Dissoziative Persönlichkeitsstörung

Dissoziative Persönlichkeitsstörung
Vergleichende Klassifikation nach
DSM-IV   ICD-10
300.14 Dissoziative ldentitätsstörung
(vormals Multiple Persönlichkeitsstörung)
F44.81 Multiple Persönlichkeitsstörung
DSM IV online ICD-10 online

Die Dissoziative Identitätsstörung oder Multiple Persönlichkeitsstörung ist eine dissoziative Störung, bei der Wahrnehmung, Erinnerung, und das Erleben der Identität betroffen ist. Sie gilt als die schwerste Form der Dissoziation. Die Patienten bilden zahlreiche unterschiedliche Persönlichkeiten, die abwechselnd die Kontrolle über ihr Verhalten übernehmen. An das Handeln der jeweils „anderen“ Personen kann sich der Betroffene entweder nicht – oder nur schemenhaft – erinnern oder er erlebt es als das Handeln einer fremden Person. Folgestörungen sind Depressionen, Angst, psychosomatische Körperbeschwerden, Selbstverletzung, Essstörungen, Suchterkrankungen und Beziehungsprobleme. Die Ursache soll eine posttraumatische Belastungsstörung sein, insbesondere von Kindesmisshandlungen. Die Häufigkeit wird Studien zufolge mit 0,5–1 % der Bevölkerung angegeben. In der Fachwelt ist jedoch umstritten, ob es sich um eine echte Störung, oder um ein iatrogenes (vom Arzt erzeugtes) oder kulturelles Phänomen handelt.[1]

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Erste Diskussionen über Persönlichkeitsspaltung findet man bei französischen Psychiatern und Philosophen der Jahre zwischen 1840 und 1880.[1] Der Begriff der Dissoziation als „Desintegration und Fragmentierung des Bewusstseins“ wird durch den französischen Psychiater Pierre Janet (1859–1947) geprägt.[2] Später gibt es auch Berichte bei Sigmund Freud und u.a. bei Eugen Bleuler. Sie sind jedoch in den folgenden Jahrzehnten außerordentlich selten. Bis 1980 sind nur etwa 200 Fälle erfasst, teilweise unter den älteren psychiatrischen Diagnosen „Hysterie“ und „traumatische Neurose“.[3] 1973 erschien Sybil, ein von der Journalistin Flora Rheta Schreiber verfasster Fallbericht über eine Patientin mit 16 Persönlichkeiten, der erstmals den Begriff „multiple personality“ verwendete.[4] Aufgrund des Bestsellers meldeten sich in den USA mehrere hundert Menschen, die glaubten, ebenfalls an dieser Krankheit zu leiden.

Bis heute ist das Konzept der multiplen Persönlichkeitsstörung sehr umstritten. Kritiker bezeichnen die Diagnose als Erfindung der Therapeuten: sie hätten ihren Patienten die Persönlichkeitsspaltung „eingeredet“, bzw. während des suggestiblen Trancezustands einer Hypnose induziert. Auch die erst während der Therapie auftauchenden Erinnerungen an traumatische Ereignisse seien durch die Therapie erzeugte falsche Erinnerungen. Die aktive Fragetechnik rufe die erwarteten Symptome selbst hervor.[5] Auch die Angaben zur Prävalenz werden bezweifelt: die Diagnose werde in einzelnen Staaten überdurchschnittlich häufig gestellt.[1]

Ursachen

Fallserien über Patienten mit DIS berichten sehr häufig über schwere Traumatisierung im Kindesalter, darunter länger andauernde Misshandlungen und Vernachlässigung sowie im besonderen sexueller Missbrauch, oder extreme Erlebnisse mit Verletzten und Toten wie z.B. durch Mord, Krieg, schwere Unfälle, Katastrophen, besonders wenn die Eltern oder Geschwister betroffen sind.

