Dialektik der Aufklärung

Dialektik der Aufklärung

Dialektik der Aufklärung ist eine Sammlung von philosophischen Essays. Das Buch wurde gemeinsam von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno unter Mitwirkung von Gretel Adorno[1] mit dem Untertitel Philosophische Fragmente verfasst. Gretel Adorno protokollierte Gespräche zwischen ihrem Ehemann Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, die Grundlage für das Buch waren. Das Werk entstand im amerikanischen Exil der Verfasser in Los Angeles, während sich bereits das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland abzeichnete. Die Erstausgabe erschien 1944 im Herstellungsverfahren der Mimeographie unter dem Titel Philosophische Fragmente mit der Widmung „Friedrich Pollock zum 50. Geburtstag“ im New York Institute of Social Research. 1947 wurde das Werk in seiner endgültigen Fassung im Querido Verlag in Amsterdam in Druckform herausgegeben. 1966 erschien eine italienische Ausgabe mit 29 Textänderungen, die von Pollock aus Bedenken gegen eine allzu offene marxistische Sprache vorgeschlagen worden waren.[2] In den 1960er Jahren kursierte der Text, in Raubdrucken verbreitet, in deutschen Studentenkreisen, wo er intensiv rezipiert wurde. Eine offizielle Neuausgabe erschien ohne inhaltliche Eingriffe erst wieder 1969 in Deutschland.

Die „Dialektik der Aufklärung“ gilt als ein Hauptwerk der Kritischen Theorie.

Das Werk begründet die These, dass das Scheitern der Aufklärung bereits in der „instrumentellen Vernunft“ ihres Denkens angelegt sei. Mit dem Versuch, die Natur zu beherrschen, werde der einst mythische Zugang zur Welt rational aufgeklärt, als „Herrschaft“ aber schlage Aufklärung selbst in Mythos zurück, in den „Positivismus“ einer Affirmation des Bestehenden, das den „Einzelnen“ in einer verwalteten Welt und „gegenüber den ökonomischen Mächten vollends annulliert“. Horkheimer und Adorno reagierten in ihrer Schrift auf die „rätselhafte Bereitschaft der technologisch erzogenen Massen“, sich dem Despotismus der totalitären Ideologien und Herrschaftsformen auszuliefern, und werteten dieses Verhalten als „Zusammenbruch der bürgerlichen Zivilisation“ und ein Versinken in eine „neue Art der Barbarei“.

Inhaltsverzeichnis

Gliederung/Überblick

Das Buch gliedert sich in ein Vorwort, fünf essayistische Abhandlungen und einige daran anschließende skizzenhafte „Aufzeichnungen und Entwürfe“, die schon vor Abschluss der Essays entstanden waren.

1. Kapitel: Begriff der Aufklärung – Hier werden die theoretischen Grundlagen des Begriffs der „Aufklärung“ erörtert, die Dialektik von Natur und Naturbeherrschung, von Mythos und Aufklärung, und es wird die Hypothese formuliert, wie die aufgeklärte Rationalität mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit - einer Wirklichkeit von Herrschenden und Beherrschten - verknüpft sei.

2. Kapitel: (Exkurs I) Odysseus oder Mythos und Aufklärung – Anhand der „Odyssee“, einem frühen Zeugnis abendländischer Zivilisation, wird die Dialektik von Mythos und Aufklärung als eine bereits vormoderne Auseinandersetzung mit einer mythisch verstandenen Natur durch elementare Vorformen einer aufgeklärten Naturbeherrschung interpretiert.

3. Kapitel: (Exkurs II) Juliette oder Aufklärung und Moral – In einer Gegenüberstellung von Kant mit de Sade und Nietzsche wird argumentiert, dass die aufgeklärte Vernunft durch die von ihr bewirkte „Unterwerfung alles Natürlichen unter das selbstherrliche Subjekt“ nicht wie von Kant gewünscht moralisch, sondern amoralisch sein könne.

4. Kapitel: Kulturindustrie – Aufklärung als Massenbetrug – Hier wird postuliert, dass die Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität in eine Ökonomisierung aller Lebensbereiche fortschreite und damit letztlich in einem „Ausverkauf der Kultur“ ende, wo Sinn durch die kalkulierten Dummheiten des Amüsements ersetzt werde und das Wirtschaftsgeschehen als Ausfluss der objektivierten Macht logischer Rationalisierungsprozesse unreflektiert verherrlicht werde.

