Günter Lüling

Günter Lüling

Günter Lüling (* 25. Oktober 1928 in Warna, Bulgarien) ist ein deutscher Theologe, Staatswissenschaftler sowie promovierter Arabist und Islamwissenschaftler. Lüling war Direktor des deutschen Goethe-Instituts in Aleppo (Syrien) und gilt aufgrund seiner Studien zum christlichen-häretischen Ursprung des Korans als wichtiger früher Vertreter der antitraditionalistischen Koranforschung.

Inhaltsverzeichnis

Biographie

Die Lüling-Familie hat weit zurückreichende Verbindungen in den Nahen Osten und zur Orientalistik: Der preußische General Theodor Lüling (* 1762) war als Gesandter an der Hohen Pforte in Konstantinopel tätig, und Lülings Vater Gerhard kämpfte als preußischer Offizier von 1916 bis 1918 im deutschen kaiserlichen Palästinakorps an der Seite der Osmanen. Lülings älterer Vetter Hans Heinrich Schaeder war ein international angesehener Orientalistik-Professor in Berlin und Göttingen. Von 1925 bis 1935 arbeitete Lülings Vater als Mitarbeiter des Hilfsbunds für christliches Liebeswerk im Orient.

Mit der Rückkehr nach Deutschland übernahm Lülings Vater eine protestantische Pfarrei bei Köslin (Hinterpommern). Gegen den vierzehnjährigen Günter Lüling lief in den Jahren 1942/43 ein Verfahren wegen seiner Ablehnung der Führerschaft der örtlichen Hitlerjugend. Das Urteil fiel glimpflich aus, und ab Januar 1944 diente Lüling als Marinehelfer, ab März 1945 als Panzergrenadier der Wehrmacht. Am Kriegsende geriet er in Kriegsgefangenschaft. Nach der Freilassung im Herbst 1945 wurde er zum Maurer ausgebildet.

1949 holte er in Wolfenbüttel das Abitur nach und studierte ab 1950 an der Universität Göttingen protestantische Theologie mit Spezialisierung auf das Alte Testament, die aramäische und altarabische Sprache sowie die Nebenfächer Klassische Philologie und Germanistik (theologisches Examen: 1954). Aufgrund seiner anti-trinitarischen Ansichten im Geiste Albert Schweitzers und Martin Werners waren Lüling sowohl der Kirchendienst als auch die theologische Promotion unmöglich. Darum nahm er ab 1954 ein Zweitstudium in Erlangen auf, diesmal Staatswissenschaften mit den Nebenfächern Arabistik, Islamwissenschaft, Religionswissenschaften und Soziologie, das er 1957 mit Diplom abschloss. Eine Promotion in Islamwissenschaft wurde ihm aufgrund anti-traditionalistischer Auffassungen ebenfalls verwehrt.

Nach seiner Hochzeit mit Hannelore Lüling arbeitete er von 1961 bis 1965 als Dozent des Goethe-Instituts München und übernahm von 1962 bis 1965 das Direktorat des Goethe-Instituts in Aleppo (Syrien), wo dem Paar zwei Kinder geboren wurden. In Syrien erlernte Lüling die arabische Umgangssprache, was ihm in seinen späteren Arbeiten zum Urkoran entscheidend helfen würde. 1965 kehrte die Familie nach Deutschland zurück. Lüling wurde im Herbst 1965 an der Universität Erlangen zunächst Widerrufsbeamter und wissenschaftlicher Assistent im Fach Medizingeschichte, dann ab Herbst 1967 in Arabistik und Islamwissenschaft.

1970 gelang ihm über die Rekonstruktion ausgewählter Koransuren als altchristliche poetische Strophen die Promotion mit der Bewertung eximium opus, was der Annahme der Dissertation als Habilitationsschrift gleichkommt. Trotzdem wurde er Ende 1972 aus dem Hochschuldienst entlassen und lebte bis zur Verrentung 1991 von Arbeitslosenhilfe. Gegen seine Entlassung hatte Lüling erfolglos Rechtseinspruch erhoben. Sein Antrag auf Habilitation mit einer erweiterten Fassung seiner Dissertationsschrift wurde 1974 abgelehnt. So wurden nach einem sechsjährigen Rechtsstreit trotz positiver Gutachten von angesehenen ausländischen Wissenschaftlern die Habilitationsablehnung und seine Entlassung bestätigt. Mittlerweile ist sein islam- und korankritisches Werk in Fachkreisen - auch in muslimischen - weltweit bekannt.