Studien an Patienten mit Dissoziativer Identitätsstörung (Egle, Hoffmann u.a.: Sexueller Missbrauch, a.a.O. S. 234) ergaben Raten von sexuellem Missbrauch in der Vorgeschichte zwischen 75 % und 94 %; Misshandlungen liegen in der gleichen Größenordnung – oftmals in Kombination mit sexuellem Missbrauch. Es wurde vermutet, dass eine traumatisierte Kindheit die Neigung zu dissoziativen Störungen erhöht und spontane Heilungen unterdrückt.[6]

Die unterschiedlichen „Personen“ könnten dem Zweck dienen, sich an widersprüchliche Umwelt- und Überlebensbedingungen anzupassen. Häufig finden sich Teilpersönlichkeiten mit bestimmten Aufgaben, etwa Schutzpersonen, Kontrollpersonen und Personen, welche die täglich anfallende Routine erledigen. Die dissoziierte Persönlichkeit kann Dinge ausleben, die eigentlich tabuisiert oder verdrängt sind. Sie kann in Bezug auf Herkunft, Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung etc. das Gegenteil des ursprünglichen Persönlichkeitszustands darstellen.

Die dissoziative Identitätsstörung weist eine hohe Komorbidität mit anderen psychischen Störungen auf, wie etwa zu Depressionen, Angststörungen oder auch Persönlichkeitsstörungen wie der Borderline-Persönlichkeitsstörung oder der Schizotypischen Persönlichkeitsstörung. Dabei können die komorbiden Störungen wiederum auch eine Reaktion auf die belastenden und traumatischen Erlebnisse sein. Viele Betroffene leiden auch unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung (nach einer Studie von Boon und Draijer 1993 etwa 80 %.[7])

Diagnostische Kriterien

Patienten mit einer dissoziativen Identitätsstörung weisen zwei oder mehr unterschiedliche Persönlichkeiten auf, die abwechselnd, aber nie gemeinsam sichtbar sind und getrennte Gedanken, Erinnerungen, Verhaltensweisen und Gefühle äußern. Der Wechsel von einer Person zur anderen wird nicht wahrgenommen. Das Handeln einzelner Persönlichkeiten kann ebenfalls vollständiger Amnesie unterliegen. Eine drogeninduzierte oder sonstige organische psychische Störung (z.B. eine Epilepsie) muss ausgeschlossen sein. Zur Diagnosefindung bei Verdachtsfällen können standardisierte Fragebögen (FDS, SIDDS) eingesetzt werden.[8]

Laborchemische und bildgebende Verfahren sowie EEG wurden vereinzelt bei Patienten mit DIS erprobt (Putnam 1984, Reinders[9] 2003) und zeigten gewisse Unterschiede der Körper- und Gehirnfunktionen zwischen den Persönlichkeiten. Sie spielen in der klinischen Arbeit jedoch keine Rolle.

Differenzialdiagnose

Die differenzialdiagnostische Abgrenzung zu anderen Störungen ist schwierig. Besonders muss die Unterscheidung von der Borderline-Störung oder anderen Persönlichkeitsstörungen, der Schizophrenie oder der Posttraumatischen Belastungsstörung (Posttraumatic Stress Disorder, PTSD) getroffen werden.

  • Patienten mit einer Borderline-Störung leiden unter häufigen Stimmungsschwankungen, oft ohne von außen erkennbare Ursache, die zumindest auf den ersten Blick wie verschiedene Persönlichkeitsanteile imponieren können. Außerdem sind schwerwiegende Identitätsstörungen typisch für das Krankheitsbild.
  • Auch manche Formen der Schizophrenie weisen Ähnlichkeit zu Symptomen der multiplen Persönlichkeitsstörung auf: Manche dieser Patienten erleben Stimmen, die ihre Handlungen kommentieren und beobachten, ähnlich wie bei ko-bewussten Subpersönlichkeiten.
  • Die PTSD teilt mit der multiplen Persönlichkeit die traumatische Genese, außerdem treten typischerweise dissoziative Symptome auf. Häufig fühlen die Patienten sich auch von sich selber entfremdet.

Therapie

Die Therapie kann psychodynamische kognitiv-behaviorale, hypnotherapeutische und traumaadaptierte Methoden umfassen. Üblich sind Langzeit-Einzelbehandlungen über mehrere Jahre, aber es werden auch ambulante und stationäre Kurzzeitinterventionen angeboten.

Weitere Möglichkeiten sind tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie, katathymes Bilderleben, die EMDR-Technik oder die Bildschirmtechnik.