5. Kapitel: Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung – Anhand der Ideengeschichte des Antisemitismus wird thesenhaft dargelegt, dass der herrschenden Vernunft wesensgemäß ein Irrationalismus innewohne, der sich im faschistischen Denken einen antizivilisatorischen Ausdruck verschaffte. Daher wird die Rückkehr zur Barbarei als integraler Teil der Moderne verstanden, der nicht einfach abgespalten werden könne.

6. Kapitel: Aufzeichnungen und Entwürfe – Im Schlusskapitel versammeln sich unvollendete Gedanken, teils aus den vorhergehenden Abschnitten abgeleitet, von denen sich die meisten auf eine „dialektische Anthropologie“ beziehen.

Die Gliederung lässt erkennen, dass es Horkheimer und Adorno nicht um ein logisch strukturiertes und abgeschlossenes Werk ging.

„Begriff der Aufklärung"

Horkheimer/Adorno rekapitulierten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dass im Zeichen der Aufklärung es der Menschheit nicht gelang, „in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten“. Sie erörterten die Frage, wie der Rationalitätsglaube in Form einer „instrumentellen Vernunft“ als Verblendung auf die Subjekte des Denkens zurückwirken konnte.

Die Anfangssätze des ersten Kapitels, das dem „Begriff der Aufklärung“ gewidmet ist, lauten:

„Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie sollte die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen.“

Es scheine nur so, als ob das aufgeklärte Weltbild dem mythischen überlegen sei. In Wahrheit seien diese beiden Ansätze sehr eng miteinander verwandt. Das Ideal der Aufklärung ist die rationale Erklärung der Welt, um die Natur zu beherrschen. In ihr werde der Begriff durch die Formel ersetzt. Durch die argumentative Verteidigung der mythischen Weltdeutung werde das Prinzip der Rationalität der Aufklärung schon anerkannt. Dadurch werde sie in jeder Auseinandersetzung mächtiger. „Als Sein und Geschehen wird von der Aufklärung nur anerkannt, was durch Einheit sich erfassen lässt; ihr Ideal ist das System, aus dem alles und jedes folgt."[3] Alle Götter und Qualitäten sollen zerstört werden. Dabei übersieht sie, dass die Mythen schon ein Produkt der Aufklärung sind. „Als Gebieter über Natur gleichen sich der schaffende Gott und der ordnende Geist."[4] Sie haben die gleichen Wurzeln, denn „Mythen wie magische Riten meinen sich wiederholende Natur."[5]

Nach Horkheimer/Adorno ist die Abstraktion das Werkzeug, mit dem die Logik von der Masse der Dinge geschieden wird. Das Mannigfaltige wird quantitativ unter eine abstrakte Größe gestellt und vereinheitlicht, um es handhabbar zu machen. Das symbolisch Benannte wird formalisiert; in der Formel wird es berechenbar und damit einem Nützlichkeitsaspekt unterzogen, verfügbar und manipulierbar zu sein. Das Schema der Berechenbarkeit wird zum System der Welterklärung. Alles, was sich dem instrumentellen Denken entzieht, wird des Aberglaubens verdächtigt. Der moderne Positivismus verbannt es in die Sphäre des Unobjektiven, des Scheins.

Aber diese Logik ist eine Logik des Subjekts, die unter dem Zeichen der Herrschaft, der Naturbeherrschung, auf die Dinge wirkt. Diese Herrschaft tritt dem Einzelnen nunmehr als Vernunft gegenüber, die die objektive Weltsicht organisiert.

In der Vereinheitlichung des Denkens auf den Menschen angewendet, werden die gesellschaftlichen Subjekte zum manipulierbaren Kollektiv. Die wissenschaftliche Weltherrschaft wendet sich gegen die denkenden Subjekte und verdinglicht in der Industrie, der Planung, der Arbeitsteilung, der Ökonomie die Menschen zu Objekten. Unter der Herrschaft des Allgemeinen werden die Subjekte nicht nur den Dingen entfremdet, sondern die Menschen selbst versachlicht. Das Allgemeine tritt ihnen als totalitäre Herrschaftsform gegenüber, die sich die Einzelnen nach ihrem Maß zurichtet. Der Fortschritt wird destruktiv; statt Befreiung von den Zwängen der überwältigenden Natur wird Anpassung an die Technologie und das Marktgeschehen gefordert, an die Stelle der befreienden Aufklärung aus der Unmündigkeit tritt das wirtschaftliche und politische Interesse, das Bewusstsein der Menschen zu manipulieren. Aufklärung wird zum Massenbetrug.

