Egon Krenz

Egon Krenz
Egon Krenz, 1984

Egon Krenz (* 19. März 1937 in Kolberg, Pommern) ist ein ehemaliger deutscher Politiker der SED. Er war im Herbst 1989 für wenige Wochen als Nachfolger Erich Honeckers SED-Generalsekretär und Staatsratsvorsitzender der DDR. Bei der Antrittsrede führte er den Begriff "Wende" in die DDR-Politik ein, der bis heute - vor allem wegen dieses Ursprungs - umstritten ist. Nach der Wiedervereinigung wurde er wegen Totschlags zu sechseinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt und nach knapp 4 Jahren 2003 aus der Haft entlassen.

Inhaltsverzeichnis

Kindheit, Ausbildung und Wehrdienst

Egon Krenz wurde als Sohn eines Schneiders in Kolberg geboren, wo er 1943 eingeschult wurde. 1944 flüchteten seine Eltern mit ihm nach Damgarten. Krenz beendete dort 1953 die Schule. Im selben Jahr wurde er Mitglied der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Egon Krenz brach eine Schlosserlehre im VEB Dieselmotorenwerk Rostock ab, studierte von 1953 bis 1957 am „Diesterweg“-Institut für Lehrerbildung in Putbus auf Rügen und schloss mit dem Staatsexamen ab. Am Lehrerbildungsinstitut war er Sekretär der FDJ-Grundorganisation und ab 1956 auch Mitglied der FDJ-Kreisleitung Rügen. 1955 wurde er in die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) aufgenommen. Von 1957 bis 1959 diente Krenz bei der Nationalen Volksarmee (NVA) in Prora als Unteroffizier und übte FDJ-Funktionen auf Divisionsebene aus. 1958 war er Delegierter der Parteiorganisation der NVA zum V. Parteitag der SED.

Politische Karriere

Aufstieg in Jugendorganisation und Partei

Egon Krenz 1974 im Gespräch mit polnischen Gastarbeiterinnen

Egon Krenz wurde 1959 zuerst 2., dann 1. Kreissekretär der FDJ im Kreis Rügen. Ab 1960 war er 1. Sekretär der Bezirksleitung Rostock der FDJ. 1961 wurde er Sekretär des Zentralrates der FDJ und war verantwortlich für die Arbeit des Jugendverbandes an den Universitäten, Hoch- und Fachschulen. Von 1964 bis 1967 studierte Krenz an der Parteihochschule des Zentralkomitees der KPdSU in Moskau und schloss mit dem Staatsexamen als Diplomgesellschaftswissenschaftler ab. Anschließend (von 1967 bis 1974) war er Sekretär des Zentralrates der FDJ, verantwortlich für Agitation und Propaganda sowie für die Arbeit der FDJ an den Schulen. Gleichzeitig arbeitete er von 8. Februar 1971 bis 9. Januar 1974 als Vorsitzender der Pionierorganisation „Ernst Thälmann“. Von 1974 bis 1983 hatte er als Erster Sekretär des Zentralrates der FDJ die höchste Funktion in der einzigen legalen Jugendorganisation der DDR inne.

Von 1971 bis 1990 war Egon Krenz Abgeordneter der Volkskammer der DDR, von 1971 bis 1981 war er außerdem Mitglied ihres Präsidiums. 1973 wurde Egon Krenz Mitglied des Zentralkomitees (ZK) der SED. Von 1981 bis 1984 war Krenz Mitglied des Staatsrates der DDR. 1983 wurde er zum Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der SED gewählt. Mit der Ernennung zum Stellvertreter des Vorsitzenden des Staatsrates wurde Krenz 1984 zum zweiten Mann hinter Erich Honecker.

