Einsturz des Sampoong-Gebäudes

Einsturz des Sampoong-Gebäudes

Der Einsturz des „Sampoong“-Gebäudes am 29. Juni 1995 im Stadtbezirk Seocho-gu in Seoul war die bislang schwerste von Menschen zu verantwortende Katastrophe in Südkorea. Der Nordflügel des Bauwerks, in dem das „Sampoong“-Warenhaus die größte Fläche belegte, fiel binnen Sekunden zusammen. 501 Menschen starben bei der Katastrophe, 937 trugen – teils schwere – Verletzungen davon und sechs Personen wurden letztlich als vermisst registriert. Als Ursachen des Einsturzes wurden in späteren Untersuchungen das Verwenden ungeeigneter Baustoffe, vorsätzliches Missachten von Bauvorschriften und fehlerhafte Baukonstruktion herausgefunden. Begünstigt wurde der Einsturz mittelbar durch nachlässige Kontrollen der behördlichen Bauaufsicht und Bestechlichkeit von Beamten.

Inhaltsverzeichnis

Vorgeschichte

Die „Sampoong“-Gruppe fing im Jahr 1987 an, ein etwa einen Quadratkilometer großes Gelände zu bebauen, das zuvor als Müllkippe genutzt worden war. Ursprünglich sollte ein vier oberirdische Geschosse umfassender Bürokomplex entstehen. Doch der Firmenvorsitzende und spätere Eigentümer Lee Jun änderte in der Planungsphase sein Vorhaben zugunsten eines Einkaufszentrums. Einige tragende Pfeiler des Bauwerks fielen deswegen dem Einbau von Fahrtreppen zum Opfer. Als sich die beauftragte Fremdfirma weigerte, diese Änderungen zu realisieren, wurde ihr der Bauauftrag entzogen. Lee Jun ließ die Gebäude von seiner eigenen Baufirma errichten, die damit gegen Ende 1989 fertig war. Der Gebäudekomplex bestand aus einem Nord- und einem Südflügel, mit einem Atrium in der Mitte. In den vier Untergeschossen befanden sich Parkmöglichkeiten für Autos und Technikräume. Im Südflügel wurden Sport- und Freizeiteinrichtungen konzentriert, das Einkaufscenter im Nordflügel. Das luxuriöse „Sampoong“-Warenhaus öffnete am 7. Juli 1990 seine Türen für die Öffentlichkeit und stieß auf eine große Kundenresonanz. Pro Tag erledigten dort geschätzt etwa 40.000 Menschen aus dem umliegenden wohlhabenden Stadtviertel ihre Einkäufe.

Das vierstöckige Bauwerk wurde einige Monate später um eine fünfte Etage aufgestockt, in der acht Restaurants Platz finden sollten. Als ein Konstruktionsbüro darauf hinwies, dass die Statik ein weiteres Stockwerk nicht vertrage, wurde es von Lee durch Auftragsvergabe an ein anderes Unternehmen ausgebootet. In den Restaurants sollte wie in traditionellen koreanischen Restaurants den Gästen das Sitzen auf dem Boden möglich sein. Deshalb wurde auf die Betonplatte zusätzlich ein – die Last erhöhender – Fußboden gegossen, in dem heißes Wasser durch Rohrleitungen zirkulieren konnte. Ergänzend wurde die Gebäudeklimatisierung verbessert. Auf dem Dach wurde eine Anlage installiert, die jedoch das Vierfache seines berechneten Belastungslimits ausmachte.

