Alessandro Moreschi

Alessandro Moreschi
Alessandro Moreschi ca. 1875

Alessandro Moreschi (* 11. November 1858 in Monte Compatri; † 21. April 1922 in Rom) war päpstlicher Sänger der Sixtinischen Kapelle, einer der letzten Kastratensänger und zugleich der einzige, von dem heute noch Tonaufnahmen vorliegen.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Datum und Umstände seiner Kastration sind nicht bekannt, man hat jedoch vermutet, dass sie 1868 im Alter von neun Jahren erfolgt sein könnte, um ihn, im Einklang mit medizinischen Vorstellungen dieser Zeit, vor einer Cholera-Epidemie zu schützen, die zu dieser Zeit in seiner Heimatregion wütete.[1] 1871 begann er sein Gesangsstudium bei Gaetano Capocci im Chor und der Gesangschule von San Salvatore in Lauro. Capocci wurde zu seinem wichtigsten Förderer. 1873 ernannte dieser ihn zum Ersten Sopran des Chors der Lateranbasilika, wo er selbst als Organist und Kapellmeister amtierte. Unter Capocci wurde Moreschi zu einem gefragten, auch bei Privataufführungen eingesetzten Sopranisten. Als Capocci in der Fastenzeit 1883 Beethovens Oratorium Christus am Ölberge in einer italienischen Bearbeitung von Franz Sales Kandler aufführte, gab er Moreschi den Part des Seraphs zu singen, der den Einsatz der Sopranstimme bis zum dreigestrichenen e erfordert, und dieser Auftritt begründete dann auch Moreschis Ruhm und soll die Veranlassung für seinen Beinamen „der Engel von Rom“ gegeben haben.[2] Er erhielt daraufhin die Einladung, sich für den Eintritt in den päpstlichen Chor (Cappella Musicale Pontificia), die sogenannte Sixtinische Kapelle oder Sixtina, zu bewerben, wo er dann am 22. März 1891 als Sopran die Nachfolge des Kastraten Evangelista Bocchini antrat.[3] 1896 erhielt er zusätzlich die Erlaubnis zur vollen Mitgliedschaft in der Cappella Giulia des Petersdoms und in der Kapelle der Lateranbasilika.

Leiter der Sixtina war seit 1881 der Kastrat Domenico Mustafà, wie Capocci Vertreter eines hergebrachten, aber vielfach bereits als verkommen und verweltlicht kritisierten Stils, gegen den die Vertreter des Cäcilianismus die Rückkehr zu den Prinzipien der Vokalpolyphonie der Renaissance forderten. Unter Mustafà avancierte Moreschi 1891 zum Sekretär (puntatore)[4] und 1892 zum maestro pro tempore, letzteres ein administratives Amt, zu dessen Aufgaben die Organisation von Proben und die Aufsicht über die Pflichterfüllung der Chormitglieder gehörte, aber auch die Mitwirkung bei der Auswahl von Solisten und an der Entwicklung des Repertoires gehörte.[5] Als Mustafà nach fünfzig Jahren Mitgliedschaft und unter dem Eindruck zunehmender Kritik sich 1898 zum Rückzug in den Ruhestand entschloss, empfahl er als seinen Nachfolger Lorenzo Perosi, der am 15. Dezember 1898 zunächst als sein Co-Direktor ernannt wurde.[6] Perosi, ein Priester und bedeutender Komponist, von dem sich Mustafà die Fortsetzung seiner eigenen Bestrebungen versprochen hatte, stand jedoch dem Cäcilianismus nahe. Er erwies sich nicht nur in musikalischen Fragen als Gegenspieler Mustafàs, sondern setzte sich auch aus moralischen und humanitären Gründen gegen die weitere Berufung von Kastratensängern ein.[7]

Der zunehmende Einfluss Perosis und die ständigen Reibereien zwischen den beiden Leitern der Sixtina schränkten auch Moreschis Wirkungsmöglichkeiten in der Sixtina ein. Von seiner anhaltenden Wertschätzung außerhalb des Vatikans zeugt jedoch sein Auftritt am 9. August 1900 in nicht genau bekannter, wahrscheinlich solistischer Funktion bei den Begräbnisfeierlichkeiten für König Umberto I., für dessen Familie er schon an den jährlichen Gedenkmessen für Umbertos Vater Viktor Emanuel II. mitgewirkt hatte, und zu dessen Witwe auch insofern eine Beziehung bestanden haben könnte, als diese ebenfalls von Capocci musikalischen Unterricht erhalten hatte.[8]