Wendezeit

Egon Krenz, Vorsitzender des Staatsrates und des Nationalen Verteidigungsrates der DDR und Mitglieder des Staatsrates bei der ersten Sitzung nach der 10. Volkskammertagung am 24. Oktober 1989
Egon Krenz und Wolfgang Herger (vorn) am Runden Tisch, 22. Januar 1990

Krenz war im Mai 1989 als Leiter der Zentralen Wahlkommission für die Ergebnisfälschungen bei der Kommunalwahl mit verantwortlich. Zur blutigen Niederschlagung des Studentenaufstandes auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking äußerte er am 8. Juni 1989 in der Aktuellen Kamera „Verständnis und Beifall für diese Art des ‚Umgangs‘ mit dem politischen Gegner“.[1]

Die Furcht vor einer „Chinesichen Lösung“ musste sich in der DDR noch verschärfen, als Krenz während der Anfänge der revolutionären Entwicklungen am 1. Oktober 1989 zum 40. Jahrestag der Gründung der VR China dorthin reiste. Danach setzte er sich jedoch als verantwortlicher ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen und Wortführer innerhalb der jüngeren Kräfte in der SED-Parteiführung für eine friedliche Reaktion der Sicherheitskräfte bei den Montagsdemonstrationen ein. Allerdings verbot erst der Befehl 9/89, den Krenz am 13. Oktober gemeinsam mit dem stellvertretenden Verteidigungsminister Streletz an Honecker vorbei formulierte[2], den Gebrauch von Schusswaffen bei Demonstrationen. Zuvor war die Nationale Volksarmee für den 6. bis 9. Oktober in „erhöhte Gefechtsbereitschaft“ versetzt worden. Zu den für alles Weitere entscheidenden Leipziger Ereignissen am 9. Oktober unterscheiden sich Darstellung des Egon Krenz und die Angaben im Artikel „Friedliche Revolution (Leipzig)“ erheblich. Während ersterer mit Bezug auf sich selbst schreibt, dass die „Weichen für die Zurückhaltung der Einsatzkräfte … in Berlin gestellt“ worden seien,[3] waren deren Leiter, der Polizeipräsident und der SED-Bezirksleitungschef von Leipzig, während der Demonstration mit der Entscheidung zum letztendlichen Rückzug der bewaffneten Kräfte „nach unbeantworteten Telefonaten nach Berlin“ auf sich selbst gestellt.

Was auch immer vorher in Berlin als umorientierende „Weichenstellung“ gelaufen sein mag,[4] war offenbar nicht bis zur Basis der NVA „durchgestellt“ worden. Noch am Nachmittag wurde MG-Schützen bei Befehlsverweigerung mit Militärgericht gedroht.[5]

Trotz des desolaten Gesundheitszustandes und der Wirklichkeitsvergessenheit Honeckers, die große Gefahren in sich barg, wurde ihm erst Mitte Oktober 1989 durch das Politbüro der Rücktritt nahegelegt. Am 18. Oktober wurde der „Kronprinz“,[6] Krenz sein Nachfolger als Generalsekretär des ZK der SED. In der Antrittsrede verwendete Krenz erstmals DDR-offiziell den Wende-Begriff[7] Dabei war die Stabilisierung der SED-Herrschaft als Ziel klar vorgegeben:

„Mit der heutigen Tagung werden wir eine Wende einleiten, werden wir vor allem die politische und ideologische Offensive wieder erlangen.[8][9]

Krenz wurde am 24. Oktober 1989 außerdem Vorsitzender des Staatsrates und des Nationalen Verteidigungsrates der DDR. Er verließ mit seiner Frau und seinem Sohn die Wohnsiedlung für die Mitglieder des SED-Politbüros Waldsiedlung Wandlitz bei Berlin und wollte „damit ein Signal setzen“.[10]

Für den 1. November folgte er einer Einladung Gorbatschows nach Moskau. Dazu heißt es in dem Buch „Endspiel“:[11] „Egon Krenz heizte die Stimmung am 1. November nochmals an. Auf einer Pressekonferenz in Moskau … sagte er, alles was sich in den letzten Tagen und Wochen positiv entwickelt habe, sei das Ergebnis von Politbüro und ZK der SED.“ Jedoch bezeichnete er dies in seinem Buch von 1990[12] als einen „Fehler“:

„ Ich hatte davon gesprochen, dass ‚meine Partei eine Wende eingeleitet hat‘. Ich wollte dabei aber sagen, dass ‚wir in der Partei eine Wende eingeleitet hatten‘. So verstanden viele: Die Wende durch das Volk hatte es gar nicht gegeben. Die hatte allein die Partei ‚ganz oben‘ gemacht. Das hatte ich natürlich nicht gemeint, und dieser Ausrutscher tat mir leid.“

