Eigenanamnese

Eigenanamnese

Im Rahmen der Anamnese (von griech. ανάμνησις anamnêsis „Erinnerung“) wird die Vorgeschichte eines Patienten in Bezug auf seine aktuellen Beschwerden erhoben. Die biographische Anamnese ist darüber hinaus erweitert auf die gesamte Lebensgeschichte des Patienten. Eine sorgfältige Anamneseerhebung schließt biologische, psychische und soziale Aspekte mit ein. Die dabei erhaltenen Einzelinformationen erlauben oftmals Rückschlüsse auf Risikofaktoren und kausale Zusammenhänge. Ein therapeutisches Anliegen ist damit nicht direkt verbunden, wenngleich bereits allein das Reden über die Probleme eine heilsame bzw. klärende Wirkung haben kann. Die Anamnese wird im Regelfall vor der medizinischen Untersuchung erhoben, muss jedoch in Notfällen, die eine sofortige Behandlung verlangen, auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden.

Ziel der Anamnese ist die größtmögliche Einschränkung der in Frage kommenden Differenzialdiagnosen, vorzugsweise anhand von Leitsymptomen und Ausschlusskriterien. Um eine definitive Diagnose stellen zu können, sind im Anschluss daran meist noch weiterführende Untersuchungen notwendig.

Inhaltsverzeichnis

Inhalte

Die Inhalte einer Anamneseerhebung unterscheiden sich je nach Lage des Falles zum Teil erheblich, die grundsätzlichen Bestandteile sind dennoch immer die gleichen:

  • Es werden aktuelle und vergangene körperlichen Beschwerden und vorangegangene Behandlungen inklusive Medikamenteneinnahmen, aber auch sonstige Besonderheiten wie körperliche Belastungen während der Arbeit oder in der Freizeit, Ernährungsgewohnheiten, Auslandsaufenthalte und weitere Dinge erfragt, die Hinweise auf die somatischen Hintergründe der aktuellen Problematik liefern könnten.
  • Ein weiterer wesentlicher Bestandteil der Anamnese sind Fragen nach dem psychischen Befinden. Stimmungsänderungen und -schwankungen, eine gestörte Wahrnehmung der Umgebung oder auch der eigenen Person und andere Abweichungen vom Normalzustand können Hinweise auf psychische, aber auch auf körperliche Erkrankungen sein. Besonders bei chronisch Erkrankten ist auch die Einstellung zu und der Umgang mit den Beeinträchtigungen ein wesentlicher Faktor für den weiteren Verlauf.
  • Ebenfalls eng mit dem Wohlbefinden verknüpft sind die sozialen Umstände, in denen ein Patient lebt. Ob ein Patient sein Umfeld als belastend empfindet oder ob er die gewünschte Unterstützung erfährt, kann sowohl eine mögliche Ursache darstellen als auch einen Ansatzpunkt für die Therapie bieten. Für die einzelnen Faktoren, die darauf Einfluss nehmen, gilt dies in gleichem Maße.

Formen

Je nachdem, wer der Befragte ist und wonach er befragt wird, werden verschiedene Formen der Anamnese unterschieden.

Eigenanamnese

Die Eigenanamnese ist die Befragung des Patienten nach seiner eigenen Krankengeschichte. Der Betroffene schildert seine persönliche Wahrnehmung der Situation, was Vor- und Nachteile hat: Der Patient selbst ist der Einzige, der wissen kann, was in ihm vorgeht, weshalb seine Aussagen unersetzlich sind. Andererseits sind Selbstauskünfte meist sehr subjektiv und geprägt von Vorstellungen darüber, wie Dinge sein sollen, selbst wenn diese Vorstellungen völlig unrealistisch sind. Die Aussagen eines Patienten über sich selbst sind daher nur solange vertrauenswürdig, wie keine triftigen Gründe dafür vorliegen, an den Darstellungen zu zweifeln.

Familienanamnese

Zur Krankengeschichte des Patienten gehört auch die Familienanamnese, bei der Informationen über die Verwandten eines Patienten eingeholt werden. Besonders wesentlich sind diese Informationen im Hinblick auf möglicherweise vorliegende Erbkrankheiten, beziehungsweise Anfälligkeiten für bestimmte Erkrankungen, wie sie beispielsweise das gehäufte Auftreten von Tumoren, Allergien, Infektionskrankheiten, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder psychischen Störungen nahelegen.

Fremdanamnese

Die Fremdanamnese entsteht im Gegensatz zur Eigenanamnese aus der Befragung von Personen aus dem Umfeld eines Patienten. Sie kann wichtige Zusatzinformationen zutage fördern, da Außenstehenden oftmals Dinge auffallen, die der Patient selbst nicht sehen kann oder nicht sehen will. Bei Personen, die sich nicht ausreichend verständigen können, ist sie oft einziges Mittel, um Informationen zur Krankengeschichte zu erhalten. Beispiele dafür sind kleine Kinder, alte Menschen, bewusstseinsgestörte, geistig verwirrte und durch eine ausgeprägte Tiefgreifende Entwicklungsstörung beeinträchtigte Patienten. Von entscheidender Bedeutung ist die Fremdanamnese zudem bezüglich Informationen, die der Patient selbst nicht wahrnehmen kann, weil sie beispielsweise nur während des Schlafs auftreten.

