Grandmaison

Grandmaison

Olivier Le Cour Grandmaison (* 19. September 1960 in Paris) ist ein französischer Universitätslehrer für politische Wissenschaften und politische Philosophie an der Universität Évry.[1]

Inhaltsverzeichnis

Themen

Mit seinen Arbeiten zur französischen Kolonialgeschichte und ihrer Wahrnehmung in der Gegenwart hat Olivier Le Cour Grandmaison seit 2005 ein größeres Publikum erreicht und gleichzeitig heftige Gegenreaktionen in der französischen Geschichtswissenschaft und in der politischen Rechten ausgelöst. Er beteiligt sich an öffentlichen Debatten zur Geschichtskultur,[2] zur Integration von Zuwanderern,[3] zu Staatsbürgerschaftsfragen,[4] wobei seine Stellungnahmen grundsätzlich durch das Erbe der Französischen Revolution und die Orientierung an der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte als Gradmesser bestimmt werden. Wichtiger Bezugspunkt für ihn ist das Werk von Michel Foucault.

Coloniser. Exterminer (Kolonisieren. Ausrotten.), 2005 – Abriss

Le Cour Grandmaison geht der Frage nach, welche Besonderheiten die französischen Kolonialkonflikte in Nordafrika und anderswo hatten. Dabei interessieren ihn die von den Franzosen in Algerien angewandten Methoden des Ausräucherns von Menschen, die in weiträumigen Höhlen Zuflucht gesucht hatten, der Massaker an Gefangenen und Zivilpersonen, der Razzien, der Zerstörung der Anbauflächen und der Dörfer, die die Form des Krieges seit 1830 in den Auseinandersetzungen mit Abd el-Kader (1808 bis 1883) bestimmten. Im Zusammenhang dieser Konflikte kam es zunehmend zu rassistischen und diskriminierenden Maßnahmen gegenüber den ‚Eingebornen‘, deren Rechtfertigungsmuster Le Cour Grandmaison in zeitgenössischen Dokumenten der sich ausbildenden Kolonialwissenschaften, in den Debatten der Nationalversammlung und in der Belletristik aufspürt und nachzeichnet. Diese Rechtfertigungsmuster seien schließlich in der Dritten Französischen Republik kodifiziert worden und auf die neuen überseeischen Territorien Indochina, Neu-Kaledonien und Französisch-Westafrika übertragen worden, mit deren Erwerb sich Frankreich um 1900 in kürzester Zeit zur zweiten Kolonialmacht nach England entwickelte. Le Cour Grandmaison sieht Algerien als einen Raum an, in dem sich Konzepte wie „unterlegene Rassen“, „lebensunwertes Leben“ und „Lebensraum“ entwickelt hätten. Außerdem seien Ursprünge neuer Unterdrückungsmaßnahmen wie administrative Internierung und vor allem der Kollektivhaftung zu beobachten, die dann im 1881 in Kraft getretenen Code de l'indigénat (= Gesetzeswerk für die „Eingeborenen“[5]) ihren Niederschlag gefunden hätten und den Kolonialstaat in einen permanenten Ausnahmezustand versetzt hätten. Die Internierungsmethoden seien dann Ende der 1930er Jahre ins Mutterland übertragen worden und hätten sich zunächst auf staatenlose Ausländer, dann auf Kommunisten und schließlich im Vichy-Regime auf die zur Deportation bestimmten französischen Juden und politischen Häftlinge in die deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager bezogen. Den Algerienkrieg 1954-1962 sieht Le Cour Grandmaison dann von den Auseinandersetzungsformen bestimmt, wie sie sich in den extremen Gewalttätigkeiten der totalen Kriege auf dem Alten Kontinent niedergeschlagen hätten.[6]

