Eckhard Jesse

Eckhard Jesse

Eckhard Jesse (* 26. Juli 1948 in Wurzen) ist ein deutscher Politologe und Publizist. Er ist Inhaber der Professur „Politische Systeme, Politische Institutionen“ an der Technischen Universität Chemnitz.

Inhaltsverzeichnis

Biografie

Der Sohn eines Volksschulrektors verließ 1958 gemeinsam mit seinen Eltern die DDR. Nachdem er zunächst eine Verwaltungslehre absolviert hatte, erlangte er 1971 das Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg. Anschließend studierte Jesse von 1971 bis 1976 Politikwissenschaft und Geschichtswissenschaft an der Freien Universität Berlin. In dieser Zeit war er Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung. 1982 wurde er zum Thema Die Gestaltung des Wahlrechts in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Analyse der politischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen um Wahlsystem- und Wahlrechtsänderungen promoviert. 1989 folgte die Habilitation zum Thema Streitbare Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland. Das Beispiel des Extremistenbeschlusses von 1972. Jesse ist seit 1983 verheiratet.

Wirken

1978 bis 1983 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Trier. Anschließend war er dort bis 1989 als Hochschulassistent tätig. Bis 1993 übernahm er Lehrstuhlvertretungen und war als Auslandsdozent tätig. Seit 1993 hat er den Lehrstuhl für politische Systeme, politische Institutionen an der TU Chemnitz inne. Jesse ist Gründungsmitglied des Veldensteiner Kreis und Redakteur der Zeitschrift MUT. Er war Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft (2007). Darüber hinaus ist er Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Beiräte, z. B. der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, der Gesellschaft für Deutschlandforschung, der Stiftung Ettersberg und des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung (HAIT) in Dresden.

Forschungsschwerpunkte

Jesses Forschungsschwerpunkte sind die Demokratie-, Extremismus- und Totalitarismus- sowie Wahl- und Parteienforschung, das politische System der Bundesrepublik Deutschland sowie die historischen Grundlagen der Politik.

Gemeinsam mit anderen Forschern vertrat Jesse 1986 die These der alleinigen Täterschaft Marinus van der Lubbes beim Reichstagsbrand von 1933.

Extremismus & Demokratie

Gemeinsam mit Uwe Backes vom HAIT gibt Jesse seit 1989 das Jahrbuch Extremismus & Demokratie[1] sowie eine Schriftenreihe gleichen Namens heraus, die inzwischen zu den Standardwerken der Extremismusforschung gehören. Am Fachgebiet Politikwissenschaft der TU Chemnitz betreut Jesse ein von der Hanns-Seidel-Stiftung finanziertes Promotionskolleg Politischer Extremismus und Parteien. 2001 veröffentlichte das Jahrbuch ein biografisches Porträt des Holocaustleugners Horst Mahler, das nach einem Besuch Jesses bei Mahler entstand.[2]

Zudem steuerte der Extremismusexperte umfangreiche Artikel zu der dreißigbändigen Coron-Enzyklopädie (einer vollständigen Überarbeitung der Bertelsmann Lexikothek) bei (Staat in Geschichte und Gegenwart, Der demokratische Verfassungsstaat sowie Diktatur, Extremismus und Terrorismus).

Bedrohung durch Linksextremisten

Im März 2011 wurde Jesse unter Polizeischutz gestellt, nachdem er von Linksextremisten bedroht wurde. Die "Revolutionären Aktionszellen" (RAZ) schickten ihm eine Patrone und drohten in einem im Internet veröffentlichten Bekennerschreiben, dass „die nächste Zustellung per Express“ erfolge. Neben Jesse betraf diese Aktion unter anderem seinen Kollegen Uwe Backes sowie Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich.[3]

