Funktionaloptometrie

Funktionaloptometrie

Die Funktionaloptometrie beschäftigt sich mit „Funktionsstörungen, die bei gesunden Augen aufgrund eines falschen Sehverhaltens oder einer fehlerhaften Sehentwicklung auftreten und zu Problemen der visuellen Wahrnehmung führen können“ (Definition nach WVAO, Wissenschaftliche Vereinigung für Augenoptik und Optometrie). Die Funktionaloptometrie ist als Teildisziplin in die Fachbereiche der Augenoptik und Optometrie integriert und versteht sich selbst als Fachwissenschaft[1]. In den USA, dem Ursprungsland der Funktionaloptometrie, wird der Begriff der Verhaltensoptometrie synonym verwendet.

Inhaltsverzeichnis

Theoretische Grundlagen

Die Qualität optischer Reizwahrnehmung und -verarbeitung (Sehen) kann nur unvollständig durch die Beurteilung einzelner Eigenschaften (zum Beispiel der Sehschärfe) erfasst werden, wobei die Leistungsfähigkeit des visuellen Systems zudem durch Umgebung, individuelle Verhaltensweisen und erlernte Reaktionsmuster beeinflusst werden kann.

Die Funktionaloptometrie geht davon aus, dass mit zunehmender Entfernung unserer Lebensweise vom natürlichen Ursprung, also von der Kontinuität unserer Entwicklungsgeschichte, unsere Wahrnehmung immer weniger in der gewohnten Weise fehlerfrei funktionieren würde. Die Entwicklung der Wahrnehmung beim Kind in einer Großstadtwohnung sei so grundlegend anders als noch vor wenigen Generationen, dass viele Entwicklungsstufen gar nicht mehr in der gewohnten Weise stattfänden.

In Einzelfällen kann das Zusammentreffen verschiedener negativer Faktoren zu Problemen der visuellen Wahrnehmung führen. Dazu gehören unter anderem Anstrengungsbeschwerden (Asthenopie), Kopfschmerz, gerötete Augen, Lese-Rechtschreib-Schwächen (auch als visuelle Komponente bei Legasthenie), Ermüdungserscheinungen am Bildschirmarbeitsplatz, u. v. m. Aus diesen Annahmen und Erkenntnissen heraus hat sich die Funktionaloptometrie (Verhaltensoptometrie) entwickelt. Sie ist in den USA Bestandteil des Universitätsstudiums zum Optometrist.

Verfahrensweise

Die Funktionaloptometrie geht davon aus, dass visuelle Probleme nicht immer durch ein Eingreifen an einer einzigen Stelle gelöst werden können (z. B. durch die Verordnung einer Brille), sondern es müsse vielmehr das Sehverhalten insgesamt geändert werden (z. B. die Ergonomie, Beleuchtung, Arbeitsablauf etc.).

Kernstück der Funktionaloptometrie ist die Visuelle Analyse, bei der mit Hilfe der Krankengeschichte (Anamnese), zahlreicher Funktionstests (z. B. Qualität der Folgebewegungen, Blicksprünge, Konvergenznahpunkt, van-Orden-Stern, etc.) und einer langen Messreihe (sog. 21-Punkte-Messung-OEP) ein umfassender Überblick über die visuelle Situation des Klienten erzielt würde. Daraus lasse sich ableiten, an welchen Stellen das visuelle System ineffektiv arbeite und ob es gegebenenfalls trainiert werden könne (Visualtraining).

Fortbildung und Zertifizierung

Berufspolitisch gibt es derzeit keine Einigung über Ausmaß und Inhalte der Funktionaloptometrie innerhalb der Ausbildung zum Augenoptiker bzw. Optometristen[2]. Prinzipiell ist jeder, der eine Meisterprüfung als Augenoptiker abgelegt hat, in Deutschland nach Auffassung des Berufsstandes dazu berechtigt, augenoptische Leistungen durchzuführen, die der Funktionaloptometrie zugeordnet werden. Eine Aus- oder Weiterbildung in Funktionaloptometrie beziehungsweise eine Zertifizierung zum Funktionaloptometristen wird vom zentralen Bildungszentrum des Zentralverbands der Augenoptiker Deutschlands (ZVA) nicht angeboten[3] und ist auch nicht Bestandteil des Lehrplans für Optometristen[4]. Entsprechende Seminare werden an privaten Instituten oder Unternehmen über einen gesamten Seminarzeitraum von etwa 18-20 Tagen durchgeführt[5]. Ein einheitliches Ausbildungskonzept gibt es bislang nicht, und es wird darauf hingewiesen, dass „die Grenze zwischen Vermittlung neutraler fachlicher Informationen und „firmenbezogener Veranstaltung“ nicht immer scharf zu ziehen ist“[2].