„Odysseus oder Mythos und Aufklärung“

In der berühmt gewordenen Lektüre der Odyssee wird die Geschichte einer Entsagung rekonstruiert. Odysseus erscheint als Urbild des bürgerlichen Individuums, der sich listig am Leben erhält und Selbstbehauptung durch Selbstverleugnung betreibt.[6] Sie kommt in dem folgenden, häufig zitierten Satz zum Ausdruck: „Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt.“[7]

„Juliette oder Aufklärung und Moral“

Der Marquis de Sade wurde als Philosoph erst in den 1930er Jahren entdeckt. Er wurde der Aufklärung, genauer: dem „französischen Materialismus“ zugerechnet. Erich Fromm, als Mitarbeiter des von Horkheimer gegründeten Frankfurter Instituts für Sozialforschung, machte 1934, als sich die dort versammelten Vertreter der Kritischen Theorie noch als Avantgarde der Aufklärung sahen, auf die „sehr fruchtbaren Gedanken de Sades“ aufmerksam[8]. Sades Gedanken waren aber für sie erst brauchbar, als Horkheimer und Adorno ihr Buch Dialektik der Aufklärung schrieben. Darin stellten beide 1944 fest: „Die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils“. Diese Wahrnehmung veranlasste sie zu einer Revision ihrer früheren Position und zur Abwendung von der Aufklärung. Eine wesentliche Rolle dabei spielten die Ideen de Sades.

Horkheimer und Adorno befassen sich im Kapitel Juliette oder Aufklärung und Moral ihrer Dialektik der Aufklärung ausführlich mit den Ansichten de Sades und Nietzsches und stellen sie den philosophischen Gedanken Immanuel Kants gegenüber.

In Kants Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung heißt es: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit[9]. Der aufgeklärte Mensch bedarf keiner Autorität, keiner Tradition, keines Gottes, sondern nutzt selbständig und unabhängig seinen Verstand. Er beruft sich in seiner wissenschaftlichen Weltsicht auf die Naturgesetze, die er in der Zusammenstimmung seines Denkens mit den sinnlich wahrgenommen Erscheinungen konstruiert. Das Falsche offenbart sich im Mangel des systematischen Denkens, wenn die Dinge nicht funktionieren, der Funke im Labor nicht zündet, die Brücke einstürzt, der Krieger von der besser funktionierenden Waffe des Gegners getötet wird. Als mündig folgt der Bürger in der Gesellschaft dem Prinzip der Selbsterhaltung; in Gestalt „des Sklavenhalters, freien Unternehmers, Administrators“ ist er „das logische Subjekt der Aufklärung[10]. Die Morallehren der Aufklärung, die der als Aberglaube geschwächten Religionslehre eine Vernunftmoral entgegenzustellen suchten, in der jedermann einem allgemeinen Prinzip zustimmen solle, scheitern, wenn das Selbstinteresse diesen entgegen steht. Der Bürger, der dem Kantischen kategorischen Imperativ aus der Kritik der praktischen Vernunft beistimmt, „Handele so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne[11], folgt keiner wissenschaftlichen Vernunft, sondern einer Narretei, wenn er sich deswegen einen materiellen Gewinn entgehen lässt. Unlebendiges und Lebendes bis hin zum Menschen werden dem Herrschenden zum Material. Was zählt ist die „schlaue Selbsterhaltung“ im Kampf um die Macht und für den unterworfenen Einzelnen „die Anpassung ans Unrecht um jeden Preis“.