NPD-Verbotsverfahren

Jesse war vom Bundesverfassungsgericht als Gutachter im gescheiterten NPD-Verbotsverfahren vorgesehen. In einer Pressemitteilung der TU Chemnitz[4] wird seine Haltung wie folgt dargestellt: „Wegen der Bedeutungslosigkeit der NPD hält Jesse einen Parteiverbotsantrag für unzweckmäßig. Gleichwohl sieht er ein Verbot dieser aggressiv-verfassungsfeindlichen Partei als rechtmäßig an.“ In einem Interview äußerte er sich skeptisch zu der Wirkung eines NPD-Verbots: „Wozu alle Versuche geführt haben, die NPD mundtot zu machen und zu verbieten, haben wir ja in der Vergangenheit gesehen. Sie gibt es immer noch, und sie konnte sogar nach Jahrzehnten in einen deutschen Landtag einziehen.“[5] Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung kritisierte die Bestellung Jesses zum Gutachter, da dieser durch Bagatellisierung von Rechtsextremismus aufgefallen sei.[6] Dabei ist nach Jesses Ansicht „die Verfassungsfeindlichkeit der NPD ... ja eindeutig gegeben“. Er sieht jedoch in dem möglichen Scheitern eines (neuen) Verbotsverfahren die Gefahr, die NPD könne dann „den Eindruck erwecken, sie hätte einen demokratischen Persil-Schein“ und äußerte auch grundsätzliche Bedenken gegen Parteienverbote, die den Bürgern den Eindruck vermitteln könnten, „man werde auf andere Weise mit der Partei nicht fertig“.[7]

Kontroversen

Jesses Extremismusforschung sowie sein Totalitarismusbegriff werden von einigen Historikern und Politikwissenschaftlern wie zum Beispiel Richard Stöss abgelehnt, weil eine Gleichsetzung von Linksextremismus und Rechtsextremismus im Begriff des „Totalitarismus“ sich nicht für eine differenzierende Analyse eigne und gravierende Unterschiede zwischen diesen beiden Phänomenen, insbesondere die originär anti-demokratische Haltung rechter Ideologien, verschleiere.[8] Jesse selbst beschreibt den Ansatz unter anderem wie folgt:

„Die Extremismustheorie geht davon aus, dass die Rechts- und die Linksextremisten einerseits weit voneinander entfernt, und andererseits dicht benachbart sind, wie die Enden eines Hufeisens. Es gibt Feindbilder, die sich decken, etwa gegen Amerika, gegen die Globalisierung, gegen den Kapitalismus. Es gibt aber auch Feindbilder, die völlig unterschiedlich sind, auf der einen Seite die Fremden, und auf der anderen Seite etwa der Staat, der bekämpft wird.“[9]

Der vergleichend angelegte Extremismusbegriff erlaubt es nach Jesses Ansicht, verschiedene anti-demokratische Strömungen politischer und religiöser Ausrichtungen zu erfassen, ohne diese gleichzusetzen.[10]

Jesse unterstütze nach der Landtagswahl in Hessen 2008 die Entscheidung seine ehemaligen Doktorandin Carmen Everts, bei der geplanten Wahl zur Ministerpräsidentin nicht für Andrea Ypsilanti und eine durch Die Linke tolerierte Minderheitsregierung nach dem Magdeburger Modell zu stimmen. Die Linke weise „extremistische Züge“ auf, die kaum noch thematisiert würden.[11] Er unterstützt, im Gegensatz zu Benno Hafeneger und anderen, die Bestrebungen von Ministerin Kristina Schröder, Präventionsprogramme gegen linken Extremismus und Islamismus zu etablieren, Deutschland habe „ein Problem mit Rechts- und mit Linksextremismus“.[12]

Kritik löste die These aus, der Nationalsozialismus habe in Deutschland einen „Modernisierungsschub“ bewirkt, wie sie in dem Sammelband Schatten der Vergangenheit von Backes und Jesse vertreten wird. Jesse vertritt hier, Antisemitismus und Rechtsextremismus seien „mehr Phantom als Realität“. Die Ursache für die Aufmerksamkeit in Bezug auf dieses „Phantom“ sieht Jesse unter anderem in der „vielfach privilegierte(n) jüdische(n) Position“[13] in Deutschland: „Jüdische Organisationen brauchen Antisemitismus in einer gewissen Größenordnung, um für ihre Anliegen Gehör zu finden und ihre legitimen Interessen besser zur Geltung zu bringen.“[14] Andere Autoren des Sammelbandes forderten, Deutschland solle aus dem „Schatten der Vergangenheit“ heraustreten.

