Alice Ricciardi-von Platen

Alice Ricciardi-von Platen
Alice Ricciardi-von Platen um 1939.

Alice Ricciardi geb. Gräfin von Platen-Hallermund (* 28. April 1910 in Weissenhaus; † 23. Februar 2008 in Cortona) war eine italienische Ärztin und Psychoanalytikerin deutscher Abstammung. Bekannt wurde sie als Autorin des Buches Die Tötung Geisteskranker in Deutschland, der weltweit ersten Dokumentation über die Massenmorde des NS-Regimes an psychisch belasteten Menschen. Sie lebte ab 1967 in Italien und wurde in den 1970er Jahren zur ersten Gruppenanalytikerin Italiens. Gemeinsam mit Michael Hayne und Josef Shaked hat sie 1975 die Altausseer Ausbildungskurse der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Gruppenanalyse gegründet.

Inhaltsverzeichnis

Leben und Werk

Alice Ricciardi entstammte dem schleswig-holsteinischen Grafengeschlecht von Platen-Hallermund, dessen berühmtester Nachkomme der Ansbacher Schriftsteller August Graf von Platen war. Nach ihrer Geburt 1910 wuchs sie auf dem holsteinischen Gut Weißenhaus als jüngste von vier Töchtern des Grafen Carl von Platen-Hallermund (1870–1919) und der Elisabeth von Alten (1875–1970) auf. Ihr Vater starb früh. Sie besuchte das Internat der Schule Schloss Salem, das damals unter der Leitung von Kurt Hahn war. Nach Abschluss des Medizinstudiums in Heidelberg 1934 und der anschließenden Famulatur in einem Berliner Kinderspital verbrachte sie die Jahre 1939 und 1940 in Florenz und Rom. Danach kehrte sie mit ihrem Sohn Georg zurück nach Deutschland und praktizierte bis 1945 als Landärztin (in Bayern oder in Österreich, divergierende Quellen), wo sie mit der Euthanasie-Aktion konfrontiert war, jedoch nur wenige Patienten retten konnte. Nach Kriegsende übernahm sie eine Stelle als Voluntarassistentin an der psychosomatischen Universitätsklinik in Heidelberg bei Viktor von Weizsäcker, wo sie ihre psychotherapeutische Ausbildung fortführte. Ab Dezember 1946 war sie offizielle Beobachterin des Nürnberger Ärzteprozesses, im Jahr 1947 beobachtete sie den Hadamar-Prozess in Frankfurt/Main. Danach ging sie – noch 1947 – an die Nervenklinik St. Getreu in Bamberg zu Prof. Zillich.

1949 übersiedelte Alice von Platen-Hallermund nach London, wo sie in einer psychotherapeutischen Eheberatungsstelle – unter Supervision von Michael Balint – sowie an psychiatrischen Krankenhäusern arbeitete. Sie schloss ihre psychoanalytische und ihre gruppenanalytische Ausbildung ab und wurde Mitglied der Group Analytic Society. Sie lernte den Organisationsberater Augusto Baron Ricciardi (1915–1982) kennen, den sie 1956 heiratete und nach Belgien und Libyen begleitete. Ab 1967 lebte und praktizierte sie bis zu ihrem Tod im Jahr 2008 als Psychoanalytikerin in Rom und in Cortona (in der Toskana). Das Grab von Alice Ricciardi befindet sich am Friedhof von Altaussee, wenige Meter vom See entfernt.

Karl Brandt, Hitlers Beauftragter für die Tötungen der Aktion T4 im Rahmen der sogenannten „Euthanasie“, während des Urteilsspruchs im Nürnberger Ärzteprozess

Beobachterin beim Nürnberger Ärzteprozess

Internationale Aufmerksamkeit erlangte Alice von Platen-Hallermund durch ihre Tätigkeit als Mitglied der Beobachterkommission beim Nürnberger Ärzteprozess. Als die amerikanische Militärregierung 1946 ankündigte, die inhumanen Menschenversuche und den Tod von etwa hunderttausend Geisteskranken gerichtlich zu verfolgen und die verantwortlichen Ärzte zur Rechenschaft zu ziehen, wurde von den westdeutschen Ärztekammern eine Beobachterkommission unter der Leitung von Alexander Mitscherlich nach Nürnberg entsandt. Während Mitscherlichs Augenmerk vor allem auf den Menschenversuchen und auf rechtlich-politischen Fragen des Prozesses lag, befasste sich Alice von Platen-Hallermund besonders mit der Euthanasie von psychiatrischen Patienten und Patientinnen. Sie empfand die Morde an psychisch kranken Menschen als Ausdruck einer Systemkriminalität, in der die Psychiatrie tief verstrickt war und von der die gesamte deutsche Ärzteschaft gewusst hatte.

„Die Tötung Geisteskranker in Deutschland“

Dem Buch Die Tötung Geisteskranker in Deutschland von Alice von Platen-Hallermund, das die Mittäterschaft deutscher Ärzte an den nationalsozialistischen Euthanasieverbrechen thematisierte, erging es nicht anders als dem von Mitscherlich und Mielke herausgegebenen Dokumentationsband Medizin ohne Menschlichkeit. Beide Bücher erfuhren keinerlei Echo.