Vorzeichen und Einsturz

Im April 1995 zeigten sich in der Decke der fünften Etage im Nordflügel Risse. Lee und sein Management reagierten darauf mit dem Verlagern von Verkäufen und Geschäften aus dieser Etage ins Untergeschoss. Einige Tage vor dem Einsturz musste ein kleines Leck in einer Gasleitung abgedichtet werden. Eine Restaurantkundin wurde kurz darauf unerwartet durch eine geborstene Wasserleitung in der Decke völlig durchnässt.[1] Am Morgen des 29. Juni 1995, einem Donnerstag, hatte die Zahl der Risse im fünften Stock dramatisch zugenommen. Beschäftigte informierten die Warenhausleitung über verzogene Decken und bröckelnden Putz im Restaurant-Stockwerk. Fünf Stunden vor dem Einsturz war das erste von mehreren Knallgeräuschen aus den oberen Etagen zu hören, weil die Vibrationen der Klimaanlage die Risse in den Bodenplatten weiter vergrößert hatten. Als die Klimaanlage ausgeschaltet wurde, hatten sich die Risse in den Stockwerken bereits auf bis zu 10 cm Länge erweitert. Das Management schloss die Etage und ließ die Klimaanlage abstellen. Baufachleute wurden gebeten, sich das Ganze anzusehen und kamen nach oberflächlicher Betrachtung zur Meinung, dass Einsturzgefahr herrsche. Die Warenhausleitung wollte in einer Krisensitzung jedoch weder das Haus schließen noch eine Evakuierungsorder herausgeben, weil die Kundenanzahl im Gebäude ungewöhnlich hoch war und somit das Umsatzpotenzial des Tages verloren gehen würde. Die Führungskräfte selbst verließen vorsichtshalber ihre Räumlichkeiten. Mitarbeitern oder Kunden wurde nichts zur Gefahrenlage gesagt.

Als sich um 17:00 Uhr (Ortszeit) die Decke des vierten Stocks absenkte, blockierten Warenhausmitarbeiter den Zugang von Kunden zur Etage. Es herrschte Haupteinkaufszeit. Als um 17:50 Uhr Knackgeräusche im Gebäude zu hören waren, wurde von Mitarbeitern Alarm ausgelöst und die Kunden zur Räumung des Gebäudes aufgefordert. Dort hielten sich zu jenem Zeitpunkt geschätzt bis zu zweitausend Menschen auf. Gegen 17:55 Uhr gab das Dach nach und die Geräte der Klimaanlage krachten auf den bereits überlasteten fünften Stock. Es folgte eine Kettenreaktion. Die herabstürzende Last konnte die jeweils darunter liegende Etage nicht halten, weil die tragenden Betonpfeiler durch den Einbau der Rolltreppen in ihrer Wirkung geschwächt waren. Innerhalb von 20 Sekunden war das Absacken aller Etagen in die Untergeschosse vorüber, weit über 1.500 Menschen im Trümmerfeld eingeschlossen sowie Hunderte getötet. Der angerichtete Sachschaden wurde hinterher auf umgerechnet 216 Millionen US-Dollar geschätzt.

Aus den Trümmern qualmte giftiger Rauch. Wie sich zeigen sollte, waren Brände durch auslaufendes Benzin aus den Tanks der plattgedrückten, in der Tiefgarage geparkten, Autos entstanden. Viele der Einsturzopfer waren weiblich. Zum einen waren sie als Angestellte im Einkaufszentrum beschäftigt, zum anderen waren es Hausfrauen, die in der Lebensmittelabteilung im Untergeschoss, die am späten Nachmittag ermäßigte Preise anbot, Besorgungen machten.[2]