Der Politikwissenschaftler und Antisemitismusforscher Lars Rensmann verortet in seiner 2004 erschienenen, umstrittenen[15] Studie Demokratie und Judenbild Jesse und seinen Koautor Uwe Backes im Umkreis der Neuen Rechten. Rensmann kritisiert einige Ideologeme Jesses, befindet aber auch, Jesse habe wenig Berührungsängste mit dem zur Neuen Rechten zugeordneten Hans-Helmuth Knütter gehabt, ohne dass sich jener allerdings so weit nach rechts wie Knütter bewegt hätte.[16]

Auch Wolfgang Wippermann ging in einer grundsätzlichen Kritik am totalitarismustheoretischen Ansatz von Jesse so weit, ihn in die Nähe der Neuen Rechten zu rücken.[17]

Veröffentlichungen (Auswahl)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Uwe Backes, Eckhard Jesse (Hrsg.): Jahrbuch Extremismus & Demokratie. ISSN 0938-0256 (Diverse Bände seit 1989; erscheint jährlich).
  2. Holocaust-Leugner aus Prinzip?. Bundeszentrale für politische Bildung, Mai 2008
  3. Patronen für Professoren - Politikwissenschaftler erhalten Post mit 8-Millimeter-Projektilen. In: Freie Presse. 1. April 2011, abgerufen am 5. September 2011.
  4. Alexander Friebel: Chemnitzer Politologe unterstützt Bundesverfassungsgericht. Website der TU Chemnitz, 11. Januar 2002
  5. „Die NPD schadet sich selbst“. In: Die Welt, 25. Januar 2005.
  6. Heribert Prantl: Bundesverfassungsgericht macht Bock zum Gärtner. In: Süddeutsche Zeitung, 6. Februar 2002.
  7. Thorsten Denkler: Forderung nach NPD-Verbot: „Trauriges Zeichen der Hilflosigkeit“. In: Süddeutsche Zeitung, 14. November 2006, abgerufen am 19. April 2011 (Interview mit Eckhard Jesse).
  8. Richard Stöss: Die extreme Rechte in der Bundesrepublik. Entwicklung – Ursachen – Gegenmaßnahmen. Westdeutscher Verlag, Opladen 1989, ISBN 3-531-12124-3, S. 18f.
  9. Autonome Nationalisten – Wenn der Schwarze Block braun wird. In: 3sat online, 4. Mai 2009.
  10. Eckhard Jesse im Interview: Der Extremismusbegriff ist der Gegenbegriff zum Demokratiebegriff. In: Endstation Rechts, 24. April 2009.
  11. Der Zweck heiligt nicht die Mittel. In: Tagesspiegel, 10. November 2008.
  12. Linksextremismus - Mit Bildung gegen Bambule. In: Spiegel online, 25. Mai 2010.
  13. Eckhard Jesse: Philosemitismus, Antisemitismus und Anti-Antisemitismus. In: Uwe Backes, Eckhard Jesse und Rainer Zitelmann (Hrsg.): Die Schatten der Vergangenheit. Ullstein Verlag, Berlin 1990, S. 553.
  14. Eckhard Jesse: Philosemitismus, Antisemitismus und Anti-Antisemitismus. In: Uwe Backes, Eckhard Jesse und Rainer Zitelmann (Hrsg.): Die Schatten der Vergangenheit. Ullstein Verlag, Berlin 1990, S. 546.
  15. Klaus Holz: Besser streiten. Wie eine Analyse des islamistischen und antizionistischen Antisemitismus zur kruden Israelfeindschaft verkehrt wird. In: taz. 6. April 2006, abgerufen am 19. April 2011. Positiv urteilt Martin Ulmer: Rezension zu: Rensmann, Lars: Demokratie und Judenbild. Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden 2004. In: H-Soz-u-Kult, 21. Oktober 2004, abgerufen am 19. April 2011.
  16. Lars Rensmann: Demokratie und Judenbild: Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland. VS, Wiesbaden 2004, ISBN 353114006X, S. 292.
  17. Rainer Benthin: Auf dem Weg in die Mitte: Öffentlichkeitsstrategien der neuen Rechten. Campus Verlag, 2004, S. 32.

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