Nachdem Mustafà noch 1895 in einer Audienz mit Papst Leo XIII. eine Ergänzung der Satzung ausgehandelt hatte, durch die 240 Lire für die Erziehung von zwei kastrierten Knaben bereitgestellt wurden,[9] vermochte Perosi seinerseits am 3. Februar 1902 in einer Audienz mit dem Papst ein Verbot der weiteren Berufung von Kastratensängern an der Sixtina zu erwirken.[10] Mustafà, der seine eigene Kastration als schweres Leid empfand, ging es in dieser Frage um den Erhalt einer musikalischen Tradition der Sixtina, die er nur durch Kastratensänger gewährleistet, durch die Aufnahme nichtkastrierter Knaben aus anderen Chören Roms hingegen gefährdet sah.[11] Als er im Protest gegen diese Entscheidung seinen Rücktritt anbot, wurde dieser angenommen und sein Titel in das eines direttore perpetuo "ehrenhalber" umgewandelt.[11] Nach dem Tod Leos XIII. am 20. Juli 1903 trat mit Pius X. ein langjähriger Bekannter und Förderer Perosis die Nachfolge an. Der neue Papst bekräftige am 22. November 1903 in seinem Motu Proprio Tra le sollecitudini im Rahmen einer allgemeinen, im Sinne des Cäcilianismus auf die Zurückdrängung weltlicher und "moderner" Einflüsse angelegten Neuordnung der katholischen Kirchenmusik noch einmal das Verbot der Zulassung von Frauen zum Kirchengesang und schrieb vor, dass bei Bedarf für hohe Stimmlagen Knaben (fanciulli) zu verwenden seien.[12] Die von seinem Vorgänger für die Sixtina eingeführte Praxis wurde dadurch auch kirchenweit festgeschrieben, auch wenn kein ausdrückliches allgemeines Verbot ausgesprochen wurde und auch über die Weiterbeschäftigung bereits berufener Kastraten damit noch nichts entschieden war.

Es ist möglich, dass Moreschi bei den Feiern zur Wahl des neuen Papstes noch beteiligt war,[13] und auch am Hochamt in Sankt Peter zur Feier des 13. Centenars Gregors des Großen soll er 11. April 1904 noch mit zwei weiteren Kastraten, unter insgesamt rund 1200 Sängern, mitgewirkt haben.[14] An den Tonaufzeichnungen, die ebenfalls im April auf Wunsch des Papstes durch William Sinkler Darby von der Gramophone Company von einigen der dort aufgeführten Stücke nachträglich angefertigt wurden, ist seine solistische Beteiligung verbürgt.[14] Ähnliche Tonaufzeichnungen waren schon 1902 zwischen dem 3. und 5. April angefertigt worden, bei denen unter Mitwirkung und sogar Leitung Moreschis ausgewählte Kastratensänger zusammen mit anderen Sängern der Sixtina sieben Stücke des nicht mehr erwünschten Stils, unter anderem von Mozart, für Fred Gaisberg und Alfred Michaelis von der Grammophone Company einspielten. Die Aufnahmen von 1902 und 1904 sind die einzigen erhaltenen Tonaufzeichnungen von Kastratensängern dieser mehr als dreihundertjährigen Tradition.

Im Päpstlichen Jahrbuch (Annuario Pontificio) wurde Moreschi weiterhin als Mitglied des päpstlichen Chors gelistet, bis er am 22. März 1913 in den Ruhestand trat. Auch in den nachfolgenden Jahren blieb er bis zum Vorjahr seines Todes regelmäßig als Emeritus verzeichnet.[15] Über die letzten Jahre Moreschis ist wenig bekannt. Er blieb noch bis mindestens 1914 aktiv in der Cappella Giulia des Petersdom, wo außer ihm als Kastraten auch seine längjährigen Kollegen Domenico Salvatori (1855-1909, Mitglied der Sixtina seit 1878) und Vincenzo Sebastianelli (1851-1919, Mitglied der Sixtina seit 1880) mitwirkten.[16] Im November 1904 übernahm er die Unterrichtung des Knabensoprans Domenico Mancini, der sich in der Folgezeit den Stil Moreschis antrainierte und ihn nach dem Stimmbruch als Falsettist weiterentwickelte, aber als Kastrat verdächtigt wurde und bei Perosi auf Ablehnung stieß.[17] 1911 trat Moreschi in Tivoli in einem Konzert aus Anlass eines musikwissenschaftlichen Kongresses auf. Franz Haböck (1868-1921), Professor an der nachmaligen Staatsakademie für Musik in Wien, besuchte und befragte Moreschi 1914 im Rahmen der Vorbereitungen für sein monumentales Werk über die Gesangskunst der Kastraten, das nach dem Tod Haböcks postum von dessen Frau veröffentlicht wurde[18] und eine wichtige Quelle für die Kenntnis Moreschis darstellt.[19] Haböck hatte die Absicht, Moreschi für eine Konzerttour zu Ehren Farinellis zu gewinnen, stellte jedoch fest, dass Moreschi, der in früheren Jahren einen Stimmumfang von zweieinhalb Oktaven besaß, nur noch weniger als zwei Oktaven beherrschte und besonders in den hohen Lagen Unsicherheiten zeigte.[20]

Um die Osterzeit 1919 erkrankte Moreschi an einer unbekannten Infektionskrankheit, von der er sich nicht wieder erholt zu haben scheint. Nach längerer Krankheit verstarb er am Morgen des 21. April 1922 in seiner langjährigen Wohnung in der Via Plinio Nr. 19, am 23. April fand der Leichenzug statt.[21] Perosi selbst leitete auf eigenen Wunsch die Begräbnismesse, die unter Beteiligung von Sängern aller Chöre Roms in San Lorenzo in Damaso stattfand.[22] Moreschis Grab befindet sich auf dem Cimitero del Verano.[22] Im Päpstlichen Jahrbuch von 1922 wurde seines Todes, abweichend von den Gepflogenheiten, nicht gedacht.

