzungen dieser beiden Mächte führte (u. a. Siebenjähriger Krieg). Die Macht des römisch-deutschen Kaisers Franz II. über die nunmehr auch Staaten zu nennenden Reichsstände wurde indes immer geringer, und diese gerieten dann in den Einfluss des napoleonischen Frankreich.

Als der österreichisch-deutsche „Doppelkaiser“ Franz II. auf Druck Napoléons die Kaiserkrone niederlegen musste, und 16 süd- und westdeutsche Reichsstände sich 1806 vom Reich lossagten, um sich im von Napoléon protegierten deutschen Rheinbund zu formieren, war das Reich zerfallen („Franzosenzeit“), wobei der Habsburger Franz II. jedoch als Franz. I. Kaiser des von ihm 1804 gegründeten Kaisertums Österreich blieb.

Mit der Niederlegung der römisch-deutschen Kaiserkrone begann ab 1806 die „Deutsche Frage“ im eigentlichen Sinne.

Entstehung eines deutschen Nationalstaates (1813–1871)

Befreiungskriege (1813–1815)

Mit dem Beginn der Befreiungskriege gegen Frankreich stellte das damalige Preußen als erster deutscher Staat die „Deutsche Frage“. Sein Königshaus, die Hohenzollern, forderte nun die Wiedererrichtung des Deutschen Reiches. Dieser Hauptforderung schlossen sich bis 1815 viele Deutsche an, während sie von den übrigen Herrscherhäusern Deutschlands abgelehnt wurde.

Aber der deutsche Adel musste sich ohnehin über die für seinen Stand katastrophalen Ergebnisse der Französischen Revolution empören, die politisch als Bestrebung zu „nationaler Einigung“ in vielen europäischen Ländern Anhänger fand. Der resultierende französische Einfluss aufgrund dessen Vorreiterrolle konnte in dem Deutschland, das sich gerade erst von Napoléon befreit hatte, aber nicht gedeihen und schlug in unverhohlenen Revanchismus gegenüber Frankreich um.

Deutscher Bund (1815–1866)

Deutscher Bund, mit Österreich in Orange und Preußen in Blau

Mit der Gründung des Deutschen Bundes am 8. Juni 1815 auf dem Wiener Kongress schien die Deutsche Frage nach außen hin abgeschlossen. Doch das nationalliberal gesinnte Bürgertum gab sich mit einem losen Bund der deutschen Fürstenhäuser nicht zufrieden und forderte ein einheitliches deutsches Reich.

1848/49 kam es in Folge der Märzrevolution zu Aufständen im Deutschen Bund. Auch die Deutsche Frage stand damit wieder auf der Tagesordnung der Weltpolitik. Nach der Wahl einer deutschen Nationalversammlung als gesamtdeutsches Parlament sollte der Deutsche Bund nach Meinung der Deutschnationalen nun in ein Deutsches Reich umgewandelt werden. Dabei ging es vor allem um die Frage, ob die „Großdeutsche Lösung“ oder vielmehr die „Kleindeutsche Lösung“ umgesetzt werden sollte. Bei ersterer wäre die Macht beim katholischen Süden unter der Führung Österreichs verblieben, bei zweiterer wäre sie an den protestantischen Norden unter der Führung Preußens gefallen. Mit der Olmützer Punktation von 1850 wurde der Deutsche Bund unter Leitung Österreichs wiederhergestellt und die Unionspolitik Preußens vorläufig zurückgedrängt.

Nach einer preußischen Abstimmungsniederlage zur Bundesexekution aus Anlass des Streits um die Verwaltung Schleswig-Holsteins und der Mobilmachung des Bundesheeres, kam es 1866 in der Frage um die Vorherrschaft im Deutschen Bund zwischen Österreich und Preußen zum Deutschen Krieg.