Bei de Sade wie bei Nietzsche wird das „szientifische Prinzip ins Vernichtende“ gesteigert. Juliette „dämonisiert den Katholizismus als jüngste Mythologie und mit ihm Zivilisation überhaupt“. Die Quintessenz formuliert Nietzsche in seinem Werk Der Antichrist: „Die Schwachen und Missrathnen sollen zu Grunde gehen: erster Satz unsrer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen.[12]. Doch während Nietzsche das große Ziel der Lehre vom „Übermenschen“ im Blick hat, ist die aufgeklärte Juliette vom „Vorurteil fürs Große“ frei, bei ihr regiert der reine Nihilismus. Alles bleibt sinnfrei der Willkür des verbrecherischen Lustprinzips verhaftet. „Selbst noch Unrecht, Hass, Zerstörung werden zum Betrieb, seitdem durch Formalisierung der Vernunft alle Ziele den Charakter der Notwendigkeit und Objektivität als Blendwerk verloren haben.“ So demontiert Sades Juliette alle Konventionen und Werte – Familie, Religion, Gesetz, Moral –, nichts vermag übrig zu bleiben, was die Gesellschaft ehemals zusammenhielt, alles fällt dem Wirtschaftsbetrieb und der enthemmten Ökonomie der aufgeklärten Verbrechergangs zum Opfer.

Nach Horkheimer/Adorno nimmt Juliette mit ihren „privaten Lastern“ die „öffentlichen Tugenden“ der totalitären Ära des 20. Jahrhunderts vorweg: „Die Unmöglichkeit, aus der Vernunft ein grundsätzliches Argument gegen den Mord vorzubringen, nicht vertuscht, sondern in alle Welt geschrieen zu haben, hat den Haß entzündet, mit dem gerade die Progressiven Sade und Nietzsche heute noch verfolgen. [...] Indem die mitleidlosen Lehren die Identität von Herrschaft und Vernunft verkünden, sind sie barmherziger als jene der moralischen Lakaien des Bürgertums.“[13]

„Kulturindustrie – Aufklärung als Massenbetrug“

Ein Kernpunkt der Dialektik der Aufklärung ist die „Aufklärung als Massenbetrug“. Unter Kulturindustrie ist die kommerzielle Vermarktung von Kultur zu verstehen; der Industriezweig, der sich gezielt mit der Herstellung von Kultur beschäftigt. Im Gegensatz dazu steht die authentische Kultur.

Nach Auffassung Horkheimers und Adornos raubt industriell hergestellte Kultur dem Menschen die Phantasie und übernimmt das Nachdenken für ihn. Die „Kulturindustrie“ liefert die „Ware“ so, dass dem Menschen nur noch die Aufgabe des Konsumenten zukommt. Durch Massenproduktion ist alles gleichartig und unterscheidet sich höchstens in Kleinigkeiten. Alles wird in ein Schema gepresst und erwünscht ist es, die reale Welt so gut wie möglich nachzuahmen. Triebe werden so weit geschürt, dass eine Sublimierung nicht mehr möglich ist.

Als Beispiel nennen sie den Kinofilm. Prinzipiell sind alle Filme ähnlich. Sie sind darauf ausgelegt, die Wirklichkeit möglichst gut wiederzugeben. Auch Fantasy-Filme, die den Anspruch erheben, nicht realitätsnah zu sein, werden den Anforderungen nicht gerecht. Egal, wie außergewöhnlich sie sein wollen, das Ende ist zumeist schon sehr schnell absehbar, da es nun mal viele Filme gibt, die nach dem gleichen Schema produziert wurden. Des Weiteren werden z.B. durch erotische Darstellungen Triebe so weit gestärkt, dass eine Umwälzung auf anderes nicht mehr möglich ist.

Das Ziel der Kulturindustrie ist – wie in jedem Industriezweig – ökonomischer Art. Alles Bemühen ist auf wirtschaftliche Erfolge ausgerichtet.

Die authentische Kultur hingegen ist nicht zielgerichtet, sondern Selbstzweck. Sie fördert die Phantasie des Menschen, indem sie Anregungen gibt, aber anders als die Kulturindustrie, den Freiraum für eigenständiges menschliches Denken lässt. Authentische Kultur will nicht die Wirklichkeit nachstellen, sondern weit über sie hinausgehen. Sie ist individuell und lässt sich nicht in ein Schema pressen.

Als Ursachen für die Entstehung von Kulturindustrie führen Horkheimer und Adorno an, dass sich Firmen finden, die Kultur vermarkten und dadurch das ökonomische Ziel der Profitmaximierung verfolgen. Durch diesen Umstand bleibt Kultur nicht, was sie ist bzw. sein soll, sondern wird eine Ware wie jede andere.

