Gigerenzer

Gigerenzer

Gerd Gigerenzer (* 3. September 1947 in Wallersdorf) ist ein deutscher Psychologe. Er ist seit 1997 Direktor des Center for Adaptive Behavior and Cognition (ABC) am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin.

Nach Promotion und Habilitation in Psychologie an der Universität München war er von 1984 bis 1990 Professor für Psychologie an der Universität Konstanz, von 1990 bis 1992 an der Universität Salzburg und von 1992 bis 1995 an der University of Chicago. Anschließend war er 1995 bis 1997 Direktor am Max-Planck-Institut für psychologische Forschung.

Gigerenzer arbeitet über begrenzte Rationalität und Heuristiken -- das heisst, wie man rationale Entscheidungen treffen kann, wenn Zeit und Information begrenzt und die Zukunft unsicher ist. Er ist der international meistzitierte Psychologe im deutschsprachigem Raum. Zu seinen Büchern gehören "Rationality for Mortals" (2008), "Heuristics and the Law" (2006, mit Christoph Engel), "Adaptive Thinking" (2000), "Simple Heuristics That Make Us Smart" (1999, mit P.M. Todd), und "Bounded Rationality" (2001, mit Reinhard Selten, Nobelpreisträger der Ökonomie).

Gigerenzer trainiert amerikanische Richter, deutsche Ärzte und Manager in der Kunst des Entscheidens und im Umgang mit Risiken und Unsicherheiten. Er ist mit Lorraine Daston, einer Direktorin des Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, verheiratet.

Bauchentscheidungen

Der breiten Öffentlichkeit ist Gigerenzer mit seinem Buch „Bauchentscheidungen“, das in sechs Sprachen (Deutsch, Englisch, Spanisch, Niederländisch, Koreanisch und Italienisch) erschienen ist, bekanntgeworden.

Gigerenzer verdeutlicht seine zentrale Arbeitsweise gern an Beispielen: Unternehmensberater und Ratgeber-Autoren propagieren unentwegt, wir müssten bei Entscheidungsfindungen möglichst analytisch vorgehen, Vor- und Nachteile auflisten und genau gegeneinander abwägen. Der Ansatz sei logisch, aber er setze voraus, dass die menschliche Intelligenz wie eine Rechenmaschine funktioniert. Für ihn, sagt Gigerenzer, sei die Logik nur eines von vielen Werkzeugen der Intelligenz. In sehr viel mehr Fällen stützten wir uns auf Bauchgefühle – wir entscheiden intuitiv.

«Bauchgefühle sind das Produkt von einfachen Faustregeln. Diese Faustregeln sind uns meist gar nicht bewusst, und oft stützen sie sich auf einen einzigen Grund.» und «Trotzdem sind intuitive Entscheide nicht nur ökonomischer und schneller, sondern oftmals auch einfach besser.»

Alles begann mit einem Experiment, das Gigerenzers Forschungsgruppe vor knapp zehn Jahren mit Studenten der New York University durchführte. Die Studenten mussten für eine zufällige Auswahl von Spielen der Saison 1996/97 der National Basketball Association (NBA) den Sieger erraten. Die Saison war zu diesem Zeitpunkt bereits vorbei, aber Gigerenzer anonymisierte die Mannschaften und gab den Studenten zu jeder Partie nur zwei Hinweise: die Anzahl der Spiele, die die beiden Mannschaften jeweils in der Saison insgesamt gewonnen hatten, und den Halbzeitstand.

Wie eine nachträgliche Analyse ergab, gingen die meisten Studenten intuitiv nach einer Faustregel vor: Wenn eine Mannschaft über die ganze Saison deutlich besser war als die andere, nahmen sie an, diese sei auch in dieser Partie die Siegerin. Wenn hingegen die Saisonbilanz der beiden Teams vergleichbar war (weniger als 15 Siege Differenz), hielten sie den Pausenleader für den Sieger. Dieses sequenzielle Abklopfen von Kriterien nach einer bestimmten Reihenfolge wird Take the best genannt: Nimm das beste Kriterium und entscheide – wenn sich kein relevanter Unterschied ergibt, nimm das zweitbeste, und so weiter. Wie so oft bei intuitivem Vorgehen entscheidet man sich dabei stets nach einem einzigen guten Grund. Das Resultat war, dass die Studenten bei 78 Prozent der Partien richtig lagen.