Siehe auch: Drittes Deutschland, Großösterreich

Norddeutscher Bund und Reichsgründung (1867–1871)

Norddeutscher Bund (Preußen, Annexionen und Verbündete) in dunkelrot, die später beigetretenen Staaten in orange
Sprachenkarte Mitteleuropas, 1880.[1]

Nach dem preußischen Sieg in der Schlacht von Königgrätz im Jahre 1866 wurde der Deutsche Bund aufgelöst, und Österreich wandte sich stärker seinen nicht-deutschsprachigen Gebieten in Südost- und Osteuropa zu. Damit hatte sich die Deutsche Frage zumindest für Österreich erledigt, das Kaisertum Österreich wurde in die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn umgewandelt. Dagegen wurden von den restlichen Staaten des Deutschen Bundes viele im preußisch dominierten Norddeutschen Bund vereinigt.

Am Ende einer weiteren kriegerischen Auseinandersetzung, dem Deutsch-Französischen Krieg, erfolgte 1871 die Reichseinigung. Otto von Bismarck überzeugte die süddeutschen Staaten zum Beitritt, sodass die Gründung des Deutschen Reiches als erster einheitlicher Nationalstaat zeremoniell gefeiert werden konnte: Das Kaiserreich wurde mit der Proklamation Wilhelms I. zum Deutschen Kaiser am 18. Januar 1871 in Versailles verkündet.

Diese ohne Österreich zustanden gekommene sogenannte Kleindeutsche Lösung war für die deutsche Nationalbewegung allerdings nicht der Idealzustand, aus Sicht Preußens und Bismarcks jedoch die aus politischen Gründen zu bevorzugende.

Maximalforderungen, wie die des Alldeutschen Verbandes, der sogar den Anschluss einstiger römisch-deutscher Reichsgebiete wie Niederlande, Belgien und der Schweiz forderte, fanden nach der Reichsgründung kein Gehör.

Die Deutschlandfrage galt nach der Einigung der Deutschen im Deutschen Reich als erledigt.

Gebietsverluste und Annexionen (1918–1945)

Nach dem Ersten Weltkrieg und Weimarer Republik (1918–1933)

Deutsche Gebietsverluste jeweils nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem folgenden Zusammenbruch der Monarchien in Deutschland und Österreich stellte sich 1918/19 im deutschsprachigen Raum erneut die Deutsche Frage. Dabei zeigte sich, dass diese größtenteils im Volke überlebt hatte.

Die deutschsprachigen Gebiete der österreichischen Reichshälfte des auseinanderfallenden Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn schlossen sich Ende Oktober 1918 zu Deutschösterreich zusammen. Am 12. November 1918 beschloss die Provisorische Nationalversammlung die Republik als Staatsform und dass Deutschösterreich Bestandteil der Deutschen Republik sei; in der Folge begannen Expertengespräche über die Eingliederung. Vorarlberg entschied sich 1919 in einer Volksabstimmung für den Beitritt zur Schweiz, den die Schweiz jedoch ablehnte. Die Absicht, sich an Deutschland bzw. die Schweiz anzuschließen, lag neben Aspekten der Selbstbestimmung auch daran, dass viele das drastisch verkleinerte Österreich ohne die Industrieanlagen und Rohstoffzugänge in Süd- und Osteuropa für wirtschaftlich nicht überlebensfähig hielten.

Mit der Vereinigung dieser beiden Staaten wäre die Deutsche Frage im Sinne vieler Zeitgenossen „endgültig“ gelöst gewesen. Aber mit der Vereinigung von fast 73 Millionen Einwohnern wäre ein solches Großdeutschland zu einem der mächtigsten Staaten in Europa aufgestiegen. Die Vereinigung wurde von den Siegermächten verhindert: Im Vertrag von Saint-Germain wird Deutschösterreich 1919 nur als Republik Österreich bezeichnet und der rechtliche bzw. wirtschaftliche Zusammenschluss mit Deutschland ausgeschlossen. 1920 wurde daraufhin die erste österreichische Bundesverfassung beschlossen. Die Deutsche Frage blieb weiterhin offen; die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) behielt z. B. den Anschlusswunsch in ihrem Parteiprogramm bis 1933 bei.

1932 wurde vom Deutschen Reich und Österreich versucht, eine Wirtschaftsunion zu etablieren – auch diese wurde vom Völkerbund untersagt.