Seit 1974 veröffentlicht Günter Lüling die meisten seiner Bücher über die Verlagsbuchhandlung seiner Ehefrau. Eine der ersten Publikationen war das zur Habilitation vorgesehene Buch Über den Ur-Qur'an, das v.a. seit Erscheinen der englischen Übersetzung (2003) im Ausland wohlwollend diskutiert wurde und im Rahmen der erstarkten anti-traditionalistischen Koranforschung eine späte Rehabilitierung erfuhr (s.u.). Trotzdem ist Lülings Werk in deutschen Akademikerkreisen mit wenigen Ausnahmen bislang unbeachtet geblieben. Die deutsche Tagespresse hat ihn erst spät und selten gewürdigt,[1] nennt ihn jedoch auch einen „der großen Geistes- und Religionswissenschaftler als auch Islamforscher unserer Zeit“.[2] Weitere Anträge Lülings um Forschungsstipendien und eine Übersetzung von Über den Ur-Qur'an wurden regelmäßig abgelehnt. Aufgrund der akademischen Isolierung seiner Forschungen und Forschungsvorhaben veröffentlichte Lüling seine Artikel zeitweise im Umfeld der Chronologiekritiker um Uwe Topper und Heribert Illig.

Gegenwärtig arbeitet Günter Lüling an einem zweibändigen Werk über die Vor- und Frühgeschichte der Hebräer, deren transgressives und mediatorisches Wirken er als maßgeblichen Faktor für die Entwicklung vom Häuptlingstum zum Königtum sowie für die Ausbildung der vorgeschichtlichen und antiken Religionen im Mittelmeerraum und im Gebiet des fruchtbaren Halbmondes sieht, insbesondere der abrahamitischen Religionen, aber z.B. auch der altitalischen Kulte.

Koran- und Islamforschungen

Günter Lüling hat in seiner Studie zum Urkoran, die erst durch die in Indien erschienene englische Übersetzung einer größeren Forschergemeinde bekannt wurde, die Hypothese aufgestellt, dass der ursprüngliche Koran des Propheten Mohammed auf nicht-trinitarischen altchristlichen Strophenliedern beruht und somit essentielle Teile des Koran als christliche Hymnen- und Strophendichtungen schon vor dem Wirken des Propheten existierten. Hiermit verweist Lüling auf Adolf von Harnacks These, nach der der Islam „eine Umbildung der von dem gnostischen Judenchristentum selbst schon umgebildeten jüdischen Religion auf dem Boden des Arabertums durch einen großen Propheten“ sei. (Siehe auch die Literaturangaben für verwandte Forschungen.)

