Fritz Karsen

Fritz Karsen

Fritz Karsen (* 11. November 1885 in Breslau; † 25. August 1951 in Guayaquil, Ecuador) war ein deutscher Pädagoge. Er zählte zur Spitze der Reformpädagogik in der Weimarer Republik. Er war einer der ersten Begründer einer Gesamtschule in Deutschland.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Karsen studierte Germanistik, Anglistik, Sanskrit, Vergleichende Philologie und Philosophie und wurde danach Oberlehrer.

1918 zog er nach Berlin. Er arbeitete zunächst als Lehrer, später als wissenschaftlicher Mitarbeiter im preußischen Kultusministerium. Im Mai 1919 wurde er Mitglied der SPD. Im September des gleichen Jahres gründete er zusammen mit Franz Hilker, Siegfried Kawerau, Otto Koch, Paul Oestreich, Elisabeth Rotten, Anna Siemsen u.a. den Bund entschiedener Schulreformer.

In Zusammenarbeit mit dem Berliner Oberstadtschulrat Wilhelm Paulsen gründete er eine Anzahl reformerischer Schulprojekte. Karsen wurde 1921 Direktor des Kaiser-Friedrich-Realgymnasiums in Berlin-Neukölln, dem er 1923 Arbeiter-Abiturientenkurse angliederte, die es ermöglichten, das Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg nachzuholen. 1927 ergänzte er seine Schule um eine achtstufige Volksschule. 1929/30 wurde dieser erste Versuch einer Gesamtschule in „Karl-Marx-Schule“ umbenannt. An der von ihm zunächst als „Einheitsschule“ bezeichneten Schule waren unter anderem Hans Alfken, Alfred Ehrentreich und Marie Torhorst als Lehrer tätig. Er wurde Oberstudiendirektor. Anfang der 1930er Jahre wurde er Lehrbeauftragter für Vergleichende Erziehungswissenschaft an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin.

Am 21. Februar 1933 wurde Karsen von den Nationalsozialisten aus dem Schuldienst entlassen. Eine Woche später floh er mit seiner Familie aus Berlin, um einer Inhaftierung als Sozialdemokrat zu entgehen. Er lebte zunächst in Zürich, später in Paris. Dort gründete und leitete er eine Schule für Emigrantenkinder, die École nouvelle de Boulogne. 1936 wurde er Bildungsberater der kolumbianischen Regierung in Bogotá. Er war an der Planung einer Universitätsstadt beteiligt, verfasste ihre Lehrpläne. Später reorganisierte er das kolumbianische Schulwesen und die Lehrerbildung, nahm die kolumbianische Staatsbürgerschaft an.

1938 wechselte er nach New York, wurde auf Vermittlung Wilhelm Gaedes Lehrbeauftragter für Pädagogik am Brooklyn College. Von 1942 bis 1946 lehrte er am City College of New York. Dort organisierte er Vorbereitungskurse für US-Offiziere im befreiten Frankreich und dem besetzten Deutschland, leitete eine Arbeitsgemeinschaft von Historikern, die ein Lehrbuch für den Geschichtsunterricht im Nachkriegsdeutschland verfassten. 1944 erhielt Karsen die US-Staatsbürgerschaft.

1946 bis 1948 war er Chief, Higher Education and Teacher Training in der Hauptabteilung Education and Cultural Relations beim Office of Military Government der U.S. Army. Mehrere deutsche Stellenangebote lehnte er ab.

Ab 1948 arbeitete er wieder am City College of New York als Assistant Professor für Deutsch, später als Associate Professor für Erziehungswissenschaft am Brooklyn College. 1951 reformierte er im Auftrag der UNESCO das Universitätswesen in Ecuador.

Leistungen

Gedenktafel am Haus Sonnenallee 79, in Berlin-Neukölln

Karsen entwickelte im von ihm mitbegründeten Bund entschiedener Schulreformer die Idee einer staatlichen Einheitsschule, in der produktive Gemeinschaftsarbeit unter Mitbestimmung der Schüler durchgeführt werden sollte. Die Erziehung sollte sich dabei „aus der Struktur der werdenden Gesellschaft“ ergeben. [1] Sein erster Versuch, die Ideen praktisch anzuwenden, scheiterte in Berlin-Lichterfelde.