Rettungsmaßnahmen

Die ersten Rettungskräfte waren bereits einige Minuten nach dem Desaster an der Unglücksstelle. Der Abtransport von Verletzten oder Geschockten in die Krankenhäuser war mitten im Berufsverkehr schwierig. Rettungshubschrauber flogen Einsätze. Das Heranführen von Kränen und schwerem Räumungsgerät an den Ort des Geschehens erfolgte am Tag darauf. Etwa 3.000 Helfer – Polizisten, Feuerwehrleute und Soldaten – durchsuchten tagelang den Trümmerhaufen. Es beteiligten sich ferner Hunderte von Freiwilligen, von denen die Polizei 17 wegen Plünderungen festnahm.[3] Die im Land stationierte United States Army half mit einem Rettungsteam, das Verschüttete orten sollte. Die Rettungsmannschaft eines Bergwerks wurde in die südkoreanische Hauptstadt geholt, um ihr Fachwissen zur Bergung einzubringen. Weil weitere Gebäudeteile einzustürzen drohten und die Retter dadurch selbst in Gefahr schwebten, kündigten die Behörden an, Bergungsmaßnahmen einzustellen . Das löste einen massiven Proteststurm der Freunde und Verwandten von Opfern aus, die weitere Überlebende in den Trümmern vermuteten. Daraufhin wurde erst der latent einsturzgefährdete Bauteil gesichert und danach mit weiteren Rettungsaktionen weitergemacht. Nach einer Woche wurde der Schwerpunkt auf die Trümmerbeseitigung mit Hilfe von bis zu 15 Kränen und mehreren Gabelstaplern gelegt, wobei die Mannschaften aber sorgfältig auf das Bergen von Menschen achteten.

Zwei Tage nach dem Einsturz hatte sich bei einigen Beamten die Meinung verfestigt, dass die im Gebäude weilenden Personen inzwischen bereits gestorben seien und weitere Anstrengungen deshalb nicht mehr dem Rettungsaspekt zu gelten hätten. Überlebende wurden jedoch noch mehrere Tage nach dem Gebäudeeinsturz mit nur wenigen Kratzern aus Hohlräumen geborgen. Am 9. Juli wurde ein 21-jähriger Student, am 11. Juli eine 18-jährige Frau und als letzte Überlebende am 16. Juli eine 19-jährige Warenhausangestellte aus den Trümmern gerettet.[4]

Ursachenforschung

Erste Mutmaßungen nach dem Unglück richteten sich auf eine Gasexplosion, zumal sich zwei solche in der Stadt zuvor zugetragen hatten. Einige spekulierten über einen von Nordkorea ausgehenden Terroranschlag. Andere vermuteten die Ursache im instabilen Gelände, auf dem der Gebäudekomplex stand. Trümmeruntersuchungen förderten indessen rasch zu Tage, dass eine minderwertige Betonmischung aus Zement und Meerwasser sowie schlechter Stahlbeton in Decken und Wänden eine Rolle gespielt hatte.

Später stellte sich ferner die angewandte Bautechnik als weiterer Schwachpunkt heraus. Es wurde teilweise darauf verzichtet, die Betonpfeiler durch Querbalken, auf denen die Betondecke ruhen konnte, in ihrer Stabilität zu unterstützen. Die Betonsäulen waren den Plänen gemäß nur mit 60 cm Durchmesser statt der geforderten 80 cm erbaut. Den Beton verstärkende Bewehrungseisen wurden nur acht anstelle der verlangten 16 eingefügt, was die Tragfähigkeit auf die Hälfte verringerte. Was ironischerweise schließlich ebenfalls zum Einsturz mit beitrug, war die nachträgliche Installation von Sicherheitsvorkehrungen. Um das Ausbreiten eines möglichen Brandes von Etage zu Etage zu verhindern, wurden um alle Rolltreppen im Warenhaus Schutzwände gezogen. Zu diesem Zweck schnitten die Bauleute in die Betonstützen ein, was deren Durchmesser verringerte. Die Last der Betonplatte drückte schwer, was schließlich Risse in der Decke auslöste.

Alle diese Faktoren, einschließlich des Aufsetzens des fünften Stockwerks mit seinen Restaurants und deren Ausstattung, führten in ihrer Summe zum Gebäudekollaps. Obwohl die ursprüngliche Statik der Bauplanung um die Hälfte reduziert war, hielt das Gebäude fünf Jahre. Was es letztlich kollabieren ließ, war eine Verlagerung der drei Klimaanlagen-Einheiten auf dem Dach. Im Jahr 1993 hatten sich Nachbarn über deren Lärm beschwert. Das Gebäudemanagement ließ die Geräte auf die Ostseite verlagern. Dabei wurde jedoch kein Kran eingesetzt, sondern die schweren Geräte auf Rollen über das Dach an ihren neuen Platz gezogen, was die Gebäudeoberfläche destabilisierte.

