Formale Soziologie

Formale Soziologie
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Die Formale Soziologie ist ein theoretischer Ansatz der Soziologie, der von der Analyse der sozialen Beziehungen, den Wechselwirkungen der Individuen untereinander, ausgeht. Die Beziehungsformen der Individuen konstituieren erst „Gesellschaft“ durch den Prozess der Vergesellschaftung.

Georg Simmel (1858-1918) prägte den Begriff 1908.[1] Sein Konzept wurde später durch Leopold von Wiese und Alfred Vierkandt weiter fortgeführt. Grundlegend für die Entwicklung der formalen Soziologie waren vorangegangene Arbeiten Ferdinand Tönnies'. Großen Einfluss hatte Simmels Ansatz auf die US-amerikanische Soziologie (Talcott Parsons, Robert K. Merton, Lewis A. Coser, Peter Blau u. a.). Die funktionale Systemtheorie wie auch die Rollentheorie und die Theorie der Gruppe wurden von Simmel stark beeinflusst.

Inhaltsverzeichnis

Ausgangspunkt und Ausarbeitung

Untersuchungsgegenstand der formalen Soziologie sind nach Simmel die abstrakt-generellen Beziehungsformen der Individuen untereinander. Das Verhalten der Individuen wird durch konkret-individuelle Bedürfnisse geprägt, welche als unabhängig von historischen oder sonstigen Spezifitäten (z. B.: Klasse, Schicht usw.) gedacht werden. Beziehungsformen sind: Über- und Unterordnung, Konkurrenz, Arbeitsteilung, Parteiung, Streit, Freundschaft usw.

Im Gegensatz zu Ferdinand Tönnies sieht Simmel im Streit/Konflikt eine Form der Vergesellschaftung, in der sich die Individuen ihrer Gemeinsamkeiten klar werden. Tönnies hatte nur in der gegenseitigen Bejahung der Menschen eine „Vergesellschaftung“ (und „Vergemeinschaftung“) als Gegenstand der Soziologie gesehen.[2]; die gegenseitige Verneinung hatte er als Erkenntnisgegenstand nicht der „Soziologie“, sondern der „Sozialbiologie“ zugewiesen.

Nach intensiver Auseinandersetzung mit Immanuel Kant, beschrieb Simmel soziologische „Formen“ als „rein“ (= ohne empirische Beimischung) und a priori gegeben. Sie werden demnach nicht durch Abstraktion oder Verallgemeinerung konstituiert. Diese Theorie steht im Gegensatz zur Typenlehre Max Webers.[3]

Erst in der Spezifizierung der Begriffe gewinnen diese „reinen Formen“ empirische Relevanz. Am Beispiel der „Vergesellschaft“ wird dies verdeutlicht: „Inhalt“ bekommt der Begriff erst durch das, was in den Individuen als Trieb, Interesse, Neigung konkret-historisch vorhanden ist und eine Wirkung auf andere Individuen entfaltet: „Denn Einheit im empirischen Sinn ist nichts anderes als Wechselwirkung von Elementen [...]“.[4]

Émile Durkheim (1858-1917) hatte Gesellschaft noch als Substanz aufgefasst, die auf das Individuum „Zwang“ ausübt. Gesellschaft war wie bei Auguste Comte noch das Primäre.

Simmel hingegen stellt nicht das Individuum in den Mittelpunkt, sondern die Beziehungen (Relationen) oder Wechselwirkungen der Individuen und gewinnt so das „Soziale“ und als Ergebnis die Gesellschaft. Da er die formale Beziehung „Streit/Kampf“ durchaus positiv im Rahmen der Vergesellschaftung sieht, versteht Simmel in der Darstellung und Gewichtung des Streits die Dynamik gesellschaftlicher Strukturen.

Die formale Soziologie beansprucht als analytisches Raster Geltung für den gesamten Gegenstandsbereich der Soziologie.

Die Gegenposition

Unzweifelhaft nahm Simmel mit seinem Ansatz großen Einfluss auf die im Entstehen begriffene Soziologie nach 1900. Neben Ferdinand Tönnies und Max Weber hat er zentrale Begriffe der Soziologie entwickelt, die noch heute Gültigkeit haben.

Die Begriffe der formalen Soziologie seien zwar komplex und umfassend, erlaubten lediglich eine deskriptive Klassifikation. Die Dynamik sozialen Geschehens werde dadurch kaum oder nicht erfasst. Auch der strukturell-funktionalen Theorie von Parsons wird vorgeworfen, dass damit sozialer Wandel nicht ausreichend analysiert werden kann.

Weiter wird bemängelt, dass in der formalen Soziologie vornehmlich Mechanismen, Kanäle, Formen des Eindringens sozialer Werte und Normen im Vordergrund der Darstellung stünden, dabei jedoch die Legitimation von sozialen Werten und Normen als gegeben angesehen werde. Insbesondere in der marxistischen Theorie wird dieser Kritikpunkt hervorgehoben.[5]

Jürgen Habermas betont, dass gerade das Kind in der Sozialisation lernen müsse, reflexiv mit Werten und Normen umzugehen, um seine Autonomie zu wahren. Es müsse lernen, den sozialen Wandel von Werten und Normen zu meistern.

Formalisierung

Die Formalisierung einer Theorie erlaubt, (a) die Konsistenz (Widerspruchsfreiheit) einer Theorie besser zu überprüfen und (b) Konsequenzen aus der formalisierten Theorie abzuleiten, die dann empirisch überprüft werden können.

Simmel und seine Nachfolger haben u. a. in diesem Sinne die soziologische Theorie empirisch überprüfbar gemacht. Damit sind soziale Tatbestände einer empirische Überprüfung zugänglich, die Fragen der Legitimation von Normen und Werten und deren reflexive Handhabung durch das Individuum werden jedoch nicht erfasst.

Einzelnachweise

  1. Vgl. Soziologie, 1908.
  2. Tönnies führt „Vergesellschaftung“ auf gegenseitige soziale Bejahung zu eigennützigen Endzwecken der Akteure zurück, hingegen „Vergemeinschaftung“ auf gegenseitige Bejahung zu einem gemeinsamen Endzweck (vgl. Gemeinschaft und Gesellschaft, 1887).
  3. Enzyklopädie „Philosophie und Wissenschaftstheorie“ (Hrsg. Jürgen Mittelstrass): Artikel „Idealtypus“, 1995, ²2004 (dort auch weitere Literatur)
  4. Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Duncker & Humblot Verlag, Berlin 1908, S. 5
  5. Vgl. Erich Hahn, Soziale Wirklichkeit und soziologische Erkenntnis, Berlin 1965, S. 86 ff., und Hans Jürgen Krysmanski, Soziologie des Konfliktes, Hamburg 1971, S. 115 ff.; weiter Gabor Kiss, Marxismus als Soziologie, Hamburg 1971, Seite 54 ff.)

Literatur

  • Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. [1908], Frankfurt am Main, hgg. von Otthein Rammstedt, Bd.11, 1992
  • Tenbruck, Friedrich: Georg Simmel, in: KZfSS, Jg. 10, 1958
  • Bevers, Antonius: Dynamik der Formen bei Georg Simmel. 1985

Siehe auch


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