Diese reuige Darstellung ist wenig bekannt. In seinem Jahre später publizierten tagebuchartigen Bericht[13] stehen 15 Seiten zum 1. November, auf denen die Pressekonferenz (bei 100 Minuten Direktübertragung durch das DDR-Fernsehen) mit keinem Wort erwähnt ist. - Am 3. November unterzeichnete Krenz den Befehl 11/89 im Hinblick auf die für Berlin angekündigte Großdemonstration am Folgetag. Darin hieß es:

„Die Anwendung der Schusswaffe im Zusammenhang mit möglichen Demonstrationen ist grundsätzlich verboten.“

Nach dem Mauerfall am 9. November, der dem 1990-er Buch von Krenz den Haupttitel geliefert hat,[14] nahm die Unsicherheit seines Agierens erheblich zu. Bei einer Tagung des „Demokratischen Blocks“ am 11. November zur Vorbereitung des Kabinetts Modrow traf er erstmals mit dem neuen CDU-Vorsitzenden und späteren Ministerpräsidenten Lothar de Maizière zusammen.[15] Seine vorformulierte „kleine Presseerklärung“ zur Tagung charakterisierte dieser als „Hofberichterstattung alten Stils“ und schlug gekürzte Titulierungen vor mit „Herr Generalsekretär Krenz“ ohne Staats- und Verteidigungsrat usw. Dazu Krenz mit Papier und Stift: „Können Sie mir das noch einmal sagen.“[16]


Am 29. November versuchte er in alter Zuversicht auf den Zug des Aufrufs „Für unser Land“ aufzuspringen[17][18] Dieser enthielt das Plädoyer für eine Art (sozial-) demokratischen Sozialismus in einer eigenständigen DDR, die schon wegen des massiven Wirtschaftsgefälles zur BRD bei offenen Grenzen keine Chance mehr hatte. Die Endauswertung im Januar 1990 ergab dennoch mehr als 1,1 Millionen zustimmende Unterzeichnungen,[19] und ohne die abschreckend wirkende Krenz-Unterschrift wären es noch mehr gewesen. Allerdings ist dieser Einfluss schwer gegen die Auswirkungen der massiven Unterstützung durch den alten Partei- und Staatsapparat[20] abzuwägen.

Am 3. Dezember 1989 trat das Politbüro des ZK der SED (einschließlich Egon Krenz) nach massiven Protesten auch aus der Basis dieser Partei geschlossen zurück. Krenz gab am 6. Dezember den Vorsitz des Staatsrates ab. Im Januar 1990 legte er sein Volkskammermandat nieder und wurde aus der (inzwischen umbenannten) SED-PDS (unter Gregor Gysi) ausgeschlossen.

Mit dieser Aussage endet sein bereits zitiertes Buch[21] aus dem gleichen Jahr, das die „Friedliche Revolution“ im Titel enthält. Dieser Begriff wurde sonst gegenüber seiner „Wende“ eher von SED-Opponenten bevorzugt.[22]

„Friedliche Revolution“ und „Wende“

In einer Schulbuch-Expertise für die "Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ von 2004 gibt es die Abschnittsüberschrift:

„'Friedliche Revolution' oder 'Wende'?“

Die gewünschte Antwort „Friedliche Revolution in der DDR“ ist jedoch bereits im Titel dieser Expertise[23] vorweggenommen. Mit ihr würde für viele Schüler in den damals revolutionären Landesteilen die Gefahr entstehen, dass sie – wie es in DDR oft war - in der Schule ein anderes Vokabular benutzen müssen als zu Hause, wo sie “nach der Wende“ leben. Dort wird der einprägsame Zweisilbler zumeist bevorzugt, ohne dass damit Egon Krenz und seiner Einführung dieses Begriffs gehuldigt werden soll.

