Fiktion (Recht)

Fiktion (Recht)

Als Fiktion bezeichnet die Rechtswissenschaft die Anordnung des Gesetzes, tatsächliche oder rechtliche Umstände als gegeben zu behandeln, obwohl sie in Wirklichkeit nicht vorliegen. Hierbei kann die Fiktion das genaue Gegenteil der tatsächlichen Umstände als rechtlich verbindlich festlegen. Eine Fiktion kann deshalb im Prozess auch nicht widerlegt oder entkräftet werden, da sie definitionsgemäß vom tatsächlichen Sachverhalt abweicht. Das Wort „gilt“ ist in Gesetzestexten ein Indiz für das Vorliegen einer Fiktion, sie kann sich aber auch in Legaldefinitionen verbergen.

Fiktionen müssen von Vermutungen unterschieden werden. Keine Fiktion liegt insbesondere vor, wenn etwas als verbindlich anzusehen ist, was nur möglicherweise den tatsächlichen Umständen nicht entspricht (lat. Fictio cessat, ubi veritas locum habere potest: „Eine Fiktion scheidet aus, wo die Wahrheit Platz greifen kann“). Dann handelt es sich vielmehr um eine unwiderlegliche gesetzliche Vermutung. Ein Beispiel bildet § 1566 Abs. 2 BGB: „Es wird unwiderlegbar vermutet, dass die Ehe gescheitert ist, wenn die Ehegatten seit drei Jahren getrennt leben.“ Das Gericht wird hier also von der schwierigen Aufgabe befreit, eine Ehe daraufhin zu untersuchen, ob sie gescheitert ist. Tatsächlich wird das auf viele Ehen nach dreijähriger Trennung zutreffen, aber eben nicht notwendigerweise auf alle. Das Gesetz knüpft nicht an eine gegensätzliche Sachlage an, sondern umgekehrt an einen geradezu typischen Sachverhalt.

Die unwiderlegliche gesetzliche Vermutung wird allerdings häufig – ungenau – gleichfalls als Fiktion bezeichnet. Beispielsweise wird der Erbenbesitz nach § 857 BGB zu Unrecht als Fiktion bezeichnet, denn es kann durchaus sein, dass sich der Erbe im Zeitpunkt des Erbfalls im Besitz der vererbten Sache befindet. Auch die Bekanntgabevermutung in § 41 Abs. 2 Satz 1 VwVfG wird regelmäßig zu Unrecht als Fiktion bezeichnet. Denn es ist dem Adressaten des Verwaltungsakts (VA) unbenommen nachzuweisen, dass er den VA gar nicht oder erst nach dem Ablauf des dritten Tages nach der Abgabe des Briefes zur Post erhalten hat.

Inhaltsverzeichnis

Beispiele

Klassisches Beispiel einer Fiktion ist die Regelung der Erbfähigkeit des nasciturus in § 1923 BGB. Nach Absatz 1 der Vorschrift kann nur derjenige erben, der seinerseits zur Zeit des Erbfalls lebt – also derjenige nicht, der schon gestorben oder noch nicht geboren ist. Abweichend hiervon bestimmt dann aber Absatz 2 : „Wer zur Zeit des Erbfalls noch nicht lebte, aber bereits erzeugt war, gilt als vor dem Erbfall geboren.“ Hier wird also dem in Wahrheit vorliegenden Sachverhalt eine Rechtsfolge beigegeben, die einem unwahren Sachverhalt entspricht.

Wie in diesem Fall handelt es sich bei gesetzlichen Fiktionen häufig um bloße Fragen der Regelungstechnik. Es wäre einfach umständlicher etwa wie folgt zu formulieren: „Abweichend von Absatz 1 ist auch derjenige erbfähig, der zur Zeit des Erbfalls gezeugt, aber noch nicht geboren ist, aber nur dann, wenn er später dann auch wirklich lebend geboren wird.“ Bei derartigen Fiktionen erfolgt also die Gleichstellung des realen mit einem fiktiven Sachverhalt deshalb, weil die Anwendung der Rechtsfolgen des fiktiven Sachverhaltes auch für den realen Sachverhalt (oder unabhängig von diesem) als sachgerecht erscheint.