Literatur

  • Onno van der Hart, Ellert Nijenhuis & Kathy Steele: Das verfolgte Selbst. Strukturelle Dissoziation. Junfermann, Paderborn 2008, ISBN 978-3-87387-671-2
  • Berit Lukas: Das Gefühl, ein NO-BODY zu sein. Depersonalisation, Dissoziation und Trauma. 2. Auflage. Junfermann, Paderborn 2008, ISBN 978-3-87387-534-0
  • Michaela Huber: Trauma und die Folgen. Trauma und Traumabehandlung, Teil 1. 3. Auflage. Junfermann, Paderborn 2007, ISBN 978-3-87387-510-4
  • Michaela Huber: Wege der Traumabehandlung. Trauma und Traumabehandlung, Teil 2. 3. Auflage. Junfermann, Paderborn 2006, ISBN 978-3-87387-550-0
  • Ellert R. S. Nijenhuis: Somatoforme Dissoziation. Phänomene, Messung und theoretische Aspekte. Junfermann, Paderborn 2006, ISBN 978-3-87387-623-1
  • Imke Deistler & Angelika Vogler: Einführung in die Dissoziative Identitätsstörung. 2. Auflage. Junfermann, Paderborn 2005, ISBN 978-3-87387-497-8
  • A. Eckhardt-Henn, S.O. Hoffmann: Dissoziative Störungen. In: Ulrich T. Egle, Sven O. Hoffmann u.a. (Hrsg.): Sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung. 3., vollständig aktualisierte und erweiterte Auflage. Schattauer, Stuttgart 2005, ISBN 3-7945-2314-8
  • Susanne Lüderitz: Wenn die Seele im Grenzbereich von Vernichtung und Überleben zersplittert. Auswirkungen auf Behandlungskonzepte der DIS. Junfermann, Paderborn 2005, ISBN 978-3-87387-612-5
  • Michaela Huber: Multiple Persönlichkeiten - Überlebende extremer Gewalt. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-596-12160-4
  • Frank W. Putnam: Diagnose und Behandlung der Dissoziativen Identitätsstörung. Junfermann, Paderborn 2003, ISBN 978-3-87387-490-9
  • Peter Fiedler: Dissoziative Störungen und Konversion. Trauma und Traumabehandlung. 2. Auflage. Beltz, Weinheim 2001, ISBN 3-621-27494-4
  • Joan Frances Casey, Lynn Wilson: Ich bin Viele. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1992, ISBN 3-498-00895-1

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b c Nach: Ursula Gast, Frauke Rodewald, Arne Hofmann, Helga Mattheß, Ellert Nijenhuis, Luise Reddemann, Hinderk M. Emrich: Die dissoziative Identitätsstörung – häufig fehldiagnostiziert. In: Deutsches Ärzteblatt 2006, 103(47), A-3193/B-2781/C-2664
  2. Pierre Janet: L’automatisme psychologique. Félix Alcan, Paris 1889. Reprint: Société Pierre Janet, Paris 1889/1973. Nach Gast u.a.: Die dissoziative Identitätsstörung, 2006, a.a.O.
  3. Rainer Krause: Zur Geschichte und Behandlung sogenannter Multipler Persönlichkeitsstörunge bei Frauen, in Abgrenzung zur Borderline-Persönlichkeitsstörung und der Posttraumatischen Belastungsstörung, Projekt der Fachrichtung Psychologie/Lehrstuhl für Klinische Psychologie an der Universität des Saarlands, Saarbrücken
  4. Flora Rheta Schreiber: Sybil. Independent Pub Group, Chicago 1973, ISBN 0-8092-0001-5
  5. Stoffels H, Ernst C: Erinnerung und Pseudoerinnerung: Über die Sehnsucht, Traumaopfer zu sein. Nervenarzt 2002; 73: 445–51
  6. Muhammad Waseem: Child Abuse & Neglect. Dissociative Identity Disorder. In: emedicine.com, letztes Update vom 28.11.2007
  7. Suzette Boon, Nel Draijer: The Differantiation of Patients with MPD or DDNOS from Patients with a Cluster B Personality Disorder. auf der Seite empty-memories.nl, „website about p.t.s.d. and dissociative disorders
  8. Bettina Overkamp: Differentialdiagnostik der dissoziativen Identitätsstörung (DIS) in Deutschland. Validierung der Dissociative Disorders Interview Schedule (DDIS). Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, 2005
  9. Multiple Persönlichkeiten verwenden verschiedene Nervenbahnen, auf science.orf.at, der Wissenschaftsseite des Österreichischen Rundfunks
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