Zeit des Nationalsozialismus bis zum Krieg (1933–1939)

Umfang des deutschen Staatsgebietes 1937–39

Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten wurde die Deutsche Frage propagandistisch wiederbelebt und zum Instrument und Träger einer zerstörerisch-aggressiven Expansionspolitik: Bereits das „Parteiprogramm der NSDAP“ – Adolf Hitlers berühmte 25-Punkte-Rede von 1920 – begann schon mit den Worten:

Erstens: Wir fordern den Zusammenschluss aller Deutschen auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes der Völker zu einem Groß-Deutschland.“

Am 12. März 1938 marschierten deutsche Truppen ins benachbarte Österreich ein („Anschluss“ ans Deutsche Reich). Die Wehrmachtstruppen stießen nach dem durch Ultimaten erzwungen Rücktritt der österreichischen Bundesregierung unter Kurt Schuschnigg nur noch auf wenig Widerstand und wurden vielerorts sogar von der Bevölkerung Österreichs willkommen geheißen. Die NS-Propaganda prägte dabei den Stehsatz: Ein Volk, ein Reich, ein Führer!. Allerdings hatten sich die Menschen durch den Anschluss primär ein besseres Leben in Österreich erwartet, insbesondere auf Grund der hohen Arbeitslosigkeit. Aber das NS-Regime ließ seinen Unterdrückungsapparat sofort auch in Österreich wüten, das zur Auslöschung seiner nationalen Identität offiziell zunächst in „Ostmark“ umbenannt, später dann aber nurmehr pauschal als die Donau- und Alpenreichsgaue bezeichnet wurde. In den ersten Tagen nach der Machtübernahme ließen die neuen Machthaber etwa 72.000 Menschen verhaften, insbesondere in Wien, darunter viele Politiker und Intellektuelle der ersten Republik Österreich. Die Polizei, die sofort Heinrich Himmler unterstellt wurde, unterband jeden nachhaltigen Widerstand. Am Brenner trafen sich schließlich deutsche und italienische Truppeneinheiten zu freundschaftlichen Zeremonien, nachdem Benito Mussolini seine Schutzmachtrolle für Österreich auf Grund anderer politischer Überlegungen aufgegeben hatte. In der Folge wurden das deutschsprachige Sudetenland und das Memelland dem Reich einverleibt.

Zweiter Weltkrieg (1939–1945)

Großdeutsches Reich 1944, mit Einteilung der NSDAP-Gaue

Im Verlaufe des Zweiten Weltkriegs wurden Danzig (vormals Freie Stadt Danzig) und der Polnische Korridor dem Reich einverleibt sowie 1940 das deutsch-französische Elsass-Lothringen und Eupen-Malmedy angeschlossen.

Im Jahre 1943 erreichte das deutsche Machtgebiet seine größte Ausdehnung, als Südtirol einer deutschen Zivilverwaltung unterstellt wurde: Mit Ausnahme des mehrheitlich dänischsprachigen Nordschleswig, der Deutschschweiz und Liechtensteins war das gesamte deutschsprachige Gebiet im Großdeutschen Reich vereinigt – es umfasste nun rund 650.000 km². Die Deutsche Frage war zu diesem Zeitpunkt längst zur Selbsterhöhung umgedeutet worden, deren düsterer Hintergrund die „Lebensraumschaffung“ durch den Vernichtungskrieg in Osteuropa.

Der spätere österreichische Bundespräsident Adolf Schärf berichtet in seinen Memoiren, 1943 von Abgesandten der deutschen Sozialdemokratie in Wien besucht worden zu sein, die über den nach der Niederlage Hitlers zu errichtenden Staat sprechen wollten. Schärf habe damals spontan und zur Verblüffung anderer österreichischer Sozialdemokraten geantwortet, die Liebe zu Deutschland sei den Österreichern ausgetrieben worden, ein gemeinsamer Staat komme nicht mehr in Frage.

Dass Österreich von den Alliierten in der Moskauer Deklaration 1943 als „erstes Opfer Hitlers“ bezeichnet wurde (was in dieser Eindeutigkeit der tatsächlichen Situation widerspricht) und dass die Alliierten – wie nach dem Ersten Weltkrieg – ein selbständiges Österreich errichten wollten, erleichterte es dem Volk, sich ab 1945 jahrzehntelang nicht als Mittäter des Nationalsozialismus zu betrachten und sich ab den 1950er-Jahren zunehmend als eigene Nation zu verstehen.