Als eine solche Huldigung und als ihre eigene Brüskierung empfinden aber viele ehemalige Bürgerrechtler, die als Macher der Revolution Kopf und Kragen riskiert haben, diesen Sprachgebrauch. Sicherlich trägt er auch zum Vergessen des Sturzes der Diktatur bei. So heisst es in einer Buch-Rezension der FAZ von 2005[24]: "Um so rätselhafter und erschütternder ist es, dass diese Tat im gesamten deutschen Geschichtsbewusstsein kaum einen Platz hat, so, als hätte es sie nie gegeben."[25]

Sehr grundsätzlich hat sich der Pfarrer, Bürgerrechtler und spätere DDR-Abrüstungsminister Rainer Eppelmann zu diesen Problemen geäußert. Er ist Mitautor einer Analyse unter dem Motto Sind wir die Fans von Egon Krenz? Dort[26] heißt es zur Bezeichnung „Wende“  : „Ihr Gebrauch deutet … darauf hin, dass die ostdeutsche Revolution fundamental missverstanden wird.“ In diesem Sinne wendet er sich auch gegen den dazu im Duden enthaltenen Eintrag.

Eine interessante Sicht auf den Wende-Begriff "von außen" im 20. Jahr nach dem Mauerfall bietet ein Artikel aus den Niederlanden.[27] Danach "fällt auf, dass die Ereignisse von 1989/90 in den Niederlanden, jetzt, anders als noch vor 10 Jahren, wesentlich ausführlicher erörtert werden. Dabei werden sie nicht länger mit dem Euphemismus ‚Wende‘ etikettiert, sondern von allen Berichterstattern – nicht nur von Christen und Kirchenvertretern, sondern auch professionellen Historikern – einhellig als „friedliche Revolution“ charakterisiert."[28]


Auch deutsche Geschichtswissenschaftler sehen den Wende-Begriff als durch Krenz und die Bestrebungen seiner Partei zum Machterhalt als belastet an. Dabei werden praktikable Unterscheidungsmerkmale zur Friedlichen Revolution bereitgestellt[29] Diese führte mit der anschließenden Transformation zur Deutschen Wiedervereinigung. Nicht selten wird die Friedliche Revolution als auf den Herbst 1989 beschränkt angesehen.[30] Als weitere revolutionäre Ereignisse können die Besetzungen der Stasi-Dienststellen, zuletzt am 15. Januar 1990 in der Berliner Normannenstraße, hinzugenommen werden. Äußerstenfalls kann die Auflösung der "Runden Tische" vor den Kommunalwahlen im darauf folgenden Mai als Beginn der nachrevolutionären Transformation gelten.


Im englischen Wikipedia-Artikel Peaceful Revolution wird dafür das Ende der Demonstrationen "eventuell" erst im März, um die Zeit der letzten Volkskammerwahl, angesetzt. Ein separater Artikel Die Wende enthält weitere, anschließende Prozesse und Ereignisse bis zur Wiedervereinigung. Diese wird auch – neben dem Mauerfall – als Bezugszeitpunkt für die deutsche Phrase "Seit der Wende" angegeben. Das entspricht dem am Anfang dieses Abschnitts für deutsche Schüler und ihr Lebensumfeld geschilderten Sprachgebrauch.

Da nicht nur Schüler „außerordentlich resistent gegen Umakzentuierungen sind“[31] und die Bezeichnung „Wende“ mit ihrer verführerischen Kürze und Beliebigkeit umgangssprachlich dominiert, empfiehlt sich eine flexible, der englischen Wikipedia entsprechende Rahmengebung. Dabei wird die „Wende“ ohne Rücksicht auf ihre anfängliche Bedeutung, die als überholt gelten kann,[32] zum umfassenderen Begriff für den Gesamtablauf bis zur Wiedervereinigung:

Wende   =  Friedliche Revolution  +  Transformation (bis 3. Oktober 1990)

Das Gleichheitzszeichen bedeutet zunächst nur Gleichheit der jeweills veranschlagten Zeiträume und nicht ohne Weiteres Identität im Sinne von Ununterscheidbarkeit. Man kann die beiden Seiten auch als Alternative auffassen und sich für „links“ oder „rechts“ entscheiden.

