Eselsbegräbnis

Eselsbegräbnis

Unter einem Eselsbegräbnis (lat.: sepultura asini) verstand man im Mittelalter und in der frühen Neuzeit die unehrenhafte Beisetzung eines gesellschaftlichen Außenseiters, meistens eines Selbstmörders. Der Begriff leitet sich von Jer 22,19 LUT ab: „Er [der Verfluchte, Jojakim, König von Juda] soll wie ein Esel begraben werden, fortgeschleift und hinausgeworfen vor die Tore Jerusalems.“

Inhaltsverzeichnis

Mittelalterliche Beurteilung des Selbstmörders

Nach mittelalterlicher kirchlicher Auffassung war der Selbstmord eine der schlimmsten Sünden, die ein Mensch begehen konnte, weil er damit dokumentiere, dass er nicht an die Gnade und Güte Gottes geglaubt habe.

Unter den Christen des Mittelalters und der frühen Neuzeit war die Selbsttötung ein Vergehen, das nicht nur dem Seelenheil des betreffenden Menschen größten Schaden zufügte, sondern auch für die Gemeinschaft Unheil bedeutete. Ein Suizid brachte nach einem verbreiteten Volksglauben unweigerlich Hagelschlag, Stürme und Dürre über ein Dorf, und der tote Selbstmörder stieg in der Nacht als Wiedergänger aus seinem Grab, um die Lebenden zu quälen, mit Krankheiten zu infizieren und sie zu sich ins Totenreich zu holen. Wer mit der Leiche eines Selbstmörders in Berührung kam, wurde unrein und lief Gefahr, selbst zum Geächteten innerhalb der dörflichen oder städtischen Gemeinschaft zu werden.

Deshalb wurde der Leichnam eines Menschen, der sich erhängt hatte, meistens vom Abdecker oder Wasenmeister oder sogar vom Henker abgeschnitten und durch ein Fenster, die Hintertür oder die Dachluke ins Freie geschafft, aber auf keinen Fall durch die Vordertür, die nur „ehrlich“ verstorbenen Menschen vorbehalten war. Andernfalls konnte der Tote den Weg zurück ins Haus finden und den Lebenden Schaden zufügen. Zuweilen wurden sogar Löcher in die Außenwand geschlagen, die man nach dem Wegschaffen der Selbstmörderleiche wieder vermauerte, um dem schädigenden Wiedergänger die Rückkehr zu erschweren.

Der Körper eines Menschen, der sich ertränkt hatte, durfte nur mit Stangen, Haken und Netzen aus dem Fluss geholt werden.

Die Behandlung der Selbstmörderleiche

Im Mittelalter wurde der tote Selbstmörder wie ein Krimineller einem regulären Gerichtsverfahren unterzogen, bei dem festgestellt werden musste, ob sich dieser Mensch das Leben genommen hatte, um sich einer anderen Strafe zu entziehen, oder ob er aus Verzweiflung (Todsünde) gehandelt hatte oder aus „Melancholie“, d. h. unter dem Einfluss von Depressionen, oder auf Verführung durch den Teufel hin. In den beiden letztgenannten Fällen konnten der Familie wenigstens die Enteignung ihres Vermögens und die Wüstung, d. h. die Zerstörung des Hauses, erspart werden. Auf jeden Fall wurde die Leiche wie der Körper eines lebenden Verbrechers zum Schandanger geschleift und dort „hingerichtet“, und oft ging dem Aufhängen oder der Enthauptung das Rädern voraus, bei dem alle Gliedmaßen zerschmettert wurden. Diese Maßnahme sollte den Toten daran hindern, in voller Körperlichkeit dem Grab zu entsteigen und Rache an den Lebenden zu nehmen. Deshalb war es auch nicht unüblich, den Leichnam zu fesseln oder mit einem langen Weißdornpfahl zu durchbohren und so in seinem Grab festzubannen. Auch eine Schicht aus Dornen, die über den Toten gestreut wurde, konnte diesen Zweck erfüllen. Auf jeden Fall durften beim Begräbnis keine christlichen Zeremonien vollzogen werden. Der Tote wurde wie ein verendetes Tier – eben wie ein Esel – verscharrt. Oft fesselte man die Leiche zusätzlich mit dem Galgenstrick und drehte sie mit dem Gesicht nach unten, damit die schädigenden Kräfte, die in ihr steckten, ins Innere der Erde abgeleitet wurden. War der Selbstmörder geköpft worden, wurde der Kopf meistens an einer anderen Stelle beigesetzt oder dem Leichnam zwischen die Beine bzw. an die Füße gelegt. Daher werden wiederkehrende Selbstmörder in den westeuropäischen Volksüberlieferungen oft als kopflose Reiter oder kopflose Wiedergänger geschildert. Frauen, die ihr Neugeborenes getötet und sich dann selbst das Leben genommen hatten, gingen im Rheinland oft als „kopflose Juffer“ um.

Wenn der Leichnam nicht an einer Wegkreuzung oder auf dem Hinrichtungsplatz verscharrt oder noch besser in einem Sumpf oder Moor versenkt wurde, konnte man ihn auch in ein Fass stecken und in einen Fluss werfen. Eine solche Maßnahme wurde als „Rinnen“ bezeichnet und sollte den sündigen und daher potentiell schädigenden Körper möglichst weit weg von seinen bisherigen Mitmenschen fortschaffen. Diese und andere entehrenden Maßnahmen unterblieben nur dann, wenn sich glaubwürdige Zeugen fanden, die vor Gericht unter Eid bestätigten, dass der Selbstmörder vor seinem Tod noch Reue über seine Tat gezeigt habe.