Deutsche Teilung (1945–1990)

Nachkriegszeit und Zweistaatlichkeit (1945 bis 1980er Jahre)

Deutschland 1947; Besatzungszonen in Deutschland, das Saarland (als französisches Protektorat) und die deutschen Ostgebiete 1947

Mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht, der Niederwerfung und dem vollständigen institutionellen „Zusammenbruch“ des nationalsozialistischen Deutschland sowie der Aufteilung in Besatzungszonen und Unterstellung der deutschen Ostgebiete innerhalb der Reichsgrenzen von 1937 unter größtenteils polnische Verwaltung stellte sich 1945 die Deutsche Frage erneut.

Bereits Ende 1945 wurden die Ostgebiete des Deutschen Reiches von der Sowjetunion einseitig der Volksrepublik Polen als Ersatz für die von der ihr annektierten polnischen Ostgebiete übereignet und bis 1950 wurde von dort die deutsche Bevölkerung vertrieben. Dabei kam es zu gravierenden auch territorialen wie staatsrechtlichen Änderungen. Bereits 1945 wurde das zuvor okkupierte und dann vollständig ins Reich eingegliederte Österreich als Staat in den Grenzen von 1938 wiederhergestellt. Die Städte Wien und Berlin wurden als Viersektorenstadt regiert, das Land Preußen als größter Bestandteil des Deutschen Reiches durch das Kontrollratsgesetz Nr. 46 abgeschafft.

Mit Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) wurde ab 1949 durch die Deutsche Teilung die Deutschlandfrage erheblich verkompliziert, da nun zwei offizielle Sichtweisen einander gegenüberstanden: Während die DDR seit den 1960er Jahren zunehmend die Zwei-Staaten-Theorie betonte, 1974 die deutsche Wiedervereinigung als Staatsziel endgültig aufgab und von „ehemaligen deutschen Gebieten“ in Polen und der Sowjetunion sprach, bestand die Bundesrepublik lange Zeit auf einem Alleinvertretungsanspruch für ganz Deutschland, das die „Zone“ (DDR) und „deutsche Gebiete unter vorübergehender polnischer bzw. sowjetischer Verwaltung“ umfasste. Mit dem sich immer mehr festigenden Systemgegensatz rückte die Hoffnung auf eine praktische Umsetzung dieser theoretischen Sicht aber in weite Ferne, bis es sich schließlich mehr um Lippenbekenntnisse und vage Hoffnungen als um tatsächliche praktische Handlungsrichtlinien handelte.

In Westdeutschland wurde mit der neuen Ostpolitik und schließlich dem Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR in den 1970er-Jahren Voraussetzungen für deutsch-deutsche Kontakte auf politischer Ebene geschaffen, die zu einer Entspannungspolitik beider Seiten führte. Die Teilung wurde faktisch als nicht zu ändern angesehen. Das Grundgesetz behielt den Anspruch auf Wiedervereinigung allerdings bei. Treffend bemerkte der spätere Bundespräsident Richard von Weizsäcker zu Zeiten des Kalten Krieges hierzu: „Solange das Brandenburger Tor geschlossen ist, ist die Deutsche Frage offen“.

Wende (1988–1990)

Hauptartikel: Wende (DDR)

Die Öffnung Osteuropas und der rasche Niedergang der SED-Herrschaft in der DDR überraschte alle westdeutschen Experten und Politiker. Es gab keinerlei Planungen für einen solchen Fall.

In weiten Teilen der westdeutschen Öffentlichkeit wurden Forderungen nach einer Einigung der beiden deutschen Staaten als reaktionär angesehen, gleichwohl das Wiedervereinigungsgebot aufrechterhalten blieb. Die Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP forderte zwar offiziell noch eine deutsche Wiedervereinigung, faktisch aber akzeptierten die Führungsgremien die deutsche Teilung als Realität.

Bei den einzelnen Politikern war die Haltung verschieden. Während ältere beziehungsweise östlich der alten Bundesrepublik aufgewachsene Politiker wie Willy Brandt oder Hans-Dietrich Genscher eine deutsche Einigung für erstrebenswert, aber realpolitisch undurchführbar hielten, empfanden jüngere (wie Oskar Lafontaine) diese Vision als ein Relikt der Vergangenheit. Weitgehend unklar war die Haltung der Alliierten und insbesondere der Sowjetunion, ohne deren Zustimmung die Deutsche Einheit nicht denkbar war.