Will man hingegen Wende und Friedliche Revolution als Synonyme betrachten, so hat man die nachrevolutionäre Transformation wegzulassen. Ein Beispiel dafür enthält der Artikel Revolutionen im Jahr 1989: „Die friedliche Revolution in der DDR endete in der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990.“


Für eine kürzere „Wendezeit“ kann man, wenn man den zeitlichen Anschluss an die Wiedervereinigung wahren möchte, die Formel auf der linken Seite durch eine „Nachwende-Transformation“ ergänzen. Beispielsweise gilt das für die Angabe im Duden: „Die Wende (Geschichte; der große politische und gesellschaftliche Umbruch des Jahres 1989 in der DDR: nach, seit, vor der Wende).“ Auf den Herbst 1989 bezieht sich auch Lothar de Maizière, wendet sich aber nachdrücklich dagegen, dass mit der Bezeichnung ‚Wende‘ „ein Begriff von Krenz aufgegriffen wird, statt sie als das zu bezeichnen was sie wirklich war, nämlich die Zeit einer friedlichen Revolution.“[33] - Nicht nur ein gleicher Zeitraum für beide Abläufe, und zwar bis zur letzten Volkskammerwahl im März 1990, sondern auch Synonymität wird im Artikel „Wende (DDR)“ nahegelegt.[34]


In der "Zeitschrift für historisch-politische Bildung" heißt es unter der Überschrift „Diskurs der Geschichtswissenschaft“ zum Anlass „Zwanzig Jahre Friedliche Revolution“, dies sei „Zeitgeschichte, die noch qualmt.“ Damit hängt zusammen, dass man von einem Konsens über die nachhaltigste Schöpfung des Egon Krenz, den Begriff der Wende in der DDR, nicht nur hinsichtlich des Zeitraums, sondern vor allem auch inhaltlich weit entfernt ist. Um so wichtiger ist die angemessene Einordung der Friedlichen Revolution, der sogar Krenz zumindest im Rückblick[35] ihren Platz zubilligte. Im gesamtdeutschen Rahmen ist sein Name allerdings durch die im nächsten Abschnitt geschilderten Vorgänge sicherlich bekannter geworden.

Verurteilung und Haft

Nach 1991 wurde Egon Krenz als Zeuge in verschiedenen Strafverfahren gegen frühere Repräsentanten der DDR vernommen. 1992 bestritt er, in seiner Funktion als oberster Wahlleiter der DDR die systematischen Wahlfälschungen bemerkt zu haben. Dem widerspricht allerdings eine frühere Aussage Krenz auf der 12. ZK-Tagung der SED im Dezember 1989. Dort sagte er über die Kommunalwahlen im Mai:

„Selbstverständlich ist mir klar und bewußt, auch aus heutiger Sicht, daß das erzielte Wahlergebnis mit der tatsächlichen politischen Situation im Lande weder damals noch heute übereingestimmt hat. Es gab aber keine andere Möglichkeit, ein anderes Wahlergebnis bekanntzugeben, weil es so entsprechend den Protokollen, die auch in den Kreisen existieren, zusammengestellt worden ist. Würden wir jetzt, wie das einige vorschlagen, diese Frage neu aufrollen, Genossinnen und Genossen, ich habe die Furcht, dann räumen wir nicht nur Positionen, die wir noch besitzen, dann können wir ganz nach Hause gehen. Ich bitte, das nicht zu Protokoll zu nehmen.[36]

Krenz im Jahr 2007

1993 stritt er die Verantwortung der früheren Mitglieder des DDR-Verteidigungsrates für die Verhältnisse an der innerdeutschen Grenze ab. Ab 1993 ermittelte die Staatsanwaltschaft gegen Krenz wegen des Waffengebrauchs der DDR-Grenztruppen gegen Flüchtlinge (Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze) und Anstiftung zur Wahlfälschung.