Eine Form der Fortbildung und das Erlangen eines entsprechenden Zertifikats wird in Deutschland durch die Wissenschaftliche Vereinigung für Augenoptik und Optometrie (WVAO) geregelt[1], setzt eine bestandene Meisterprüfung im Augenoptikerhandwerk oder eine adäquate Ausbildung voraus und umfasst folgende Punkte:

  • Teilnahme am WVAO-Grundkurs, sowie weitere Aufbauseminare bestehend aus
  • Anerkennung eines Ehrenkodex[6]
  • Anerkennung der Ablaufkriterien für das Visualtraining
  • Anerkennung der Prüfungsrichtlinien

Nach erfolgreichem Ablegen einer Prüfung wird das WVAO-Zertifikat "Anerkannter Fachberater für Funktionaloptometrie" erteilt. Das Zertifikat wird jährlich durch Fortbildungen erneuert. Nach einem Zeitraum von zwei Jahren ohne Fortbildung muß die Prüfung erneut abgelegt werden.

Zum Vergleich: die in Deutschland mittels Berufsordnung nach dem Orthoptistengesetz geregelte Ausbildung von Orthoptisten - in den augenheilkundlichen Fachbereichen der Strabologie und Neuroophthalmologie diagnostisch und therapeutisch tätige Spezialisten für Krankheiten und Störungen des Binokularsehens - erfolgt an Fachakademien von Universitätskliniken, dauert in Vollzeit drei Jahre (ca. 5.000 Stunden) und endet nach bestandenen Prüfungen mit der staatlichen Anerkennung[7].

Verbreitung in Deutschland

Die Funktionaloptometrie ist seit etwa 1992 in Deutschland Bestandteil augenoptischer Tätigkeiten. Sie wird jedoch lediglich von rund 5 % der praktiziernden Augenoptiker angeboten. Eine steigende Tendenz der letzten Jahre wird mit der zunehmenden Etablierung der Funktionaloptometrie als Geschäftszweig der Augenoptiker erklärt. Im Jahre 2008 waren etwa 115 Funktionaloptometristen mit abgelegter Prüfung bei der WVAO gelistet[2]. Das größte Einsatzgebiet liegt dabei nach einer Umfrage[8] unter Augenoptikern bei der Gruppe der Kinder. Weiteres Augenmerk gilt der Betrachtung erhöhter visueller Belastungen am Arbeitsplatz[9]

Hintergrund und Stellenwert

Vorgehensweise und Schlussfolgerungen der Funktionaloptometrie werden in der Literatur, vor allem aber in der Praxis, sehr kritisch betrachtet. Die über die augenoptischen Themen hinausgehenden Inhalte der Funktionaloptometrie sind allesamt Bestandteil der augenheilkundlichen Spezialdisziplinen der Strabologie und Neuroophthalmologie, mit denen das Leistungsspektrum durch Orthoptistinnen und Augenärzte bereits hochwertig und kompetent abgedeckt wird. Eine diesbezügliche Versorgungslücke und ein daraus resultierender erhöhter Bedarf zeichnet sich, zumindest in Deutschland und dem deutschsprachigen Ausland, bislang nicht ab.

Vielmehr wird seitens der Berufsverbände von Augenärzten und Orthoptistinnen (Berufsverband der Augenärzte Deutschlands und Berufsverband der Orthoptistinnen Deutschlands) die Vermutung geäussert, dass das Leistungsspektrum von Augenoptikern auf Grund steigenden Wettbewerbsdrucks um medizinisch-therapeutische Aktivitäten erweitert werden soll, wie dies bereits mit der kontrovers diskutierten Durchführung von Gesichtsfelduntersuchungen, Augeninnendruckmessungen[10] und Prismenbehandlungen bei einer sogenannten Winkelfehlsichtigkeit versucht wird. Zudem wird ein der Ausbildungsinhalte und -dauer entsprechend niedriges Qualitätsniveau erwartet, welches sich nachteilig auf die Gesundheitsversorgung auswirken könnte. Dem Risiko, dabei gegen das Heilpraktikergesetz zu verstossen, würde damit begegnet, dass man "Krankheiten" als "Fehlfunktionen" bezeichnet und "Therapien" durch "Training" ersetzt. So wird beispielsweise der Amblyopie[11], einer bis zur einseitigen Blindheit verlaufenden Sehbehinderung, die nach dem internationalen Krankheits- und Diagnoseschlüssel ICD-10 mit H53.0 klassifiziert ist, durch die bloße Behauptung, es handle sich nicht um eine Krankheit, sondern nur um eine mangelnde Qualität einer erworbenen Fähigkeit, der Krankheitswert abgesprochen, um so dem Funktionaloptometristen einen Zugang zu therapeutischem Handeln, welches hier als "Ambylopietraining" bezeichnet wird, zu ermöglichen[12].

Die Funktionaloptometrie kommt nach eigener Aussage nur bei "gesunden" Augen zur Anwendung. In Deutschland ist es nach den Berufsordnungen jedoch ausschließlich Ärzten vorbehalten zu beurteilen, ob Organsysteme bei geschilderten Beschwerden gesund sind oder nicht. Seitens der Funktionaloptometristen wird bisher kein ärztlicher Nachweis über den intakten Gesundheitszustand ihrer Klienten eingefordert, der ihnen ggf. versichern könnte, dass ihre Aktivitäten an gesunden Augen mit gesundem Binokularsehen durchgeführt würden. Diese Diskrepanz scheint bisher nicht gelöst. Zudem wird künftig zweifelsfrei geklärt werden müssen, inwiefern Funktionaloptometristen diagnostische und medizinisch-therapeutische Behandlungsangebote machen, die Medizinern vorbehalten und ihnen selbst durch das Heilpraktikergesetz als erlaubnispflichtige Ausübung der Heilkunde untersagt sind.