Unter dem Einfluss des Berliner Oberstadtschulrats Wilhelm Paulsen entwickelte Karsen ein neues Gesamtschulkonzept. Es orientierte sich an den Hamburger Lebensgemeinschaftsschulen, die Paulsen seit 1921 in Berlin propagierte. Der Oberschulrat unterstützte Karsen bei seinem Reformwerk in Berlin-Neukölln.

1922 gründete Karsen am Kaiser-Friedrich-Realgymnasium eine Aufbauschule mit zwei Klassen. Sie umfasste sechs Jahrgangsstufen von der Untertertia bis zur Oberprima. Nun konnten auch Volksschüler nach dem siebten Schuljahr eine weiterführende Schule besuchen. 1923 eröffnete er Arbeiter-Abiturientenkurse in denen Männer und Frauen, die längst im Berufsleben standen, aber nur die Volksschule absolviert hatten innerhalb von drei Jahren ihr Abitur ablegen konnten.

Eine Grundschule, das Kaiser-Friedrich-Realgymnasium und die Aufbauschule gehörten bereits zu Karsens Schulenkomplex, als 1927 auch noch eine achtstufige Volksschule eingegliedert wurde. Nun konnte er auch sein didaktisches Gesamtkonzept einer Einheitsschule entwickeln und verwirklichen.

Er entwickelte einen übergeordneten Lehrplan, der durch den Stundenplan der angegliederten Deutschen Oberschule inspiriert wurde. Dabei wurde vor allem auf die deutsch- und kulturkundlichen Fächer und auch auf Fremdsprachen wie Englisch und Französisch Wert gelegt.

Der Schulenkomplex war aber immer noch eine aus einzelnen Schulteilen zusammengestückelte Gesamtschule. Karsen hatte eine integrierte Gesamtschule entworfen, die er in seiner Veröffentlichung Die Dammwegschule Neukölln beschrieb. Er legte seinen Entwurf 1928 der Behörde vor, welche ihn dann auch genehmigte. Leider konnte die Schule nie gebaut werden, weil die finanziellen Mittel nach der Genehmigung durch einen Engpass nicht mehr zur Verfügung standen.

Da er seine Gesamtschule so nicht realisieren konnte, versuchte er es dadurch zu erreichen, dass er ein neues Schulgebäude (in der Richardstraße) an seinen Schulenkomplex angliederte und sie dort in kleinen Schritten realisierte. 1932 war sein Schulenkomplex, der zuvor aus eine Grundschule, einer Volksschuloberstufe, einer Aufbauschule, den Arbeiter-Abiturientenkursen, einer Deutschen Oberschule und dem Realgymnasium bestand in ein 13stufiges Gesamtsystem umgewandelt. Die Schüler konnten an dieser Gesamtschule den Volksschulabschluss nach dem achten oder nach einem freiwilligen neunten Schuljahr erlangen, außerdem die Mittlere Reife mit der gleichzeitigen Versetzung in die Obersekunda oder letztlich das Reifezeugnis, wenn die Oberstufe mit dem Abiturexamen erfolgreich abgeschlossen wurde.

Damit war diese Schule die erste integrierte Gesamtschule in Deutschland, die den heutigen Gesamtschulen recht ähnlich war. Außerdem gehört bereits seit 1929/30 ein Studienseminar für Referendare zur Schule dazu.

Im August 1932 kam eine unangemeldete hochrangige offizielle Kommission in Karsens Schule, die dort drei Tage lang revidierte. Der Leiter dieser Kommission gelangte zu dem Urteil: „Ein wertvoller pädagogischer Versuch“.


Werke

Monographien

  • Die Schule der werdenden Gesellschaft. Stuttgart/Berlin 1921.
  • Deutsche Versuchsschulen der Gegenwart und ihre Probleme. Leipzig 1923.
  • Die neuen Schulen in Deutschland. Langensalza 1924.