La République impériale (Die imperiale Republik), 2009 – Abriss

Unter eingeschränkterer Perspektive geht Le Cour Grandmaison der Frage nach, warum sich gerade in der an den Menschenrechten orientierten Republik Frankreich nach 1871 zur zweitgrößten Kolonialmacht hat entwickeln können. Denn bis 1913 waren die französischen Besitzungen von einer Million Quadratkilometer auf 13 Millionen und bis 1938 die ‚Eingeborenen‘-Zahlen von 7 auf 70 Millionen angewachsen. Das heißt, dass sich Frankreich ausgerechnet als Republik zu einem zuvor nie da gewesenen Weltreich entwickelt hat, das zu dessen Führung entsprechende Maßnahmen einleiten und durchführen musste, die schließlich ihren Niederschlag im gesamten öffentlichen Leben gefunden hatten. Le Cour Grandmaison verfolgt diese Maßnahmen wiederum in philosophischen, juristischen und literarischen Texten und vor allem in den Debatten der Nationalversammlung, in denen sich vor allem Jules Ferry, dem linken republikanischen Lager zuzurechnen, als bedingungsloser Anhänger der Kolonisation und des Lebensraumgedankens darstellte. Es sei um die Verwirklichung der „Plus Grande France“, des „größeren Frankreichs“, gegangen, wie die Formel lautete. Sie habe ihren Niederschlag in zahlreichen neuen Einrichtungen gefunden (1878: Commission supérieure des colonies; 1882: Secrétariat d’État aux Colonies; 1883: Alliance française; 1889: Einrichtung der École coloniale zur Ausbildung von Verwaltungspersonal; 1894: Kolonialministerium; 1905: Integration der kolonialen Gesetzgebung in die Rechtsfakultäten der Universitäten; 1923: Einrichtung der Académie des sciences coloniales; 1931: Kolonien werden Prüfungsgegenstand im Baccalauréat). Um die Komplexität des kolonialen Vorgangs zu erfassen, der den Staat und die Zivilgesellschaft zunehmend in Beschlag nahm, führt Le Cour Grandmaison den Begriff der „Imperialisation“ ein.

Den bereits 2005 für die französische Kolonialdiskussion herausgearbeiteten „Lebensraum“-Begriff verfolgt Le Cour Grandmaison weiter und macht einen Unterschied zwischen „imperialem“ und „nationalsozialistischem Lebensraum“. Bei allen Besonderheiten der von den Nationalsozialisten auf dem europäischen Kontinent selbst durchgeführten Verbrechen sei es unmöglich, Auftauchen, Formierung und manchmal sogar das genaue Funktionieren des „nationalsozialistischen“ vom „imperialen Lebensraum“ zu trennen. Dieser sei ihm vorausgegangen und in seiner Vorläuferrolle zu oft unterschätzt und sogar ignoriert worden. Das sei in Untersuchungen geschehen, in denen Hitlers Vorstellungen aus dem Epochenzusammenhang, in dem sie entstanden seien, herausgerissen wurden, was eine „singuläre Dekontextualisierung“ darstelle.[7]

Auswirkungen der französischen Kolonialentwicklung auf das Denken in der Weimarer Republik

Was Le Cour Grandmaison nicht verfolgt, ist, wie sich die republikanisch-imperialistische Entwicklung Frankreichs auf das politische Denken in Deutschland auswirkte und ähnliche Karrieren hervorbringen konnte, in denen, wie es Le Cour Grandmaison für die Politikkarriere von Georges Clemenceau beschreibt, demokratische Überzeugungen im Großmachtstreben auf der Strecke blieben. Ein deutsches Beispiel liefert der spätere NS-Politiker Wilhelm Ziegler, in der Weimarer Republik Anhänger Friedrich Eberts und überzeugter Demokrat, der allerdings den „Lebensraum“ der Deutschen zwischen Rhein, Donau und Weichsel herzustellen als nächste politische Aufgabe ansah. Er orientierte sich 1927 und in zweiter Auflage 1929 in seiner „Einführung in die Politik“ am französischen Nachbarn, an linken Republikanern (Edouard Herriot) und der Verwandlung der Republik in ein Weltreich:

Aber ich weiß, dass auch diese spezielle französische Begabung der Ideenpolitik die Welt nicht von selbst friedlich erobert hat. Diese köstliche Frucht des geistigen Imperiums in der Welt ist der französischen Nation nicht vom Himmel in den Schoß gefallen. Politik ist auch hier kein paradiesisches Märchenland, sondern ein Ackerfeld, an dessen Pforte steht: ‚Im Schweiße deines Angesichts sollst Du Dein Brot essen!‘ Frankreich hat in den Jahrzehnten nach der Niederlage von 1871, die den französischen Nationalstolz aufs tiefste verletzt hatte, planmäßig und aufopfernd eine Organisation der Kulturpropaganda im eigenen Lande und in der Welt draußen aufgebaut, die rein technisch-handwerklich eine bewundernswerte Leistung noch heute darstellt. Für diese Organisation haben Männer und Volk großartige Opfer an Zeit, Arbeit und Geld gebracht. Nur auf dem festen Fundament dieser Organisation von Vereinen und Verbänden ist das Gebäude der französischen ideellen Weltstellung erstanden, das wir heute immer wieder staunend beobachten und betrachten. Wohl hat dieses Volk eine so bezaubernde und einschmeichelnde, präzise und doch musikalische Sprache, die eine seltene natürliche Brücke zu den Herzen der anderen Völker bildet, wie wir sie leider nicht besitzen. Wohl hat es den Charme und den Esprit, der namentlich bei jugendlichen und subalternen Völkern als Muster und Juwel gebildeter Kultur gilt. Wohl hat es den hinreißenden Schwung und das tönende Pathos, das nur den Romanen eignet. Aber es hat zugleich auch organisatorisch und handwerklich gearbeitet an der Organisation und Entfaltung der französischen Idee und ihres Exportes in die Welt. Und daran hat es bei uns gerade gefehlt![8]

Anmerkungen

  1. Es liegen noch keine deutschen Übersetzungen seiner Bücher vor.
  2. Le 17 octobre 1961: un crime d’État à Paris, sous la dir. de O. Le Cour Grandmaison, Les Editions La Dispute: Paris 2001.
  3. Le retour des camps: Sangatte, Lampedusa, Guantanamo, sous la dir. de O. Le Cour Grandmaison, G. Lhuilier, J. Valluy, Editions Autrement: Paris 2007.
  4. Haine(s): Philosophie et politique, avant-propos d’Étienne Balibar, PUF: Paris 2002.
  5. Code de l'indigénat
  6. Olivier Le Cour Grandmaison, Coloniser. Exterminer. Sur la guerre et l’État colonial, Fayard.Paris 2005.
  7. Olivier Le Cour Grandmaison, La République impériale. Politique et racisme d’État, Fayard: Paris 2009, S. 343. - Als Beispiel einer solchen Dekontextualisierung erscheint ihm Eberhard Jäckel in seinem Buch „Hitlers Weltanschauung. Entwurf einer Herrschaft“ (1981), wohingegen Yehuda Bauer feststelle, dass die heute als rassistisch geltenden Vorstellungen bereits den Kolonisatoren der Neuen Welt, des Fernen Ostens und Afrikas nicht fremd gewesen seien.
  8. Wilhelm Ziegler, Einführung in die Politik, 2. Auflage, Berlin 1929, S. 288 f.

Werke

  • Les Citoyennetés en Révolution, 1789-1794, PUF: Paris 1992; ISBN 2-130-44630-2.
  • Haine(s): Philosophie et Politique, PUF: Paris 2002: ISBN 2-130-52608-X.
  • Coloniser, Exterminer. Sur la guerre et l'Etat colonial; Fayard: Paris 2005; ISBN 2-213-62316-3.
  • La République impériale. Politique et racisme d’État, Fayard: Paris 2009; ISBN 2-213-62515-8.

Weblinks


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