Innerhalb der DDR war die Meinung zur Deutschen Frage zunächst unklar. Die regierende SED war strikt dagegen, viele bedeutende Bürgerrechtler unterschrieben noch im Herbst 1989 die am 28. November 1989 veröffentlichte Erklärung Für unser Land, in der sie eine eigenständige, aber offene und demokratische Entwicklung der DDR unabhängig von der Bundesrepublik forderten (thematischer Ansatz des „Demokratischen Aufbruchs“ und von „Demokratie Jetzt“ als politische Organisationen).

Bei den Montagsdemonstrationen wurde zuerst nicht „Wir sind ein Volk“, sondern ausschließlich „Wir sind das Volk“ gerufen. Mit diesem Appell forderte man von der Volkspolizei, keine Gewalt gegen das eigene Volk anzuwenden, und von der Regierung mehr Demokratie oder zumindest Berücksichtigung der Meinung des Volkes.[2] Die auflagenstärkste westdeutsche Boulevardzeitung schrieb zwei Tage nach dem Mauerfall zur Meinungsentwicklung in der DDR: „‚Wir sind das Volk‘ rufen sie heute – ‚Wir sind ein Volk‘ rufen sie morgen!“[3] Der Ruf nach Einheit „Wir sind ein Volk“ wurde kurze Zeit später von der westdeutschen CDU aufgegriffen, auf Plakaten und Aufklebern hunderttausendfach gedruckt und erst ab Mitte November 1989 bei den Montagsdemonstrationen dokumentiert. Helmut Kohl stellte am 28. November 1989 ohne Rücksprache mit Koalitionspartnern oder Verbündeten seinen Zehn-Punkte-Plan vor, der zwar die Begriffe „Vertragsgemeinschaft“ und „Konföderation“ benutzt, diese aber nicht weiter konkretisiert.

Nach der positiven Reaktion der Amerikaner und Michail Gorbatschows Zustimmung zu einer Wiedervereinigung Deutschlands am 11. Februar 1990 begannen CDU/CSU und FDP immer offener die deutsche Einheit zu fordern. Spätestens seit der Volkskammerwahl 1990 galt die Vereinigung der alten Bundesländer mit den neuen als sicher; die sich nun stellende Frage war nicht mehr ob, sondern wann ein vereintes Deutschland wiedererstehen würde.

Bundesrepublik Deutschland seit 1990

Es begannen Beitrittsverhandlungen, die mit dem Beitritt der Länder der DDR zur Bundesrepublik Deutschland abgeschlossen wurden. Der tatsächliche Ablauf und der Zeitpunkt der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 („Tag der Deutschen Einheit“) wurden dabei weniger von den verhandelnden Seiten als von der handelnden Bevölkerung bestimmt. Die Parole „Wenn die D-Mark nicht zu uns kommt, kommen wir zu ihr!“ war als Überlegung über eine neuerliche massenhafte Flucht aus der DDR gemeint. Die Einführung der D-Mark als offizielles Zahlungsmittel zum 1. Juli 1990 wurde demnach als friedlicher Schritt zur deutschen Einheit konsequent genutzt. Dieser historische Erfolg ist auch als Grund für die Duldung dieser Prozesse durch die Siegermächte und die Staatengemeinschaft zu sehen.

Der zwischen den zwei Staaten in Deutschland einerseits und den Vier Mächten andererseits geschlossene Zwei-plus-Vier-Vertrag gilt zwar nicht als völkerrechtlicher Friedensvertrag, hat jedoch einen solchen Charakter. Der damit einhergehende deutsch-polnische Grenzvertrag – aufbauend auf dem Görlitzer Abkommen (1950) und dem Warschauer Vertrag (1970) – legte die Oder-Neiße-Grenze als „unverletzlich“ fest, und Deutschland bestätigte mit dessen Inkrafttreten 1992, auf Gebietsansprüche bezüglich der seither ehemaligen deutschen Ostgebiete zu verzichten. Die Bundesrepublik Deutschland hat die „Endgültigkeit der Grenzen als wesentlichen Bestandteil der europäischen Friedensordnung“ (Zitat aus der Schlusserklärung) anerkannt.

