Ethnische Säuberungen

Ethnische Säuberungen

Ethnische Säuberung ist eine beschönigende Bezeichnung für die Vertreibung, erzwungene Überführung oder auch Ermordung Angehöriger „unerwünschter“ Völker aus ihrem angestammten Siedlungsgebiet aufgrund kultureller (insbesondere sprachlicher oder religiöser) Unterschiede. Entgegen der Wortbedeutung von Ethnie werden aber in der Regel Vertreibungen, die wegen „rassischer“ Merkmale durchgeführt werden, ebenfalls unter ethnische Säuberung gefasst. Der Begriff wurde wegen seines Zynismus' zum Unwort des Jahres 1992 gewählt. Problematisch ist er vor allem wegen seiner Suggestion von „Sauberkeit“, welche automatisch einen Eindruck von „Schmutzigkeit“ gemischter Gesellschaften erzeugt. Heute hat der Begriff „ethnische Säuberung“ sogar Eingang als international übliche Bezeichnung für die Vertreibung von Völkern gefunden.

Hintergrund ethnischer Säuberungen sind oft strategische oder weltanschauliche Erwägungen. Im 20. Jahrhundert geht es vor allem um die Herstellung eines „völkisch einheitlichen“ Staatsgebietes.

Inhaltsverzeichnis

Herkunft und Verwendung

Wiewohl die Erscheinung älter ist, taucht die Formulierung Anfang der 1990er Jahre im Verlauf der Jugoslawienkriege als Übersetzung aus dem entsprechenden Sprachraum auf.

Obwohl ethnische Säuberungen zu allen Zeiten auftraten (beispielsweise die Babylonische Gefangenschaft der Juden im 6. Jahrhundert v. Chr., die Türkenkriege, die Mehrzahl der Konflikte auf dem Balkan, die Kolonisierung von Nord- und Südamerika), erfolgte im 20. Jahrhundert eine Anzahl ethnischer Säuberungen. Die erste war 1904 die Niederschlagung des Aufstands von ca. 60.000 Herero in Namibia unter der Führung des deutschen Generals von Trotha. Die Vertreibung von schwarzafrikanischen Stämmen ab 2003 während des Darfur-Konflikts im Westen Sudans wurde als größte „ethnische Säuberung“ bezeichnet.

Eine frühe Erwähnung des Begriffes „Säuberung“ als Euphemismus für Kriegsverbrechen findet man bereits im Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht, wo er sich im Besonderen auf Tötungen und „Sühnemaßnahmen“ bezieht, die von der Wehrmacht an jugoslawischen Partisanen, Tschetniks und Zivilisten im ehemaligen Jugoslawiens begangen wurden. Der Begriff wurde im Zusammenhang des Kroatienkrieges, des Bosnienkrieges und des Kosovokrieges um das Adjektiv „ethnisch“ ergänzt und von der Presse – mutmaßlich allerdings als direkte Übersetzung aus dem dortigem Sprachraum – aufgegriffen, um damit vorwiegend die ausgedehnten Vertreibungsaktionen zu charakterisieren und anzuprangern.

Abgrenzung zum Völkermord

Ethnische Säuberung ist nicht unbedingt mit Völkermord gleichzusetzen, kann jedoch Mittel dazu sein: Unterscheidungskriterium ist die Absicht. Während unter Völkermord die absichtliche teilweise oder vollständige Tötung einer ethnischen, religiösen oder nationalen Gruppe verstanden wird, kann das Ziel der Ethnischen Säuberung auch sein eine derartige Gruppe aus einem Gebiet lediglich zu entfernen. Das Spektrum der dabei angewandten Zwangsmaßnahmen reicht von der erzwungenen Ausreise über den so genannten Bevölkerungsaustausch bis hin zur Lagerverschickung (Deportation) und zum Massenmord. Den Massenmord während einer Ethnischen Säuberung unterscheidet im Extremfall vom Völkermord nur das Ziel: Insofern die Vertreibung ein Mittel zum Völkermord sein soll oder faktisch ist, sind die Übergänge entsprechend fließend.

Formen der Gewalt

Raub, Diebstahl und Vergewaltigung sind die Begleitumstände ethnischer Säuberungen. Meist trifft ein bewaffneter Täter auf ein unbewaffnetes Opfer. Die Gewalt wird anders als im Krieg aus nächster Nähe, persönlich und bösartig ausgeübt, um die Menschen aus ihren Häusern zu vertreiben.

Bestrafung Ethnischer Säuberungen

Ethnische Säuberungen erfüllen einige der bei den Nürnberger Prozessen festgelegten Kriterien von Verbrechen gegen die Menschheit. Da es sich bei „Ethnischer Säuberung“ jedoch nicht um einen eindeutigen juristischen, sondern um einen vorwiegend politischen Begriff handelt, erfolgten die Anklagen und Verurteilungen am Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien wegen anders bezeichneter Tatbestände, wie u.a. Verbrechen gegen die Menschheit bei der Vertreibung von über 170.000 Kroaten aus Teilen Kroatiens während des Kroatien-Krieges, der später folgenden Vertreibung von 150.000 bis 200.000 Serben während der Militäroperation Sturm in Kroatien im August 1995, oder im Falle des Verantwortlichen für die Massenerschießungen von Bosniaken in der UN-Schutzzone Srebrenica wegen Völkermord.

Nach § 7 Abs. 1 Nr. 4 Völkerstrafgesetzbuch sind ethnische Säuberungen in Deutschland strafbar.

Eine Art „sanfter ethnischer Säuberungen“ gibt es nicht, so wie sie angeblich zum Beispiel in Südtirol zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg betrieben wurde, da auch dort die Bevölkerung gezwungen wurde, die ihr fremde (in diesem Fall italienische) Kultur anzunehmen oder nach Österreich oder Deutschland auszusiedeln. Jedoch muss nicht jede Vertreibung gleichermaßen grausam ausfallen, um als „ethnische Säuberung“ verstanden zu werden.

Literatur

  • Andreas Hillgruber, Walther Hubatsch, Hans-Adolf Jacobsen, Percy Ernst Schramm (Hrsg. 1996): Das Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht – 1940–1945. 8 Bände, ca. 6.900 Seiten. ISBN 3763759336
  • Maninger, Stephan, „Ethnische Konflikte entlang der Entwicklungsperipherie“ Ordo Inter Nationes, Nr. 6, Juni 1998, Institut für internationale Politik und Völkerrecht, München
  • Mann, Michael: Die dunkle Seite der Demokratie. Eine Theorie der ethnischen Säuberung. Hamburg 2007.ISBN 9783936096750
  • Naimark, Norman M.: Flammender Hass. Ethnische Säuberung im 20. Jahrhundert. Beck, München 2004, ISBN 3406517579
  • Vardy, Stephen Bela: Ethnic Cleansing in Twentieth Century Europe. New York: Columbia Press, 2003
  • Pappe, Ilan: Die ethnische Säuberung Palästinas (The Ethnic Cleansing of Palestine, dt.), Frankfurt/Main (Zweitausendeins) 2007. ISBN 9783861507918.

Siehe auch

Weblinks


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