Risse bildeten sich in der Bodenplatte des Daches und tragende Pfeiler wurden durch die Last kräftig niedergedrückt. Die Säule „5e“ erlitt einen Schadenvolltreffer, was zur Bildung der Risse im fünften Stockwerk führte. Ein weiteres Problem der Klimaanlage war deren Vibrieren, wie aus Berichten der Überlebenden bekannt ist. Wurde die Klimatisierung in diesen zwei Jahren eingeschaltet, vergrößerten sich jedes Mal vorhandene Risse. Obwohl am Katastrophentag die Anlage abgestellt wurde, war es bereits zu spät. Das Bauwerk hatte schon irreparable Schäden erlitten, Säule „5e“ gab nach.

Strafrechtliche Würdigung

Der 73-jährige Lee Jun wurde im Strafverfahren grober Fahrlässigkeit und der Bestechung für schuldig befunden und vor Gericht zu zehneinhalb Jahren Haft verurteilt. Sein Sohn, der 42-jährige Warenhauschef Lee Han Sang erhielt sieben Jahre Haft aus gleichem Grund. Zwölf mit der Bauüberwachung befasste städtische Beamte wurden wegen Bestechlichkeit, dem Dulden und Verheimlichen illegaler Änderungen und schlechter Gebäudekonstruktion schuldig gesprochen.[5] Wegen ihrer Mitschuld erhielten sie, einschließlich eines früheren Verwalters des Seocho-gu-Bezirks, ebenfalls Freiheitsstrafen. Weiter wurde eine Reihe von Führungskräften des „Sampoong“-Warenhauses und der für die Fertigstellung des Gebäudes verantwortlichen Baufirma verurteilt.

Weitere Folgen

Die Katastrophe ließ bei vielen Skepsis und Befürchtungen wachsen, ob nicht auch andere Bauprojekte im Lande mangelhaft sein könnten. Südkorea hatte in den 1980er und 1990er Jahren einen Bauboom während seines Wirtschaftsaufschwungs erlebt. Der Gebäudeeinsturz war ein weiterer Mosaikstein in einer Katastrophenserie, die mit dem Einsturz der Seongsu-Brücke am 21. Oktober 1994 (32 Tote) und zwei Gasexplosionen in Seoul (zusammen 113 Tote) viele an sicherer Bauweise zweifeln ließ. Die Behörden überprüften nach dem „Sampoong“-Vorfall ihre Sicherheitsvorschriften und verschärften die Bauüberwachung. Ferner gab die aufgedeckte Korruption Anlass zu weiteren Maßnahmen.

Sonstiges

  • Die Katastrophe wird als Hintergrundereignis im südkoreanischen Film „Traces of love“ aufgearbeitet.[6]
  • Das Grundstück des „Sampoong“-Warenhauses wurde in den Jahren danach wieder bebaut. Im „Seoul Citizen’s forest“ erinnert ein Mahnmal an die Opfer der Katastrophe.[7]
  • In der Dokumentationsreihe Seconds From Disaster des National Geographic Channel befasst sich die Folge "Superstore Collaps - Lebendig begraben – Die Katastrophe von Seoul" eingehend mit der Katastrophe.

Literatur

  • Ali Farazmand; Handbook of crisis and emergency management; New York, 2001. ISBN 0-8247-0422-3 Seite 507–514

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Handbook of Crisis and Emergency Management S. 507
  2. „New York Times“ vom 30. Juni 1995
  3. „Gazet van Antwerpen“ vom 1. Juli 1995
  4. „Die Welt“ vom 17. Juli 1995
  5. „Die Welt“ vom 28. Dezember 1995
  6. http://www.pride-of-korea.de/filme/uebersicht/Traces-of-Love.html
  7. http://www.nuku.de/archives/2007/03/13/die-sampoong-katastrophe.html
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