Der Artikel 23 Grundgesetz (aufgrund des Beitrittsgebietes so genannter „Beitrittsartikel“) wurde nach der Wiedervereinigung als gegenstandslos gestrichen und durch den so genannten „Europa-Artikel“ ersetzt, Präambel und Artikel 146 wurden abgeändert. Mit Erfüllung des Wiedervereinigungsauftrages, „die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“, war damit für die deutsche Bundesregierung, aber ist auch für die breite Öffentlichkeit die Nationalstaatsbildung in Deutschland abgeschlossen. Die Deutsche Frage ist seitdem endgültig verfassungsrechtlich und politisch sowie völkerrechtlich geklärt.[4]

Siehe auch

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Auf dieser historischen Karte werden – in Übereinstimmung mit dem damals im Deutsche Reich herrschenden nationalistischen Zeitgeist (vgl. zu selbigem mit Bezug auf die Perzipierung des Niederländischen: Ulrike Kloos: Niederlandbild und deutsche Germanistik 1800–1933: Ein Beitrag zur komparatistischen Imagologie (Studia imagologica; 04), Rodopi, Amsterdam [u. a.] 1992, S. 12–13, 98 ff., 128 ff.) – nicht nur generell Sprachen und Völker gleichgesetzt und deshalb auch Völker statt Sprachen abgebildet (vgl. hierzu Ulrike Kloss, op. cit., S. 77), sondern die Einwohner der Niederlande und Nordbelgiens aufgrund ihrer mit derjenigen der Einwohner Norddeutschlands gleichgesetzten Sprache zu „Niederdeutschen“ erklärt und verallgemeinert. In der ersten Ausgabe von Karl Bernhardis Sprachkarte von Deutschland von 1844, deren Inhalt vergleichbar ist, wurde die deutsche Sprache hingegen in Übereinstimmung mit dem Sprachgebrauch Jacob Grimms (vgl. zu diesem Ulrike Kloss, op. cit., S. 18 ff.) als Bezeichnung für die Germanischen Sprachen insgesamt verwendet und in den hochdeutschen Sprachstamm, den niederdeutschen Sprachstamm und den nordischen Sprachstamm unterschieden. In Heinrich Kieperts Völker[-] und Sprachen-Karte von Deutschland und den Nachbarländern von 1872 wurden Völker statt Sprachen abgebildet und die Deutschen in oberdeutsche, mitteldeutsche und niederdeutsche Stämme unterteilt, parallel dazu wurde jedoch das Gebiet mit nur hochdeutscher Schriftsprache von dem des zu den niederdeutschen Stämmen gezählten flämisch-holländischen [Stamm] mit Dialect-Schriftsprache auch farblich abgesetzt (vgl. The Maps of Heinrich Kiepert, Ethnology, Germany, 1872; Heinrich Kieperts ältere Nationaliäts-Karte von Deutschland von 1848 ist bei Morgane Labbé: Die Grenzen der deutschen Nation. Raum der Karte, Statistik, Erzählung, in: Die Grenze als Raum, Erfahrung und Konstruktion: Deutschland, Frankreich und Polen vom 17. bis 20. Jahrhundert, hrsg. von Etienne François u. a., Campus, Frankfurt am Main [u. a.] 2007, S. 293–320, zwar im Anhang nach S. 320 auch mit abgedruckt, aber undeutlich). Diese Karte von 1880 zeigt nur noch die Staatennamen Niederlande und Belgien und den kleineren Schriftzug Vlämingen im Norden Belgiens, jeder Hinweis auf eine sprachliche Eigenständigkeit dieser Gebiete wurde getilgt.
  2. DHM Wandel im Osten.
  3. BILD vom 11. November 1989; vgl. auch DeutschlandRadio Berlin: „Wir sind ein Volk!“ – Auf der Suche nach der Herkunft eines deutschen Rufes, 4. November 2004.
  4. Siehe z. B. Christoph Vedder, in: Ingo von Münch, Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 1996, Rn 95 zu Art. 116 GG.

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