Aufsätze

  • Die einheitliche Schule in Neukölln (Pädagogik und Schulhaus). In: Die Dammwegschule Neukölln. Berlin 1928, S. 3-25.
  • Von der Aufbauschule zur Gesamtschule. In: Pädagogische Beilage der Leipziger Lehrerzeitung, Nr. 35 / 1928, S. 301-305.
  • Sinn und Gestalt der Arbeitsschule. In: Adolf Grimme (Hrsg.): Wesen und Wege der Schulreform. Berlin 1930, S. 100-119.
  • Vorwort zu einem Lehrplan. In: Aufbau 4 (1931), S. 33-41. Wiederabdruck in: Inge Hansen-Schaberg/Bruno Schonig (Hrsg.): Basiswissen Pädagogik: Reformpädagogische Schulkonzepte. Bd. 1: Reformpädagogik. Geschichte und Rezeption. Baltmannsweiler 2002, S. 128-138.
  • Neue Schule in Neukölln (1929). In: Gerd Radde et al. (Hrsg.): Schulreform. Kontinuitäten und Brüche. Das Versuchsfeld Berlin-Neukölln, Bd. 1: 1912-1945. Opladen 1993, S. 172-174.
  • Die soziale Arbeitsschule als Lebensgemeinschaftsschule. In: Geissler, Gerd (Hrsg.): Das Problem der Unterrichtsmethode in der Pädagogischen Bewegung. Weinheim 1994.
  • Kritik der Methode der freien geistigen Arbeit. In: Geissler, Gerd (Hrsg.): Das Problem der Unterrichtsmethode in der Pädagogischen Bewegung. Weinheim 1994.

Literatur

  • Dietrich Brenner/Herwart Kemper: Theorie und Geschichte der Reformpädagogik. Bd. 2: Die Pädagogische Bewegung von der Jahrhundertwende bis zum Ende der Weimarer Republik. Weinheim/Basel 2003, S. 268-289.
  • Johann Peter Eickhoff: Fritz Karsen : ein Wegbereiter der modernen Erlebnispädagogik? Lüneburg 1997.
  • Inge Hansen-Schaberg: „Demokratie und Erfahrungsorientierung bei Fritz Karsen“. In: Astrid Kaiser, Detlef Pech (Hrsg.): Geschichte und historische Konzeptionen des Sachunterrichts. Baltmannsweiler, 2004, S. 135-138
  • Dietmar Haubfleisch: „Berliner Reformpädagogik in der Weimarer Republik. Überblick, Forschungsergebnisse und -perspektiven“. In: Hermann Röhrs und Andreas Pehnke (Hrsg.): Die Reform des Bildungswesens im Ost-West-Dialog. Geschichte, Aufgaben, Probleme (=Greifswalder Studien zur Erziehungswissenschaft, 1), Frankfurt a.M. [u.a.] 1994, S. 117-132; unveränd. wieder in: Ebd., 2., erw. Aufl., Frankfurt [u.a.] 1998, S. 143-158; leicht akt. wieder: Marburg 1998: http://archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/1998/0013.html
  • Sonja Petra Karsen: Bericht über den Vater: Fritz Karsen (1885-1951) demokratischer Schulreformer in Berlin, Emigrant und Bildungsexperte. Berlin 1993.
  • Wolfgang Keim: Die Wiederentdeckung Fritz Karsens - Gerd Radde zum 70. Geburtstag. In: Pädagogik und Schulalltag 2/1994, S. 146-158.
  • Wolfgang Keim, Norbert Weber (Hrsg.): Reformpädagogik in Berlin. Basel 1998. (vor allem zu Fritz Karsen und Gerd Radde)
  • Jürgen Oelkers: Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte. Weinheim/München 1996, S. 158, 253, 255ff., 270, 277.
  • Gerd Radde: Fritz Karsen: ein Berliner Schulreformer der Weimarer Zeit. Berlin 1973. - Erweiterte Neuausgabe. Mit einem "Bericht über den Vater" von Sonja Karsen (=Studien zur Bildungsreform, 37). Frankfurt a.M. [u.a.] 1999. ISBN 3631348967
  • Gerd Radde: Verfolgt, verdrängt und (fast) vergessen: der Reformpädagoge Fritz Karsen. In: Erziehungswissenschaft und Nationalsozialismus: eine kritische Positionsbestimmung (1990), S.87-100.
  • Hermann Röhrs: Die Reformpädagogik. Ursprung und Verlauf unter internationalem Aspekt. Weinheim 1998, S. 223f., 336, 349.
  • Karl Sturm: „Der Geschichtsplan der Karl-Marx-Schule“. In: Inge Hansen-Schaberg: Die Praxis der Reformpädagogik. Dokumente und Kommentare zur Reform der öffentlichen Schulen in der Weimarer Republik. Kempten 2005, S. 72-76.
  • Rainer Winkel (Hrsg.): Reformpädagogik konkret. Hamburg 1993, S. 85–99.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. vgl. Karsen: Die Schule der werdenden Gesellschaft. Stuttgart/Berlin 1921.

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