Gesamtkunstwerk

Gesamtkunstwerk

Als Gesamtkunstwerk bezeichnet man ein Werk, in dem verschiedene Künste, wie Musik, Dichtung, Tanz/Pantomime, Architektur und Malerei, vereint sind. Dabei ist die Zusammenstellung nicht beliebig und illustrativ: die Bestandteile ergänzen sich notwendig. Das Gesamtkunstwerk hat eine „Tendenz zur Tilgung der Grenze zwischen ästhetischem Gebilde und Realität“ (Odo Marquard). Es ist kein demütiger Hinweis auf die göttliche Schöpfung, wie bei aller Pracht noch die Kunst zwischen Gotik und Barock, sondern es erhebt Anspruch auf eigene Geltung.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Die Idee des Gesamtkunstwerks entsteht in der Zeit der Romantik. Der Philosoph Friedrich Schelling betonte etwa die „nothwendige Gottwerdung des Menschen“ (Bruno oder über das göttliche und natürliche Princip der Dinge, 1802). Dieses gesteigerte Selbstbewusstsein erlaubte es, das Schaffen des Künstlers dem Schaffen der Natur gleichzusetzen.

Der Ausdruck wird erstmals vom Schriftsteller und Philosophen Eusebius Trahndorff in dessen Schrift Ästhetik oder Lehre von der Weltanschauung und Kunst (1827) verwendet. 1849 taucht er in Richard Wagners Schrift Die Kunst und die Revolution wieder auf. Ob Wagner Trahndorffs Werk kannte, ist eine offene Frage.

Wagner bezeichnet die attische Tragödie als das „große Gesamtkunstwerk“. In seiner kurz danach entstandenen Schrift Das Kunstwerk der Zukunft weitet Wagner die Bedeutung des Begriffes aus. In seinem Konzept eines Musikdramas, detailliert in seinem umfangreichen Buch Oper und Drama beschrieben, werden die einzelnen Künste einem gemeinsamen Zweck untergeordnet. Die zunehmende Arbeitsteilung (etwa bei der Spartentrennung im Theater) und die egoistische Vereinzelung in der Gesellschaft sollen aus seiner Sicht aufgehoben werden. Als Vorbild und Feindbild zugleich hatte er die französische Grand opéra vor Augen, in der alle Bühnenkünste auf ihrem neusten technischen Stand vereinigt waren. Wagner ging von der Überzeugung aus, dass sich die Oper auf einem Irrweg befindet, wenn sie die Musik absolut setzt und ihr alle Elemente unterordnet.

Wagners Geschwister waren noch zugleich Schauspieler, Sänger und auch Tänzer gewesen, was durch die Spezialisierung der Theaterberufe nach 1850 nicht mehr möglich war. Auf einem anderen Weg sollte diese Universalität zurückgewonnen werden: durch gleichberechtigte Arbeit der Ausführenden am Kunstwerk im Dienste seines Autors. Wagner spricht von einer „Genossenschaft aller Künstler“. Er geht dabei von ästhetischen Vorstellungen der Romantik, von der Philosophie Arthur Schopenhauers sowie von politischen Vorstellungen im Umkreis der Märzrevolution aus, die eine soziale Utopie verfolgen:

Das große Gesammtkunstwerk, das alle Gattungen der Kunst zu umfassen hat, um jede einzelne dieser Gattungen als Mittel gewissermaßen zu verbrauchen, zu vernichten zu Gunsten der Erreichung des Gesammtzweckes aller, nämlich der unbedingten, unmittelbaren Darstellung der vollendeten menschlichen Natur, – dieses große Gesammtkunstwerk erkennt er nicht als die willkürlich mögliche That des Einzelnen, sondern als das nothwendig denkbare gemeinsame Werk der Menschen der Zukunft.
(Richard Wagner, Das Kunstwerk der Zukunft, 1849, Kap. 5)

An Wagners Umsetzung der Idee des Gesamtkunstwerkes übte der Bühnenbildner Adolphe Appia Kritik. Er sah einen Widerspruch zwischen der Struktur der Wagnerschen Musikdramen einerseits und den als unangemessen konventionell angesehenen realistischen Bühnenanweisungen Wagners andererseits. Appias Entwürfe zu Ausstattung und Inszenierungsstil trugen wesentlich zur Theaterreform um 1900 bei.

Edward Gordon Craig dagegen machte das Gelingen der Synthese von der Genialität des Regisseurs abhängig. Wassily Kandinsky führte 1923 in seinem Manifest Über die abstrakte Bühnensynthese als übergreifendes Prinzip den Raum ein.

Aktuelle Bedeutungen

In der Ausstellung „Der Hang zum Gesamtkunstwerk“ von Harald Szeemann, die 1983 im Kunsthaus Zürich und im Museum des 20. Jahrhunderts in Wien gezeigt wurde, wurden diverse Gesamtkunstwerke der Öffentlichkeit vorgestellt: unter anderem der Merzbau von Kurt Schwitters, die Kathedralen (wie Sagrada Família) von Antonio Gaudi, der Monte Verità bei Ascona, Il Vittoriale degli Italiani am Gardasee. In der Ausstellung sind europäische Utopien seit 1800 versammelt, die sich nicht auf eine rein ästhetische Bedeutung beschränken wollen, sondern eine Umwandlung der sozialen Wirklichkeit zu einer erneuerten Gesellschaft im Sinn haben.

In neuerer Zeit überschneidet sich der Begriff Gesamtkunstwerk mit dem der (synthetischen) Intermedialität. Ob Kunstwerke, die zugleich verschiedene Sinne ansprechen, freie Zusammenstellungen im Sinne von Multimedia oder en:Mixed-media sind oder ob sie dem Anspruch einer Vereinigung zum Gesamtkunstwerk genügen, ist eine Sache der Interpretation. Auch Happening, Fluxus, Performance, Experimentelles Theater und andere Phänomene werden als Variationen der Idee des Gesamtkunstwerks interpretiert.

Literatur

  • Udo Bermbach: Der Wahn des Gesamtkunstwerks. Richard Wagners politisch-ästhetische Utopie. 2. Aufl., Stuttgart: Metzler 2004. ISBN 3-476-01868-7
  • Roger Fornoff: Die Sehnsucht nach dem Gesamtkunstwerk. Studien zu einer ästhetischen Konzeption der Moderne. Hildeheim, Zürich, New York: Olms 2004. ISBN 3-487-12767-9
  • Till R. Kuhnle: "Anmerkungen zum Begriff 'Gesamtkunstwerk' – die Politisierung einer ästhetischen Kategorie?", in: Germanica X, Lille 1992, 35-50.
  • Daniel Schneller: Richard Wagners "Parsifal" und die Erneuerung des Mysteriendramas in Bayreuth. Die Vision des Gesamtkunstwerks als Universalkultur der Zukunft, Bern: Lang 1997. ISBN 3-906757-26-9
  • Harald Szeemann (Hrsg.): Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopien seit 1800, Ausstellungs-Katalog, Kunsthaus Zürich 1983
  • Karl Friedrich Eusebius Trahndorff: Aesthetik oder Lehre von der Weltanschauung und Kunst. Berlin: Maurer 1827
  • Peter Simhandl: Gesamtkunstwerk in: Manfred Brauneck, Gérard Schneilin (Hg.): Theaterlexikon 1. Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles. Rowohlt Taschenbuch Verlag Reinbek bei Hamburg, 5. vollständig überarbeitete Neuausgabe August 2007, ISBN 978-3-499-55673-9

Siehe auch


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