Veröffentlichungen

  • Kritisch-exegetische Untersuchung des Qur'antextes, Erlangen 1970 (Inaugural-Dissertation)
  • Die einzigartige Perle des Suwaid b. Ab¯i K¯ahil [Ibn-Ab¯i-K¯ahil] al-Yaskur¯i, zweiter Teil — Über die eindeutige Christlichkeit dieses in der vorislamischen Heidenzeit hochgerühmten Gedichtes, Erlangen 1973
  • Über den Ur-Qur'an. Ansätze zur Rekonstruktion vorislamischer christlicher Strophenlieder im Qur'an, Erlangen 1974 (Neudruck: 1990, 3. korr. Aufl.: 2004), ISBN 3-922317-18-9
  • Zwei Aufsätze zur Religions- und Geistesgeschichte, darin: 1. „Der vorgeschichtliche Sinn des Wortes ‚Metall‘“ & 2. „Avicenna und seine buddhistische Herkunft“, Erlangen 1977
  • Der christliche Kult an der vorislamischen Kaaba als Problem der Islamwissenschaft und christlichen Theologie, Erlangen 1977 (2. korr. Aufl.: 1992), ISBN 3-922317-16-2
  • Die Wiederentdeckung des Propheten Muhammad. Eine Kritik am ‚christlichen‘ Abendland, Erlangen 1981, ISBN 3-922317-07-3
    • Rezension von A. A. Brocket in: International Journal of Middle East Studies, Bd. 13, Nr. 4, 1981, S. 519–521
  • „Das Passahlamm und die Altarabische ‚Mutter der Blutrache‘, die Hyäne. Das Passahopfer als Initiationsritus zu Blutrache und heiligem Krieg“, in: Zeitschrift für Religion und Geistesgeschichte 34, Leiden 1982, S. 131–147, ISBN 3-922317-11-1
  • „Archaische Wörter und Sachen im Wallfahrtswesen am Zionsberg“, in: Dielheimer Blätter zum Alten Testament 20, 1984, S. 52–59
  • Sprache und archaisches Denken. Neun Aufsätze zur Geistes- und Religionsgeschichte, Erlangen 1985, ISBN 3-922317-13-8
  • A challenge to Islam for reformation. The rediscovery and reliable reconstruction of a comprehensive pre-Islamic Christian hymnal hidden in the Koran under earliest Islamic reinterpretations, Motilal Banarsidass Publishers, New Delhi 2003 (rev. und erw. engl. Ausgabe von Über den Ur-Koran), ISBN 81-2081952-7
  • Sprache und Archaisches Denken. Aufsätze zur Geistes- und Religionsgeschichte, Erlangen 2005
  • Weitere Aufsätze:
    • „Islam und Geschichte Israels“, Beitragsentwurf zum Colloqium „Koran and Hadith“ (Univ. Cambridge), Erlangen 1985
    • „Semitisch Repha'im und Teraphîm sowie griechisch Orpheus“, in: Zeitensprünge Bd. 1, 1995, S. 31–35
    • „Europäische Investitur und archaisches semitisches Maskenwesen“, in: Zeitensprünge Bd. 4, 1995, S. 432–449
    • „Das Blutrecht (die Blutrache) der archaisch-mythischen Stammesgesellschaft. Zum schriftkulturellen Staatsrecht“, in: Zeitensprünge. Interdisziplinäres Bulletin, Bd. 2, 1999, S. 217–227
    • „Das Problem Hebräer“, in: Zeitensprünge Bd. 2, 2000, S. 180–193
    • „Preußen von gestern und der Islam von morgen“, Erlangen 2006, in: Aufklärung und Kritik. Zeitschrift für freies Denken und humanistische Philosophie, Sonderheft 13 (2007): Islamismus. S. 291–310

Literatur

Ibn Warraq hat es unternommen, die zahlreiche ältere deutsche korankritische Literatur, auf die Lüling sich stützt, der weltweiten Wissenschaft durch englische Übersetzungen zur Kenntnis zu bringen.

  • Ibn Warraq (Hrsg.), Origins of the Koran: Classic Essays on Islam's Holy Book, Prometheus Books 1998, ISBN 1-57392-198-X
  • Ibn Warraq (Hrsg.), Quest for the Historical Muhammad, Prometheus Books 2000, ISBN 1-57392-787-2
  • Ibn Warraq (Hrsg.), What the Koran Really Says: Language, Text and Commentary, Prometheus Books 2002, ISBN 1-57392-945-X

Weitere Literatur:

  • Carsten Colpe, Das Siegel der Propheten. Historische Beziehungen zwischen Judentum, Judenchristentum, Heidentum und frühem Islam, Berlin 1990, ISBN 3-923095-32-5
  • Karl-Heinz Ohlig, Der frühe Islam. Eine historisch-kritische Rekonstruktion anhand zeitgenössischer Quellen, Berlin 2007, ISBN 3899300904
  • Karl-Heinz Ohlig & Gerd-R. Puin, Die dunklen Anfänge. Neue Forschungen zur Entstehung und frühen Geschichte des Islam, Berlin 2005 (3. Aufl.), ISBN 978-3899301281
  • Christoph Luxenberg, Die Syro-Aramäische Lesart des Koran. Ein Beitrag zur Entschlüsselung der Koransprache, Berlin 2002 (3. Aufl.: 2007), ISBN 978-3899300284

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Z.B. Wolfgang Günter Lerch, „Über christliche Strophen im Koran“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. Juni 2004; Nicolai Sinai, „Auf der Suche nach der verlorenen Vorzeit: Günter Lülings apokalyptische Koranphilologie“, in: Neue Zürcher Zeitung, 19. Februar 2004, S. 37 et al.
  2. Thomas Kapielski, "Tief gestapelt: Bibelforscher", in: Frankfurter Rundschau, 10. März 2005, S. 32

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