Die Berliner Staatsanwaltschaft erhob im Juni 1993 Anklage wegen „Totschlags und Mitverantwortung für das Grenzregime der DDR“. Egon Krenz bezeichnete die Anklage wegen der Todesfälle als „verfassungs- und völkerrechtswidrig“. Es kam zum sogenannten Politbüroprozess. Auch im Februar 1996 sprach er der bundesdeutschen Justiz das Recht ab, über frühere Bürger der DDR zu Gericht zu sitzen. Im Juni 1997 bedauerte Krenz vor Gericht einerseits die Opfer an der innerdeutsche Grenze, wies jedoch andererseits seine Verantwortung zurück. Im August verurteilte eine große Strafkammer des Landgerichts Berlin Egon Krenz wegen Totschlags in vier Fällen zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten. Aufgrund einer Haftbeschwerde kam er jedoch im September nach 18 Tagen aus der Haft frei. Im November wurde das Verfahren wegen Wahlfälschung gegen ihn eingestellt.

Im November 1999 verwarf der Bundesgerichtshof die Revision gegen das Urteil von 1997, das damit rechtskräftig wurde. Egon Krenz bezeichnete das Urteil als „Kalten Krieg im Gerichtssaal“. Seine Verfassungsbeschwerde wurde vom Bundesverfassungsgericht am 11. Januar 2000 zurückgewiesen. Seine Haftstrafe musste er am 13. Januar in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Hakenfelde antreten. Am 24. Januar wurde Egon Krenz in die Justizvollzugsanstalt Plötzensee verlegt. Am 22. März 2001 verwarf der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einstimmig die von Krenz eingelegte Menschenrechtsbeschwerde.[37]

Am 18. Dezember 2003 wurde Krenz – nach Verbüßung von nicht ganz vier Jahren – auf Grund eines Beschlusses des Kammergerichts vorzeitig aus der Haft entlassen, der Rest der Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Er war schon länger Freigänger im offenen Vollzug und musste nur noch nachts in die Haftanstalt. Tagsüber war Krenz am Flughafen Berlin-Tegel bei der Germania Fluggesellschaft beschäftigt, für die er ausrangierte Flugzeuge nach Russland verkaufen sollte.
Als 2007, zehn Jahre nach der ersten Publizierung in Mattias Judts „DDR-Geschichte in Dokumenten“, der Schießbefehl an Angehörige einer Spezialeinheit des Ministeriums für Staatssicherheit innerhalb der Grenztruppen, die „die Bewachung der Bewacher“ zu übernehmen hatten, erneut in den Medien publiziert wurde („Zögern Sie nicht mit der Anwendung der Schusswaffe, auch dann nicht, wenn die Grenzdurchbrüche mit Frauen und Kindern erfolgen, was sich die Verräter schon oft zunutze gemacht haben.“[38]), bestritt Krenz erneut ausdrücklich die Existenz der „Schießbefehle“: „Es hat einen Tötungsbefehl, oder wie Sie es nennen ‚Schießbefehl‘, nicht gegeben. Das weiß ich nicht aus Akten, das weiß ich aus eigenem Erleben. So ein Befehl hätte den Gesetzen der DDR auch widersprochen.“[39]

Seit seiner Haftentlassung wohnt er im mecklenburgischen Ostseebad Dierhagen.

Weitere Aktivitäten

Zum 125. Geburtstag Ernst Thälmanns am 16. April 2011 in Hamburg war Egon Krenz Ehrengast und hielt eine Rede vor den knapp 100 überwiegend kommunistischen Gästen. Darin würdigte er die Leistungen Thälmanns und beklagte gleichzeitig, dass dessen Verdienste heute nicht mehr gewürdigt werden. Zur untergegangenen DDR meint er, dass er nicht die deutsche Einheit „an sich“ kritisiere, sondern die Art und Weise ihres Zustandekommens und sagte „Auch ich schaue mit Zorn auf die Verbrechen, die unter falscher Flagge im Namen des Kommunismus verübt wurden.“, wurde dabei aber nicht konkreter.[40]