Die Behandlung der Selbstmörderleiche in der Neuzeit

Seit dem 16. Jahrhundert wurde die postmortale Hinrichtung nicht mehr vollzogen. In England und Schottland war es allerdings bis 1824 dem Friedensrichter freigestellt, ob er den Leichnam mit einem Pfahl durchbohren und hinter einem Pferd zu einer als Begräbnisstätte geeigneten Stelle außerhalb des bewohnten Ortes schleifen lassen wollte. Üblich wurde nun das eigentliche Eselsbegräbnis, d. h. die Beisetzung des Selbstmörders ohne jede kirchliche Zeremonie (Beten, Singen, Glockenläuten, Segnung des Grabes, Leichenpredigt etc.) und meistens auch ohne Anwesenheit eines Priesters oder anderer Gemeindemitglieder. Die Beisetzung erfolgte vor Sonnenaufgang oder nach Sonnenuntergang und wurde durch den Henker oder den Totengräber vollzogen, der durch seine berufliche Tätigkeit ebenfalls den Status eines Außenseiters innehatte. In den meisten Gegenden Westeuropas wurde das Verscharren des Selbstmörders außerhalb des Friedhofs zwar verboten, aber dennoch war die Beisetzung mit allerlei diskriminierenden Riten verbunden. In Frankreich beispielsweise wurde der Sarg nicht durch die Friedhofspforte getragen, sondern über die Mauer gehoben, wobei er mehrfach gedreht wurde, als wollte man den Selbstmörder verwirren und so an seiner Wiederkehr hindern.

Doch nicht überall wurde die Beisetzung eines Selbstmörders auf dem Friedhof von der Bevölkerung akzeptiert. Aus der frühen Neuzeit sind Fälle bekannt, in denen die Obrigkeit die ordnungsgemäße Beisetzung mit Waffengewalt gegen die aufgebrachten Dorfbewohner durchsetzen musste. Als Konzession an die Glaubensvorstellungen der Untertanen wurde aber meistens gestattet, dass der Tote nicht in geweihter Erde neben den „guten Christen“ begraben wurde, sondern seine Ruhestätte an der Friedhofsmauer fand, oft an der Nordseite, die traditionell als unheimlich und dämonisch betrachtet wurde. Hier wurden auch die totgeborenen und ungetauften Kleinkinder beigesetzt, die nach christlicher Überzeugung noch mit der Erbsünde behaftet waren und zu früh gestorben waren, um in die Gemeinschaft der Christen aufgenommen zu werden. (Zur Auffassung vom Seelenheil dieser Kinder s. Limbus).

Fortleben alter Vorstellungen im 20. Jahrhundert

Diskriminierende Formen der Behandlung von Selbstmörderleichen haben sich bis ins 20. Jahrhundert gerettet. Häufig wurde das Grab mit einem niedrigen Eisengitter eingezäunt, oder man rammte an den vier Ecken einen Eisenpfahl ins Erdreich. Diese Bräuche erinnern an die einst weit verbreitete Angst, der Selbstmörder könne in der Nacht als Wiedergänger aus seinem Grab zurückkehren und müsse durch bannendes Metall festgehalten werden. In den mittelenglischen Cotswolds pflegte man noch vor dem 1. Weltkrieg einem Selbstmörder – wie auch anderen Toten, deren Wiederkehr zu befürchten war – eine lange Stopfnadel auf die Brust zu legen oder sie in den Fuß zu drücken, bevor die Leiche in den Sarg gehoben wurde.

Literatur

  • Emile Durkheim: Der Selbstmord. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1983, ISBN 3-518-28031-7 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 431).
  • Paul Geiger: Die Behandlung der Selbstmörder im deutschen Brauch. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde. 26, 1925, ISSN 0036-794x, S. 145–170.
  • Dieter Feucht: Grube und Pfahl. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Hinrichtungsbräuche. Mohr, Tübingen 1967 (Juristische Studien 5, ISSN 0449-4369), (Zugleich: Tübingen, Univ., Jur. Fak. Diss.).
  • Bettina Hunger: Das Selbstmörderbegräbnis. Von der magischen Austreibung zur Psychologie. 1995 (Geschichte und Geschichten aus dem Baselbiet).
  • Craig M. Koslofsky: The Reformation of the Dead. Death and Ritual in Early Modern Germany, 1450–1750. Palgrave, New York NY u. a. 2000, ISBN 0-333-66685-2 (Early modern History).
  • Nikolaus Kyll: Die Bestattung der Toten mit dem Gesicht nach unten. In: Trierer Zeitschrift für Kunst und Geschichte des Trierer Landes und seiner Nachbargebiete. 27, 1964, ISSN 0041-2953, S. 168–183.
  • Mary Lindemann: Armen- und Eselbegräbnis in der europäischen Frühneuzeit, eine Methode sozialer Kontrolle. In: Paul Richard Blum (Hrsg.): Studien zur Thematik des Todes im 16. Jahrhundert. Herzog-August-Bibliothek, Wolfenbüttel 1983, ISBN 3-88373-035-1, S. 125–139 (Wolfenbütteler Forschungen 22).
  • Georges Minois: Geschichte des Selbstmords. Artemis & Winkler, Düsseldorf u. a. 1996, ISBN 3-538-07041-5.
  • Gabriela Signori (Hrsg.): Trauer, Verzweiflung und Anfechtung. Selbstmord und Selbstmordversuche in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften. Edition diskord, Tübingen 1994, ISBN 3-89295-581-6 (Forum Psychohistorie 2).

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