„Elemente des Antisemitismus“

Das Kapitel über die „Elemente des Antisemitismus“ bezeichnen Horkheimer/Adorno als den Entwurf einer „philosophische[n] Urgeschichte des Antisemitismus“. „Sein 'Irrationalismus' wird aus dem Wesen der herrschenden Vernunft selber und der ihrem Bild entsprechenden Welt abgeleitet.“ (DdA 7[14]) Die Ursachen des Antisemitismus sind nicht eindimensional zu fassen. Es besteht vielmehr ein Feld miteinander verwobener Gründe, warum die Aufklärung sich in ihr Gegenteil verkehrt. Um dieses aufzuzeigen, entwickelten Horkheimer/Adorno sieben Thesen, in denen sie den verschiedenen Aspekten nachgehen.

  1. Die Abgrenzung der Juden als homogene Gruppe findet im Faschismus in gleicher Weise statt wie im Liberalismus, wenn auch die Motive äußerst unterschiedlich sind. Während für den Faschismus die Juden biologistisch die „Gegenrasse, das negative Prinzip als solches“ sind, die „vom absolut Bösen als das absolut Böse gebrandmarkt“ werden, mit denen man nur noch als Objekt verfährt und sie „wie Ungeziefer“ vertilgt (DdA 177), bilden auch für den Liberalismus die Juden eine besondere Gemeinschaft, die sich über Religion und Tradition definiert und die eines besonderen Schutzes bedarf. Indem die Juden als „Schutzjuden“ exponiert werden, wird ihre ausgegrenzte Stellung in der Gesellschaft manifestiert. (DdA 178)
  2. „Die antisemitische Verhaltensweise wird in den Situationen ausgelöst, in denen verblendete, der Subjektivität beraubte Menschen als Subjekte losgelassen werden.“ (DdA 180) Diese Form des Antisemitismus ist blind und intentionslos. Er ist dann ein Ventil für die Masse, mit dem sie ihre durch die beengenden Begrenzungen der Zivilisation aufgestauten Aggressionen verarbeiten kann. Zur Entlastung von solchen Aggressionen wird der Antisemitismus von den Herrschenden gestützt und kultiviert, indem etwa der Mythos vom jüdischen Bankier, der den Bolschewismus finanziert, geschürt wird. (DdA 181)
  3. Aufgrund ihrer Geschichte der Ausgrenzung stehen die Juden als Sinnbild für den Kapitalismus und dessen negative Folgen. Ihnen wird „das Unrecht der gesamten Klasse aufgebürdet“. (DdA 183)
  4. Der Antisemitismus beinhaltet ein grundsätzlich religiöses Motiv, mit dem sich das Christentum gegenüber der „Vaterreligion“ eifersüchtig in einer 2000 Jahre währenden Geschichte des Antijudaismus abgrenzt. Dieses religiöse Moment wird in den Faschismus mit Massenkultur und Aufmärschen transponiert. (DdA 185)
  5. Die fünfte These setzt sich mit der psychologischen Wirkung des Fremden auseinander. Der Mensch schafft sich durch nachahmendes Verhalten (Mimesis) eine vertraute Basis, der Welt zu begegnen. Dieses ursprüngliche Anschmiegen an die Natur wird gebrochen durch die Zivilisation. „Die von Zivilisation Geblendeten erfahren ihre eigenen tabuierten mimetischen Züge erst an manchen Gesten und Verhaltensweisen, die ihnen bei anderen begegnen, und als isolierte Reste, als beschämende Rudimente in der rationalisierten Umwelt auffallen. Was als Fremdes abstößt, ist nur allzu vertraut. Es ist die ansteckende Gestik der von Zivilisation unterdrückten Unmittelbarkeit: Berühren, Anschmiegen, Beschwichtigen, Zureden. Anstößig heute ist das Unzeitgemäße solcher Regungen.“ (DdA 190) Durch das Herausarbeiten besonderer mimetischer Eigenschaften der Juden entsteht die Distanz gegenüber dem Andersartigen. Adorno/Horkheimer nennen als Beispiele mimetischer Chiffren Gestik, den singenden Tonfall oder auch die Nase als Metonymie der „Riechlust“ (DdA 193). Die Abgrenzung ermöglicht dann die Stärkung des eigenen Selbstbewusstseins. „Indem der Verwurzelte an seiner Differenz vom Juden die Gleichheit, das Menschliche, gewahrt, wird in ihm das Gefühl des Gegensatzes, der Fremdheit, induziert. So werden die tabuierten, der Arbeit in ihrer herrschenden Ordnung zuwiderlaufenden Regungen in konformierende Idiosynkrasien umgesetzt.“ (DdA, 194)
  6. Der Antisemitismus beruht auch auf einer falschen Projektion, die schließlich in einer gesellschaftlichen Paranoia mündet. „Der als Feind Erwählte wird schon als Feind wahrgenommen. Die Störung liegt in der mangelnden Unterscheidung des Subjekts zwischen dem eigenen und fremden Anteil am projizierten Material.“ (DdA 196) Das Problem liegt darin, dass in der (faschistischen) Gesellschaft die Reflexion auf diese Projektion nicht stattfindet. „Der durchdringende und der vorbeisehende Blick, der hypnotische und der nichtachtende, sind vom gleichen Schlage, in beiden wird das Subjekt ausgelöscht. Weil solchen Blicken die Reflexion fehlt, werden die Reflexionslosen davon elektrisiert. (DdA 201)
  7. Gestützt wird der Antisemitismus schließlich dadurch, dass er eine Komponente von mehreren ist, die eine totalitäre Ideologie ausmachen. Das Mitläufertum nimmt den Antisemitismus, ohne ihn zu hinterfragen, hin, weil die Bejahung der Herrschaft auf der Bejahung des Systems als solchem beruht. Die Verantwortung liegt nicht mehr wie in der Aufklärung beim Individuum, sondern ist an die Herrschenden abgetreten. „Was der Einzelne jeweils tun soll, braucht er sich nicht erst mehr in einer schmerzhaften inneren Dialektik von Gewissen, Selbsterhaltung und Trieben abzuringen.“ (DdA 213) Einem solchen Denken ist es egal, ob es überhaupt noch „den Juden“ in der bekämpften Gestalt gibt.