Veröffentlichungen

  • Die Aufgaben der FDJ-Grundorganisationen an den Oberschulen. Berlin 1972
  • Zur Jugendpolitik der SED. Auf dem Weg zum XI. Parteitag der SED. Berlin 1985
  • Rede auf der 9. Tagung des ZK der SED, 18. Oktober 1989. (in: Beginn der Wende und Erneuerung. Dietz Verlag Berlin 1989, ISBN 3-320-01539-7)
  • Das Wohl des Volkes ist unser elementarer Leitsatz. Erklärung des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR vom 24. Oktober 1989 vor der Volkskammer der DDR. Staatsverlag der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1989, ISBN 3-329-00688-9
  • Wenn Mauern fallen. Die friedliche Revolution. Vorgeschichte – Ablauf – Auswirkungen. Unter Mitarbeit von Hartmut König und Gunter Rettner. Paul Neff Verlag, Wien 1990, ISBN 3-7014-0301-5
  • Widerworte. Aus Briefen und Zeugnissen 1990 bis 2005. edition ost, Berlin 2006, ISBN 978-3-360-01071-1
  • Exklusivinterview mit Genossen Egon Krenz. Wir stehen fest an der Seite Kubas. (in: RotFuchs, Ausgabe vom März 2007)
  • Herbst '89. Mit einem aktuellen Text. edition ost, Berlin 2009, ISBN 978-3-360-01806-9
  • Gefängnis-Notizen. edition ost, Berlin 2009, ISBN 3-360-01801-X
  • Deutsche Jubiläen und Lehren der Geschichte. (in: STOPP NATO! 60 Jahre Nato. 60 Jahre Bedrohung des Friedens. Verlag Wiljo Heinen, Berlin 2009, ISBN 978-3-939828-38-9)

Literatur

Weblinks

 Commons: Egon Krenz – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
 Wikiquote: Egon Krenz – Zitate