Über die Stimmung in der Nürnberger Bevölkerung berichtete von Platen-Hallermund 1993 rückblickend: „Die Nürnberger Bevölkerung wollte vom Ärzteprozess nichts wissen mit der Begründung, dass doch die Ärzte keine Verbrechen begangen hätten. Es bestand ein Hass auf die Nicht-Nazis, die Sozialisten und Exilanten. Es gab keine Anzeichen für eine Stunde Null. Es war niederschmetternd.“[1]

Im März 1947 gaben Alexander Mitscherlich und Fred Mielcke mit der Dokumentation „Das Diktat der Menschenverachtung“ einen ersten Einblick in die beim Nürnberger Ärzteprozess bekannt gewordenen Greuel. Das in einer Auflage von 25.000 Exemplaren gedruckte Buch verschwand fast vollständig vom Markt, ohne - wie vorgesehen - an die deutsche Ärzteschaft verteilt worden zu sein. 1960 legten die Autoren das Buch in einer überarbeiteten und erweiterten Version unter dem Titel „Medizin ohne Menschlichkeit“ neu auf. Alice Ricciardi von Platens 1948 erschienenes Buch „Die Tötung Geisteskranker in Deutschland“ erlebte ein vergleichbares Schicksal. Nur etwa 20 Exemplare der 3.000 Stück umfassenden Erstauflage gelangten in Umlauf.

Neuauflagen 1993 und 2005

Der Sozialpsychiater Klaus Dörner entdeckte Ricciardis Werk wieder und veranlasste eine Neuauflage. Nach dem Erfolg des Buches wurde Alice Ricciardi-von Platen 1996 zur Präsidentin des Kongresses Medizin und Gewissen ernannt, in dem die Irrwege der Medizin 50 Jahre nach dem Nürnberger Ärzteprozess unter historischen, psychologischen und ethischen Aspekten aufgearbeitet wurden. Der Kongress fand von 25. bis 27. Oktober 1996 in Nürnberg statt, Schirmherrin war Rita Süßmuth, Präsidentin des Deutschen Bundestages.

Zitat

„So lange Menschen leben, wird nur ein Teil von ihnen der Norm eines Durchschnittsmenschen entsprechen; doch wäre das Leben farblos und wir arm an Kenntnis und Wissen über den Menschen und sein Sein, wenn wir zuließen, dass die „Abnormen“ kurzerhand beseitigt würden. Gerade Geisteskranke mit der Fülle ihrer Visionen und inneren Bilder stellen uns mitten in die Problematik des Menschseins; gerade dem Geisteskranken sollte unsere Ehrfurcht und Liebe gelten, ist er doch in besonderer Weise hilflos den Dämonen preisgegeben und aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen – wenn auch den „Göttern näher“, wie Norbert von Hellingrath in einer Rede über Hölderlins Wahnsinn schrieb.“

Alice Platen-Hallermund: Die Tötung Geisteskranker in Deutschland

Ehrungen

Publikationen

  • Alice Platen-Hallermund: Die Tötung Geisteskranker in Deutschland. Aus der Deutschen Ärztekommission beim Amerikanischen Militärgericht. Frankfurter Hefte, Frankfurt/Main 1948.
  • Alice Ricciardi-von Platen: Die Entwicklung der gruppenanalytischen Ausbildung durch die Internationale Arbeitsgemeinschaft für Gruppenanalyse in Altaussee. In: Georg R. Gfäller (Hrsg.): Gruppenanalyse, Gruppendynamik, Psychodrama. Quellen und Traditionen – Zeitzeugen berichten. Der Umgang mit Gruppenphänomenen in deutschsprachigen Ländern. Mattes, Heidelberg 2006, ISBN 3-930978-87-3.

Quellen

  • Stefan Kolb, Horst Seithe (Hrsg.): Medizin und Gewissen. Mabuse-Verlag, 1997, ISBN 3-929106-52-3
  • Margarethe Seidl: Alice Ricciardi-von Platen 90 Jahre. In: Jahrbuch für Gruppenanalyse, Band 6, Heidelberg 2000, ISBN 3-930978-49-0
  • Josef Shaked: Über Alice Ricciardi-von Platen. Auf gruppenanalyse.info
  • Helmut Sörgel: Eine Frau, die das Schweigen gebrochen hat. Die Ehrenvorsitzende des Kongresses „Medizin und Gewissen“ 1996, Alice von Platen; Quelle siehe unter Weblinks

Dokumentarfilm

  • Hanna Laura Klar: Die Protokollantin des Grauens. Über Alice Ricciardi. DigiBeta, Farbe, 80 Min. Klar Filmproduktion, Frankfurt a.M. 2007

Weblinks

Einzelnachweise

  1. zitiert nach Helmut Sörgel: Die Frau, die das Schweigen gebrochen hat. Dr. Alice Riccardi-von Platen wurde gestern 90 Jahre alt – sie gehörte zur Beobachter-Kommission beim Nürnberger Ärzte-Prozess. Nachwort in: Die Tötung Geisteskranker in Deutschland. (Auflage 2006, Erstveröffentlichung in der Nürnberger Zeitung vom 29. April 2000.)

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