Rezeptionsgeschichte und Kritik

Ursprünglich waren die Fragmente nur als „Flaschenpost“ gedacht, die vielleicht in ferner Zeit gefunden und dann als brauchbar erkannt werden wird. Deshalb waren die Autoren auch sehr von dem Publikumserfolg der Dialektik der Aufklärung überrascht, der bereits etwa 20 Jahre nach Erscheinen des Buches — bewirkt durch die internationale 68er-Bewegung — in Europa und den USA eintrat. Seither gilt das Werk als eine Grundlage der Vernunftkritik.

Im Philosophischen Diskurs der Moderne hält Jürgen Habermas Horkheimer und Adorno vor, sie hätten sich in der Problemlage Anfang der vierziger Jahre einer "hemmungslosen Vernunftsskepsis überlassen, statt die Gründe zu erwägen, die an dieser Skepsis selber zweifeln lassen".[15]

Literatur

Textausgaben

  • Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, hektografiertes Manuskript 1944 (aus Anlass des 50. Geburtstags von Friedrich Pollock)
  • Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Querido, Amsterdam 1947 (erweiterte Fassung, 2.000 Exemplare)
  • Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. Fischer, Frankfurt 1969, Nachdruck als Taschenbuch 1988, ISBN 978-3-59627404-8
  • Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (Gesammelte Schriften, Band 3, hrsg. von Rolf Tiedemann), Suhrkamp, Frankfurt 1981, ISBN 978-3-51807493-0 (in der Taschenbuchausgabe nicht mehr enthalten)
  • Max Horkheimer: Gesammelte Schriften, 19 Bände, hrsg. von Gunzelin Schmid Noerr, Band.5: Dialektik der Aufklärung und Schriften 1940-1950, S. Fischer, Frankfurt 1987 (3. Aufl. 2003), ISBN 978-3-59627379-9