Sozialanamnese

Die "Sozialanamnese" dient der Erfassung der sozialen Strukturen des Patienten. Sie beinhaltet unter anderem den Familienstatus, Beruf sowie die Religionszugehörigkeit.

Anamnese im Rettungsdienst

Auch im Rettungsdienst gehört eine umfassende Anamnese zur Arbeit am Patienten. Weit verbreitet ist im präklinischen Bereich das sogenannte „SAMPLE-Schema“:

S Symptome, Schmerzen

Beginn der Beschwerden / Schmerzen, Lokalisation, Verlauf / Dauer, Einflüsse, die zur Verschlimmerung / Verschlechterung führen, Art / Qualität der Schmerzen, Ausprägung / Stärke

A Allergien

ggf. Allergiepass vorhanden, wichtig vor der Gabe von Notfallmedikamenten!

M Medikamente

Dauermedikation → Rückschluss auf Grunderkrankung, Ausschluss von Komplikationen mit Notfallmedikamenten

P Patientenvorgeschichte

Vorerkrankungen (z.B. Bluthochdruck, Diabetes Mellitus, Herzrhythmusstörungen, etc.) Ggf. liegt Patientenausweis vor (z.B. bei Schrittmacherpatienten)

L Letzte ... Mahlzeit, Stuhlgang, Abfuhr, Regel, KH-Aufenthalt etc.

Was? Wie viel? Fest? Flüssig?

E Ereignis - Was ist neu? Was ist passiert? etc.

Ereignisse, die zum Notfall / Unfall geführt haben, z.B. Unfallmechanismus oder Tätigkeit kurz vor Eintritt von Beschwerden, Begleitumstände

Geschichte der Anamneseerhebung

Im Corpus Hippocraticum kommt der Begriff Anamnese[1] nicht vor. Der hippokratische Arzt befragt den Patienten nicht systematisch, sondern nur sporadisch, die Krankengeschichte dient nicht der Diagnose, sondern der Prognose. Das erste Werk, das sich ausschließlich mit der Befragung des Kranken befasst, stammt von Rufus von Ephesos.[2]

Im Mittelalter spielt die Anamnese keine Rolle als Mittel zum Stellen einer Diagnose oder Prognose[3], erst Rhazes verwendet den Begriff wieder wie Rufus, er beklagt, dass Ärzte Kenntnisse benutzen, die sie von Dritten über den Patienten erlangt haben, um ihn mit vermeintlicher ärztlicher Erkenntnis zu verblüffen[4]. Erst Montanus fordert, der Arzt müsse „...mit dem Kranken selbst sprechen“, um alles zu erfahren „was für die Erkennung der Krankheit wichtig ist“, womit erstmals die Anamneseerhebung in den Zusammenhang der Diagnosestellung rückt.

Die Erhebung einer Krankheits- und Krankengeschichte wird erst im 17. und 18. Jahrhundert zu einem festen und geforderten Bestandteil der Diagnosestellung. Capivaccio[5] und Possevinus schreiben erste Monographien, mit denen die Anamnese zur gezielten Anamnese wird.

Boerhaave stellt in seinen Krankengeschichten die chronologisch geordnete biographische Anamnese vor den Untersuchungsbefund.[6] Für Stahl und seine Anhänger ist die Anamnese eine Art Beichte, da „der Mensch für seine Sünden irgendwann krank wird“. Die Anamnese wird im ausgehenden Barock der Pathologie zugeordnet. Unwichtig ist, ob die Vorgeschichte durch Fragen oder anamnestischen Zeichen und Symptomen erkannt wird.[7] In Diderots Encyclopédie gehören die anamnestischen Zeichen zur Semiotik, gleichrangig mit den diagnostischen und prognostischen Zeichen.[8] In der deutschen Literatur aus dem Zeitalter der Aufklärung gibt es Schriften zur Praktik des „Krankenexamens“, wobei Anamnese und kathartische Selbstdarstellung des Patienten sowie der aktuelle Status des Patienten noch miteinander verbunden sind.[9]

Schoenlein und Wunderlich fordern im Gegensatz dazu, die subjektive Anamnese vom objektiven Befund zu trennen, wobei der Befund zur Diagnosestellung wichtiger sei.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Robert Herrlinger: Anamnese, in Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Stuttgart/Basel 1971, Band 1, S. 262f.
  2. ιατρικἁ εροτἐματα, hg. Gärtner, bes. §2, S. 25. Zitiert nach Herrlinger
  3. O. Temkin: Studien zum „Sinn“-Begriff in der Med. Kyklos, Jb Inst. Gesch. Med. Leipzig 2 (1929) 48f. Zitiert nach Herrlinger
  4. J. Steudel: Zur Gesch. der A. Ciba Symp. 5 (1958) 183. Zitiert nach Herrlinger
  5. G. C. Cappivaccio: Opera omnia quinque sectionibus comprehensa, hg. J. H. Bayer (1603). Zitiert nach Herrlinger
  6. H. Boerhaave: Aphorismi de cognoscendis et curandis morbis (Rotterdam 1737). Zitiert nach Herrlinger
  7. Temkin, a. a. O. 57. Zitiert nach Herrlinger
  8. Bd. 31, «signe». Zitiert nach Herrlinger
  9. G. Müller: Die Fragen des Arztes an den Kranken (Diss. med. Kiel 1967) Zitiert nach Herrlinger

Weblinks


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