Weiteres Beispiel für eine Fiktion ist § 105a Satz 1 BGB: „Tätigt ein volljähriger Geschäftsunfähiger ein Geschäft des täglichen Lebens, das mit geringwertigen Mitteln bewirkt werden kann, so gilt der von ihm geschlossene Vertrag […] als wirksam, sobald Leistung und Gegenleistung bewirkt sind.“ Ein Geschäftsunfähiger kann zwar an sich keinen wirksamen Vertrag abschließen (vgl. § 104, § 105 BGB). Um aber etwa einem erwachsenen geistig Behinderten (= volljähriger Geschäftsunfähiger) rechtlich zu ermöglichen, Brötchen zu kaufen oder ein Fahrrad für eine Inselrundfahrt zu mieten (= Geschäfte des täglichen Lebens, die mit wenig Geld, also geringwertigen Mitteln bewirkt werden können), stellt die Vorschrift die Fiktion auf, der Vertrag sei wirksam, sobald er von beiden Seiten vollständig erfüllt worden ist.

Eines der häufigsten Beispiele für juristische Fiktion ist die Annahme als Kind. Sobald die Adoption ausgesprochen wurde, erlischt das Verwandtschaftsverhältnis zu einem oder beiden leiblichen Elternteilen, während die Adoptiveltern nun als leibliche Eltern angesehen werden, was durch die Ausstellung einer neuen Geburtsurkunde bekräftigt wird. Da der Rechtsakt natürlich am biologischen Verwandtschaftsverhältnis nichts zu ändern vermag, spricht man in diesem Zusammenhang von juristischer Fiktion.

Entstehungsgeschichte

Das Institut der gesetzlichen Fiktion stammt aus dem römischen Recht. Die Fiktion erfordert einen hohen Abstraktionsgrad (ein Toter wird als lebendig behandelt, ein Lebender als tot) und stellt daher eine bedeutende rechtstechnische Errungenschaft dar.

Es wird vermutet, die Fiktion sei wie viele Rechtsinstitute aus der besonderen Form römischer Religiosität entstanden. Bei Opfern oder Weissagungen kam es nicht auf das religiöse Empfinden der Beteiligten, sondern auf die äußere Form an. Auch kleinere Täuschungen oder Schauspielereien waren deshalb nicht verpönt, wenn und weil die Beteiligten (einschließlich der verehrten Gottheiten) darum wussten: Die offensichtliche Täuschung war im Grunde gar keine.

Dieser Gedanke, die Wirklichkeit könne unbeachtet bleiben, solange nur alle darum wissen, soll zur Entstehung der Fiktion als Rechtsinstitut beigetragen haben. Auch dort wird die Wirklichkeit nicht verbogen, sondern ignoriert, weil sie für die gesetzlich geregelte Frage ohne Bedeutung ist.

Kritik

Juristische Fiktionen werden von verschiedenen Seiten angegriffen. Konkretem Rechtsdenken galten sie als eine wesentliche Ursache für die (behauptete) Lebensfremdheit oder Abstraktheit des Rechts. Hierbei wird der bloß regelungstechnische Charakter vieler Fiktionen verkannt. Das Befremden des rechtlichen Laien über die Fiktion – populäres Beispiel einer angeblich existierenden Vorschrift über Süßwaren: „Auch Osterhasen sind Weihnachtsmänner im Sinne dieses Gesetzes“ – löst bei Fachleuten nur Achselzucken aus: Es wäre einfach unsinnig, für Schokoladenosterhasen ein neues Gesetz zu verabschieden, wenn doch einfach bereits bestehende Vorschriften entsprechend angewendet werden können.

Ähnlich gelagert ist folgendes Beispiel: In Deutschland findet sich in § 179 letzter Satz Zivilprozessordnung die Formulierung „Mit der Annahmeverweigerung gilt das Schriftstück als zugestellt.“ Für den Laien eine Kontradiktion, und auch manch Betroffener wird dies nicht einsehen wollen (abgesehen davon, dass das gängige zugestellt bereits ein gelesen und verstanden implizieren sollte). Doch wie sollte es der Gesetzgeber an dieser Stelle sonst handhaben?