Sekundärliteratur

  • Theodor Adorno, Max Horkheimer: Zur Dialektik der Aufklärung. In: Frankfurter Rundschau. 1968 (online).
  • Clemens Albrecht: Die Dialektik des Scheiterns. Aufklärung mit Horkheimer und Adorno. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe. Nr. 2, 2004 (online).
  • Stefano Cochetti: Mythos und „Dialektik der Aufklärung“. Königstein im Taunus 1985, ISBN 3-445-02452-9.
  • Georg Dörr: Muttermythos und Herrschaftsmythos. Zur Dialektik der Aufklärung um die Jahrhundertwende bei den Kosmikern, Stefan George und in der Frankfurter Schule. Königshausen & Neumann, Würzburg 2007, ISBN 978-3-8260-3511-1 (Epistemata Reihe Literaturwissenschaft 588, englischsprachige Rezension aus: Focus on German Studies).
  • Manfred Gangl, Gérard Raulet (Hrsg.): Jenseits instrumenteller Vernunft. Kritische Studien zur „Dialektik der Aufklärung“. Band 3, Peter Lang, Frankfurt am Main 1998, ISBN 3-631-33184-3 (Schriftenreihe zur politischen Kultur der Weimarer Republik 3).
  • Jürgen Habermas: Die Verschlingung von Mythos und Aufklärung. Horkheimer und Adorno. In: Jürgen Habermas (Hrsg.): Der Philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3-518-28349-3, S. 130–157.
  • Andreas Hetzel: Interpretation. Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. In: Interpretationen. Hauptwerke der Sozialphilosophie. Reclam, Stuttgart 2001, ISBN 3-15-018114-3, S. 148–172.
  • Harry Kunnemann, Hent de Vries: Die Aktualität der „Dialektik der Aufklärung“. Zwischen Moderne und Postmoderne. Campus, Frankfurt am Main u. a. 1989, ISBN 3-593-34012-7.
  • Marc-Pierre Möll: Ist Aufklärung totalitär? Zur „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno. In: Aufklärung und Kritik. Nr. 2, 2003, S. 12–22 (online).
  • Willem van Reijen, Gunzelin Schmid Noerr: Vierzig Jahre Flaschenpost. Dialektik der Aufklärung 1947–1987. Fischer, Frankfurt am Main 1987, ISBN 3-596-26566-5.
  • Reiner Rumold: NO!art und die Dialektik der Aufklärung – Negative Ästhetik und moralische Bildlichkeit. Leipzig 2002 (online).
  • Helmut Seidel: Aufklärung und die Gegenwart. Zur Kritik der „Dialektik der Aufklarung“ von Adorno und Horkheimer. In: UTOPIE kreativ. Nr. 109/110, November/Dezember 1999, S. 101–110 (Vortrag an der Rosa-Luxemburg-Stiftung, online).

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Rolf Tiedemann:Gretel Adorno zum Abschied. (In: Frankfurter Adorno Blätter III, München 1994)
  2. Gunzelin Schmid Noerr: Nachwort des Herausgebers. In: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften Band 5. Fischer, Frankfurt am Main 1987, S. 449ff.
  3. Vgl. Max Horkheimer: Gesammelte Schriften. Band 5, Dialektik der Aufklärung und Schriften 1940–1950, Fischer, Frankfurt am Main 1987, S. 29.
  4. Max Horkheimer: Gesammelte Schriften. Band 5, Dialektik der Aufklärung und Schriften 1940–1950, Fischer, Frankfurt am Main 1987, S. 31..
  5. Max Horkheimer: Gesammelte Schriften. Band 5, Dialektik der Aufklärung und Schriften 1940–1950, Fischer, Frankfurt am Main 1987, S. 39.
  6. Gerhard Schweppenhäuser: Am Ende der bürgerlichen Geschichtsphilosophie. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung (1947). In: Walter Erhard/Herbert Jaumann (Hrsg.): Jahrhundertbücher. Große Theorien von Freud bis Luhmannn. Beck, München 2000, S. 194f.
  7. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Max Horkheimer: 'Gesammelte Schriften, Band 5. Fischer, Frankfurt am Main 1987, S. 56.
  8. Erich Fromm: Besprechung von "Geoffrey Gorer: The revolutionary Ideas of the Marquis de Sade". In: Zeitschrift für Sozialforschung, 3(1934), S. 426-427
  9. Immanuel Kant: Was ist Aufklärung? (in Wikisource) (1784)
  10. Alle Zitate (soweit nicht anders angegeben): Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1969, Seite 74ff, ISBN 3-436-01487-7
  11. Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, Stuttgart 73, § 7 Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft, Seite 53, ISBN 3-15-001111-6
  12. Friedrich Nietzsche: Der Antichrist, KSA 6, S. 170.
  13. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, 1988, S. 127
  14. Die Einzelnachweise dieses Abschnitts richten sich nach der Taschenbuchausgabe: Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. Fischer, Frankfurt 1988 = DdA
  15. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981, S. 156.

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