«Das Resultat war auf den ersten Blick unglaublich», sagt Gigerenzer. «Man hatte schon lange gewusst, dass die Menschen oft nach der Take-the-best-Strategie vorgehen. Aber man hatte das als irrationales Verhalten gedeutet, das von einer gewissen kognitiven Beschränktheit herrühre. Nun hatten wir zum ersten Mal einen Hinweis darauf, dass eine simple Faustregel gleich gut sein kann wie eine exakte Berechnung.»

Als Gigerenzer in einem Vortrag zum ersten Mal von diesem Ergebnis berichtete, stand ein namhafter Forscher auf und sagte: «Wenn Sie mich beeindrucken wollen, müssen Sie nachweisen, dass es Take the best auch mit der multiplen Regressionsanalyse aufnehmen kann.» Die multiple Regressionsanalyse versucht in einem mehrstufigen Computerverfahren, die verschiedenen Kriterien bei einer Entscheidung optimal zu gewichten.

Gigerenzer nahm die Herausforderung an. Seine Forschungsgruppe verglich die beiden Strategien anhand von zwanzig Problemen aus Wirtschaft, Psychologie, Gesundheitswesen oder Biologie. Resultat: Die multiple Regressionsanalyse erreichte im Schnitt 68 Prozent richtige Vorhersagen. Das vermeintlich naive Take the best schaffte 71 Prozent. Das menschliche Verfahren ist der komplexen Berechnung überlegen.

Das wirklich Verblüffende ist jedoch, dass die Trefferquote durch das Weglassen von Informationen verbessert werden kann. «Gute Intuitionen müssen Informationen ignorieren», sagt Gigerenzer. «Das muss man immer dreimal wiederholen, bis die Leute es fressen: Für gute Entscheidungen in einer unsicheren Welt muss man Informationen weglassen. Das steigert die Qualität.»

Das Paradoxon erklärt sich dadurch, dass längst nicht alle Informationen für die Zukunft relevant sind. Die Kunst der guten Vorhersage besteht darin, die entscheidenden Daten heranzuziehen und den großen Rest wegzulassen. Es ist genau diese Strategie, die von Take the best verkörpert wird.

Dass uns diese Vorstellung zunächst Mühe macht, sagt Gigerenzer, liege daran, dass wir alle das vermeintliche Ideal des Maximierers im Kopf haben: «Mehr Information ist immer besser. Mehr Zeit ist immer besser. Mehr Optionen sind immer besser. Mehr Berechnungen sind immer besser. Dieses Schema steckt tief in uns drin, aber es ist falsch! Was uns als Forscher interessiert, ist: Wann ist ‹mehr› besser, und wann ist ‹weniger› besser?»

In allen Fällen gilt: Wir entscheiden dann besonders gut, wenn wir nicht darüber nachdenken. Wenn der Baseballer zu schätzen beginnt, wo der Ball landen könnte, hat er ihn wahrscheinlich schon verpasst. Bei Handballern und Schachspielern ist die erste Idee für einen Spielzug nachweislich meist die beste. Experimente haben gezeigt, dass beim Golfspiel und selbst bei der Wohnungswahl die Resultate besser werden, wenn man die Zeit beschränkt und somit ein intuitives Vorgehen erzwingt.

Werke

  • Daniel G. Goldstein, Gerd Gigerenzer: “Models of Ecological Rationality: The Recognition Heuristic.” In: Psychological Review. Vol. 109, No. 1, 2002, ISSN 0033-295X, 75-90.
  • Gerd Gigerenzer, Peter M. Todd, ABC Research Group (Eds.): Simple heuristics that make us smart. Oxford University Press, New York 1999, ISBN 0-19-512156-2 (als Paperback: Oxford University Press, New York 1999, ISBN 978-0-19-514381-2)
  • Gerd Gigerenzer: Das Einmaleins der Skepsis. Über den richtigen Umgang mit Zahlen und Risiken. Berlin Verlag, Berlin 2002, ISBN 3-8270-0079-3
  • Gerd Gigerenzer: Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition. Bertelsmann, München 2007, ISBN 978-3-570-00937-6 (engl.: Gut Feelings. Viking, New York 2007, ISBN 978-0-670-03863-3)

Weblinks


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