Die Bezeichnung Moreschis als "letzter Kastrat" wurde geprägt durch die Gramophone Company und kann sich darauf stützen, dass von den ähnlich lange aktiv gebliebenen Kastratensängern seiner Generation ansonsten nur noch Salvatori und Sebastianelli bekannt sind, die beide, ebenso wie sein früherer Direktor Mustafà († 1912), vor ihm starben. In seiner Dissertation über den Niedergang des Kastratentums vertrat Gerold W. Gruber 1982 die Auffassung, dass durch Analyse von Tonaufzeichnungen Kastratenstimmen auch noch in späteren Jahren unter den Vatikanischen Sängern zu identifizieren seien und als der letzte Kastrat wahrscheinlich Moreschis letzter Schüler, Domenico Mancini, anzusehen sei, der erst 1959 in den Ruhestand trat,[23] seinerseits aber stets versichert hatte, lediglich Falsettist zu sein.[17]

Literatur

  • Robert Anthony Buning: Alessandro Moreschi and the castrato voice. Thesis (M.M.), Boston University, 1990
  • Nicholas Clapton: Moreschi: the last castrato. Haus Publ., London 2004, ISBN 1-904341-77-2
  • Jörg Wilhelm Walter Derksen: Der römische Sopranist Alessandro Moreschi (1858-1922): Das reproduzierbare Bild des 'letzten Kastraten' und die musikwissenschaftliche Forschung im 20. Jahrhundert. Magisterarbeit, Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn, 1995
  • Luigi Devoti: Alessandro Moreschi detto "L'Angelo di Roma" 1858-1922. In: Renato Lefevre / Arnaldo Morelli (Hrsg.), Musica e musicisti nel Lazio, F.lli Palombi, Rom 1985 (= Lunario romano, 15), S. 463-474
  • Joe K. Law: Alessandro Moreschi Reconsidered: A Castrato on Records. In: Opera Quarterly 2 (1984), S. 2-12
  • Bruno Sebald: Les enregistrements d'Alessandro Moreschi (1858-1921), dernier castrat du Pape. In: Bulletin de liaison des adhérents de l'AFAS 28 (2006), S. 14-16; Elektronische Publikation vom 20. November 2010: (online)

Einzelnachweise

  1. Clapton, Moreschi (2004), S. 31ff.
  2. Clapton, Moreschi (2004), S. 49f.
  3. Clapton, Moreschi (2004), S. 50
  4. Clapton, Moreschi (2004), S. 80
  5. Clapton, Moreschi (2004), S. 88f.
  6. Clapton, Moreschi (2004), S. 111f.
  7. Clapton, Moreschi (2004), S. 122f.
  8. Clapton, Moreschi (2004), S. 114f.
  9. Clapton, Moreschi (2004), S. 107f.
  10. Clapton, Moreschi (2004), S. 118, vgl. S. 122f.
  11. a b Clapton, Moreschi (2004), S. 118
  12. Pius X.: Tra le sollecitudini, V, 13
  13. Clapton, Moreschi (2004), S. 126
  14. a b Clapton, Moreschi (2004), S. 128
  15. Clapton, Moreschi (2004), S. 126ff.
  16. Clapton, Moreschi (2004), S. 126, S. 130, S. 134, Lebens- und Aufnahmedaten nach S. 66
  17. a b Clapton, Moreschi (2004), S. 130ff.
  18. Franz Haböck, Die Gesangskunst der Kastraten Universal-Edition, Wien 1923 (nur der erste Band, ein Notenband, ist erschienen); Die Kastraten und ihre Gesangskunst, eine gesangsphysiologische kultur- und musikhistorische Studie, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1927
  19. Clapton, Moreschi (2004), S. 134ff.
  20. Clapton, Moreschi (2004), S. 134f.
  21. Clapton, Moreschi (2004), S. 137f.
  22. a b Clapton, Moreschi (2004), S. 138
  23. Gerold W. Gruber, Der Niedergang des Kastratentums: Eine Untersuchung zur bürgerlichen Kritik an der höfischen Musikkultur im 18. Jahrhundert, aufgezeigt am Beispiel der Kritik am Kastratentum – mit einem Versuch einer objektiven Klassifikation der Kastratenstimme, Dissertation, Universität Wien 1982, S. 186

Weblinks

„Hostias Et Preces“ (Eugenio Terziani), gesungen von Moreschi, 1904


 Commons: Alessandro Moreschi – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

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