Strengen Positivisten ist die Denkfigur der Fiktion suspekt, weil sie nur beschrieben werden kann, wenn man Voraussetzungen von Rechtsfolgen von ihrer Rechtfertigung unterscheidet.

Siehe auch

Rechtshinweis Bitte den Hinweis zu Rechtsthemen beachten!

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Поможем решить контрольную работу

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Fiktion (Begriffsklärung) — Unter Fiktion (lat. fictio, „Gestaltung“, „Personifikation“, „Erdichtung“ von fingere „gestalten“, „machen“, „sich ausdenken“) versteht man in der Literaturwissenschaft und Kunsttheorie die Schaffung einer eigenen „künstlichen“ Welt, siehe… …   Deutsch Wikipedia

  • Fiktion — (lat. fictio, „Gestaltung“, „Personifikation“, „Erdichtung“ von fingere „gestalten“, „formen“, „sich ausdenken“) bezeichnet die Schaffung einer eigenen Welt durch Literatur, Film, Malerei oder andere Formen der Darstellung sowie den Umgang mit… …   Deutsch Wikipedia

  • Fiktion — (lat. Fictio), Erdichtung, etwas Erdichtetes, im Rechtswesen (fictio juris) die gesetzliche Vorschrift, daß etwas nicht Geschehenes oder Vorhandenes als geschehen oder vorhanden zu erachten sei. Das Wesen der F. besteht also darin, daß eine… …   Meyers Großes Konversations-Lexikon

  • Recht der ersten Nacht — Wassilij Dimitriewitsch Polenow zeigt 1874 wie ein alter Mann seine Tochter zum Feudalherrn bringt. Mit ius primae noctis (lateinisch „Recht der ersten Nacht“; auch jus primae noctis; auf französisch droit de seigneur) wird das …   Deutsch Wikipedia

  • Fiktion — Ausgedachtes; Vorgestelltes; Erdichtung; Erdachtes * * * Fik|ti|on 〈f. 20〉 1. Erdichtung 2. etwas, das nur in der Fantasie, Vorstellung existiert 3. Annahme, Unterstellung (eines nicht wirklichen Falles, um daraus Erkenntnisse abzuleiten) 4.… …   Universal-Lexikon

  • Recht und Literatur — Hinter dem Begriff Recht und Literatur steht eine Forschungsrichtung, die interdisziplinär zwischen Rechtswissenschaft und Literaturwissenschaft angesiedelt ist und sich mit dem Verhältnis von Recht und Literatur befasst.[1] Sie ist als „Law… …   Deutsch Wikipedia

  • Latein im Recht — Traditionell werden Rechtsgrundsätze gern durch lateinische Begriffe oder Wendungen ausgedrückt. Sie sind teilweise aus der römischen Antike überliefert, da insbesondere das deutsche Zivilrecht in wesentlichen Bereichen auf dem antiken Römischen… …   Deutsch Wikipedia

  • Vermutung (Recht) — In der Rechtswissenschaft kann eine Vermutung den Beweis gestützt auf Erfahrungen ermöglichen (tatsächliche Vermutung), die Beweislast von Gesetzes wegen verschieben (widerlegliche gesetzliche Vermutung) oder ein Beweiserfordernis ganz beseitigen …   Deutsch Wikipedia

  • Auslegung (Recht) — Unter Auslegung, Exegese oder Interpretation versteht man in der Rechtswissenschaft die Ermittlung des Sinnes einer Rechtsnorm, eines Vertrages oder sonstiger Willenserklärungen. Inhaltsverzeichnis 1 Allgemeines 2 Geschichte 2.1 Aufklärung und… …   Deutsch Wikipedia

  • Internationales Recht — Gilt als einer der Ursprünge des neuzeitlichen Völkerrechts: Der Westfälische Friede Das Völkerrecht (ungenau ist der Begriff internationales Recht) ist eine überstaatliche Rechtsordnung, durch die die Beziehungen zwischen den… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”