Anmerkungen und Einzelnachweise

  1. Zitiert aus dem Internet-Lexikon „DDR-Wissen“ unter Stichwort „Chinesische Lösung“. Dieser Fernsehauftritt war für die gespannt auf eine Stellungnahme wartenden DDR-Bürger unvergesslich, weil äußerst beängstigend.
  2. Frank Schirrmacher: Wo ist Egon Krenz? Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. November 2009
  3. E. Krenz 1990, S. 138.
  4. Krenz 2009, „Der 9. Oktober“: S. 129–137 und 204f. Im vorangestellten „aktuellen Text“ dieser Auflage wird dazu auf S. 8 seine 1990-er Sicht auf die eigenen Aktivitäten bekräftigt, wobei er die Deutungshoheit für die Ereignisse 20 Jahre später wieder stärker beansprucht.
  5. Roland Mey, Der Schießbefehl am 9. Oktober 1989. Onlineshop-Angebot mit Inhaltsangabe, Osiris Online-Verlag, 2011.
  6. Krenz 2009, S. 172.
  7. Krenz 2009, S. 164: Es deutet nichts darauf hin, dass bei der Wahl dieses Begriffs in der vorangegangenen Nacht dessen Verwendung auf dem „Spiegel“-Cover zwei Tage zuvor oder im Aufruf der oppositionellen Vereinigten Linken vom 4. September 1989 eine Rolle gespielt hat. Eher könnte sein Gebrauch in der BRD anregend gewirkt haben, wo er Anfang der 1980er Jahre von Helmut Kohl in den Wahlkampf gegen die SPD eingeführt wurde.
  8. Neues Deutschland vom 19.10.1989.
  9. Krenz 2009. Dort wird auf S. 179 zur TV-Wiederholung dieser Rede ein Sender-Versehen bei der Anrede der DDR-Bürger als „Liebe Genossinnen und Genossen“ vermutet, die ihm im Volk sehr verübelt wurde.
  10. Krenz 1990, S. 235.
  11. Kowalczuk 2009, S. 447.
  12. Krenz 1990, S. 150f. und S. 223.
  13. Krenz, zuerst 1999. Der 2009 vorangestellte „aktuelle Text“ liest sich wie eine Rücknahme der 1990-er Einsichten.
  14. Krenz 1990.
  15. Krenz 2009, S. 325f.
  16. de Maizière 2010, S. 88–90: Er habe ihm dann seinen Text diktiert und von einem Nachbarn zugeflüstert bekommen: „Sehen Sie, so wird aus einem Generalsekretär ein Sekretär.“
  17. Krenz 1990, S. 238–240.
  18. Neues Deutschland, 30. November 1989.
  19. Im Mai 1989 gab es demgegenüber in der DDR 12,5 Millionen Wahlbererechtigte: Kowalczuk 2009, S. 329.
  20. Kowalczuk 2009, S. 484-486.
  21. Krenz 1990, S. 246. Laut S. 198 wurden „die Druckmaschinen … bis zum Morgen nach der Wahlnacht“ am 19. März 1990 angehalten für den dann geschriebenen, niedergeschlagenen Kommentar zum unerwarteten Ergebnis.
  22. Eine Ausnahme, die der Überschrift dieses Abschnitts entspricht, ist die Samisdat-Serie "Wendezeit", die von der oppositionellen Berliner Samaritergemeinde verbreitet wurde.
  23. Carsten Schröder: Expertise Die Darstellung der friedlichen Revolution in der DDR im Schulbuch. Berlin 2004.
  24. Online-Rezension zu Christoph Links u. a.: Das wunderbare Jahr der Anarchie. Von der Kraft des zivilen Ungehorsams 1989/90. Ch. Links Verlag, Berlin 2004.
  25. Das steht unter der Schlagzeile „Auch auf dem Lande“, die sich u. a. auf einen Demonstrationsaufruf aus Arnstadt bezieht. Dieser wurde 4 Wochen vor der „Wende“-Verkündung des Egon Krenz von einem Volkspolizisten-Sohn und gelernten Fleischer geschrieben. Er hat ihn allein verteilt, und am 30. September 1989 befolgten ihn 200 Bürger, ohne dass die völlig überrumpelte Staatsmacht einschritt. – Gegenüber diesem Beispiel eines jugendlichen Einzelkämpfers fällt die generell sehr geringe Beteiligung von Studierenden an der Friedlichen Revolution auf: Kowalczuk 2011, S. 365.
  26. Eppelmann und Grünbaum 2004, S. 867.
  27. Beatrice de Graaf: Die friedliche Revolution - Mauerfall und deutsche Geschichtsschreibung aus niederländischer Sicht. In: Kerzen - Kirche - Kontroversen. Die Rolle der evangelischen Kirche 1989/1990 in der Zeitgeschichtsschreibung. Texte einer Tagung in der Ev. Akademie Thueringen, Neudietendorf, 6.-7.11.2009. Evangelischer Pressedienst, Nr. 11. Frankfurt (Main) 2010, S. 27–32.
  28. Weiter unten heißt es im Artikel: “Zu keinem anderen Land unterhielten die niederländischen Protestanten so viele Beziehungen“ wie zur DDR, wofür die „Rolle der Kirche im Sozialismus … ein wichtiger Beweggrund“ war. Auch ging der im vorigen Abschnitt erwähnte Aufruf „Für unser Land“ vom 26. November 1989 auf den Anstoß des niederländischen Theologen Dick Boer zurück: Herbst der Utopie.
  29. Handro 2009, S. 9–12.
  30. In den im Artikel „Wende (DDR)“ angegebenen Buchtiteln mit „Revolution“ und Jahresangabe lautet diese etwa bei der Hälfte „1989“ und beim Rest „1989/90“.
  31. Handro 2009, S. 11.
  32. Daher erübrigen sich auch Ausführungen zum Beginn der Wendezeit.
  33. de Maizière 2010, S. 52.
  34. Laut Anfang des Konzepts von 2009 für eine Überarbeitung des Artikels haben zur Wahl des Endes der Wendezeit „nicht zuletzt pragmatische Überlegungen einer sinnvollen Gesamtkoordination mit dem Lemma Deutsche Wiedervereinigung beigetragen“, also Wikipedia-interne Aspekte.
  35. Krenz 1990.
  36. Zitiert nach: Hans-Hermann Hertle/Gerd-Rüdiger Stephan (Hrsg.): Das Ende der SED. Die letzten Tage des Zentralkomitees. Ch. Links Verlag, Berlin 1997, ISBN 3-86153-143-7, S. 465f.
  37. Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 22. März 2001
  38. Die brutale Wahrheit über die DDR BILD, 13. August 2007
  39. „Auf, auf zum Kampf...“ - Geburtstagsfeier für Ernst Thälmann in Hamburg; Neues Deutschland vom 18. April 2011.

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