Auch innerhalb der Berufsgruppe der Augenoptiker selbst wird das Thema "Funktionaloptometrie" durchaus kontrovers diskutiert. So sehen eine Reihe von Berufsvertretern die Funktionaloptometrie als eine Pseudowissenschaft mit esoterischen Behandlungsmethoden. Sie fürchten dabei auch um das positive Erscheinungsbild der Augenoptik in der Öffentlichkeit. Zudem werden Auseinandersetzungen mit den Berufsgruppen der Augenärzte und Orthoptistinnen erwartet, weil Tätigkeiten der Funktionaloptometrie die diagnostischen und therapeutischen Grenzen zur Augenheilkunde bereits deutlich überschreiten würden. Weiterhin vermutet man mangelnde Kompetenz und Qualifikation hinsichtlich der notwendigen wissenschaftlichen und medizinischen Grundlagen und Kenntnisse[9].

Positiv bewertet werden von den befragten Augenoptikern[8] eine optimale Versorgung der Klienten und das Helfen bei Sehbeschwerden. Zudem spielt auch die Sicherung des Berufsstands durch Stärkung der Fachkompetenz und Qualifikation, sowie eine Abgrenzung zum Augenarzt eine Rolle bei der positiven Betrachtung der Funktionaloptometrie. Darüber hinaus wird die Weiterentwicklung weg vom reinen Handwerk und hin zu einer Erweiterung des eigenen Horizonts mit einer Abgrenzung zu den Standard-Augenoptikern als positiv betrachtet[9].

Eine direkte Übertragung des US amerikanischen Konzepts auf deutsche Verhältnisse ist aus vielerlei Gründen nicht möglich. Neben den teils grundlegend unterschiedlichen Tätigkeitsschwerpunkten von deutschen und US amerikanischen Optometristen differieren auch die zugrundeliegenden Berufsordnungen und Rechtsgrundlagen deutlich voneinander. Eine möglicherweise unklare Rechtslage, sowie unpräzise Berufsordnungen scheinen jedoch solche Entwicklungen in Deutschland zu begünstigen, so dass mit erheblichen juristischen Auseinandersetzungen zu rechnen ist, bis eine endgültige und verbindliche Regelung getroffen sein wird.

Siehe auch

Weblinks

Literatur

  • Optometric Extension Program Foundation: Bibliography of near lenses and vision training research. Includes supplements on eye movements, juvenile delinquency and vision & traumatic (acquired) brain injury. Optometric Extension Program, Santa Ana CA 1997, ISBN 0-943599-90-3
  • Carmen Koch: Funktional-Optometrie. wissen. wie, was warum. WVAO, Mainz 2004, ISBN 3-935647-22-0, (WVAO-Bibliothek 17).
  • Uwe Seese: Sehen - muss man lernen. Sehen - kann man lernen. BOD, Norderstedt 2007, ISBN 978-3-8334-9852-7.

Einzelnachweise

  1. a b Arbeitskreis Funktionaloptometrie der WVAO - Qualitäts-Zertifikat Funktionaloptometrie
  2. a b c Michaela Friedrich und Hans-Jürgen Grein: Funktionaloptometrie in der deutschen Augenoptik – eine Ist-Analyse, Teil 3. Deutsche Optikerzeitung - DOZ, Ausgabe 9, 2008
  3. Seminarprogramm des ZVA-Bildungszentrums
  4. Lehrplan Optometrist des ZVA Deutschland
  5. Beispielhafter Seminarplan der Fa. OPTONICA
  6. Ehrenkodex der WVAO zur Funktionaloptometrie
  7. Gesetz über den Beruf der Orthoptistin und des Orthoptisten (Orthoptistengesetz – OrthoptG) vom 28. November 1989, zuletzt geändert durch Artikel 21 des Gesetzes vom 2. Dezember 2007 (BGBl. I S. 2686)
  8. a b Umfrage der Fachhochschule Jena in Kooperation mit dem Zentralverband der Augenoptiker Deutschlands - ZVA. Aus: Funktionaloptometrie in der deutschen Augenoptik – eine Ist-Analyse, Teil 1. Deutsche Optikerzeitung - DOZ, Ausgabe 7, 2008
  9. a b c Michaela Friedrich und Hans-Jürgen Grein: Funktionaloptometrie in der deutschen Augenoptik – eine Ist-Analyse, Teil 2. Deutsche Optikerzeitung - DOZ, Ausgabe 8, 2008
  10. Wertigkeit der Augeninnendruckmessung mittels Non-contact Tonometrie durch Augenoptiker in Deutschland. Eine Kosten-Wirksamkeits-Analyse
  11. Informationen des BVA zur Amblyopie
  12. Ausbildungsbestandteil in Funktionaloptometrie

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