Heilige Kuh

Heilige Kuh

Der Begriff Heilige Kuh bezeichnet

1. in der Ethnologie eine aus religiösen sowie aus ökonomischen Gründen als unantastbar erklärte Kuh. In vielen weidewirtschaftlich oder nomadisch geprägten Kulturen galt und gilt die Kuh als Statussymbol und Gradmesser des Vermögens; eine Schlachtung käme einer Vernichtung desselben gleich.

2. im übertragenen Sinn in der Umgangssprache ein Tabu, also etwas, das nicht angetastet werden darf oder an dem nichts zu rütteln ist.

Inhaltsverzeichnis

Rinderkult in alten Kulturen

Rinder

Schon seit alten Zeiten ist das Rind Lieferant von Nahrung, Kleidung, sogar Behausung, Zugtier und Energiespender. Die Welt der Tiere war mit dem menschlichen Leben aufs engste verknüpft. Tiere, besonders Rinder, waren in allen Religionen in Rituale einbezogen. Im Nahen Osten und im Mittelmeerraum schlachteten Priester Tiere zeremoniell, ein Teil des Fleisches wurde den Göttern geopfert. Das Tier, meist eine Kuh, wurde gewaschen, geschmückt und vor den Altar geführt.

Lebendige Spuren von Rinderkult finden sich auch im deutschsprachigen Raum sowohl in Süddeutschland als auch in Österreich wie etwa der Almabtrieb im Herbst und der besonders geschmückte Pfingstochse. In Bayern wurde eine 6000 Jahre alte Stierplastik gefunden, deren Rücken einen Kelch formt. Vermutlich seit der Hallstattzeit galt der Stier als heiliges Tier, wie unzählige Spuren belegen. Die Salzburger wurden im Mittelalter bis in die frühe Neuzeit 'Stierwascher' genannt, noch heute einfach: 'Salzburger Stiere'.

Bei den alten Italikern war der Stierkult ausgeprägt. Wahrscheinlich geht der Name Italien darauf zurück: von 'vituli', was bedeutet 'Jungstiere', 'Söhne des Stiergottes'. Eindeutig sind auch die Stierkämpfe der iberischen Halbinsel und Südfrankreichs kultischen Ursprungs, wie auch das Stierhetzen ohne Töten in anderen Ländern. Im minoischen Kreta gab es einen Stierkult. Der Minotauros und Stierkämpfe spielten dabei eine Rolle.

Im Mithras-Kult gehörte die Tötung eines Stieres zu den zentralen Kulthandlungen.

Auch im frühen Alten Ägypten genoss die Kuh religiöse Hochschätzung. Der Himmel wurde als große nahrungsspendende Kuh angesehen, die mit vier Beinen auf der Erde stand. Später mit Isis identifiziert, wurde auch ihre Schlachtung selbst zu sakralen Zwecken tabuisiert.[1]

Indien

In Indien weist schon der Sanskrit-Name aghnya (die Unantastbare) auf eine vergleichbare Tradition. In den hinduistischen Religionen ist der Schutz der Kuh bis in die heutige Zeit ein wichtiges Element. Für die meisten Hindus ist die Kuh unantastbar. Selbst jenen, denen sie nicht ‚heilig‘, sondern lediglich ein wichtiges Symbol ist, hat sie doch einen besonderen Stellenwert und das Töten von Kühen ist für die meisten undenkbar. Für traditionelle Hindus wäre dies ein besonders verunreinigendes Vergehen; und sind auch nicht alle Vegetarier, so ist es für die meisten ausgeschlossen, Rindfleisch zu essen. In der Geschichte war der Kuhschutz so wichtig, dass islamische Eroberer ihren Heeren oft Kühe vorantrieben, wodurch Hindus sie nicht angreifen konnten.

Mythologisches und Sitten

Heilige Kuh auf den Straßen von Delhi

Schon in den ältesten der Hinduschriften, den Veden, kommt in der bildhaften Sprache die Kuh als Göttin vor, die Verkörperung der Erde, Prithivi Mata. Auch viele andere der hinduistischen Schriften bezeichnen sie an einigen Stellen als Göttin, besonders häufig ist die Wunschkuh, die Erfüllerin der Wünsche mit dem Namen Kamadhenu.

Besonders mit der Kuh verbunden ist Krishna, die heute besonders populäre Inkarnation des hinduistischen Gottes Vishnu. Er wuchs unter Kuhhirten auf, er ist Gopala, der Kuhhirte und im Bhagavatapurana, jene der heiligen Schriften, die seine Lebensgeschichte überliefert, spielt die Kuh eine wichtige Rolle. Die Bedeutung der Kuh drückt sich auch in der Bedeutung ihrer Produkte für den Ritus aus. Ohne Ghi, der geklärten Butter für das Licht und die Opferspeise, und ohne Milch und Joghurt als Opfer kann kein formeller hinduistischer Gottesdienst, eine Puja, stattfinden. Die Überlieferung bezeichnet sämtliche Kuhprodukte als besonders rein und reinigend.

Sind mit der Bezeichnung Kuh sowohl weibliche als auch männliche Tiere gemeint, so hat doch das weibliche einen höheren Stellenwert. Der Stier ist als Nandi das Begleittier des Gottes Shiva. Nandi-Statuen findet man sehr häufig am Eingang von Shivatempeln und in frühen Zeiten wurde Shiva selbst in dieser Form verehrt.

Die weibliche Kuh erfährt nur in ihrer lebendigen Form Verehrung, nie in Abbildungen. Zu besonderen Feiertagen oder zu besonderen privaten Anlässen - etwa einem Gedenktag oder einer Wallfahrt – kann man, teils unter der Anleitung eines Brahmanen, das Tier rituell berühren und bestimmte Gebete dazu sprechen. Im ländlichen Bereich ehrt man Kühe an bestimmten Tagen im Zusammenhang mit dem Lichterfest Divali: Dann werden sie geputzt, geschmückt und mit einem besonderem Futter ernährt. Als größtes Geschenk (mit dem die größten Verdienste erworben werden) empfehlen viele Hindu-Schriften eine Kuh. Dieses Ritual einer Kuh als Geschenk führt man heute meist symbolisch aus.

Heutige Hindus begründen die besondere Stellung des Tieres mit der Aussage, dass die Kuh eine Mutter sei, die Menschen alles zum Leben gebe. Sie bedeutet ihnen ein Symbol für Fürsorge und Lebenserhaltung. Der Atharvaveda schreibt „die Kuh ist Vishnu, der Herr des Lebens“. Vishnu gilt in der hinduistischen Götterwelt als Erhalter.

Bedeutung von Kühen in Indien

Krishna mit heiliger Kuh

In früheren Zeiten hatte die Kuh buchstäblich die Funktion des Erhalters; das Überleben der Menschen hing erheblich von ihr ab. So lieferte sie nicht nur Ernährung und Bekleidung, sondern auch wertvollen Dünger, Behausung, Medizin und Arbeitskraft. Noch heute ist sie für viele arme Bauern in Indien das einzige Zugtier und damit die Stütze der Landwirtschaft; für Millionen in Städten und Dörfern ist ihr Dung das wichtigste Heizmaterial für das tägliche Kochen, zum Bau der Häuser ist er in den Dörfern unerlässlich. Man mischt ihn auch dem Wasser bei, mit dem man Haus und Hof reinigt, besonders auch dem Platze für den Gottesdienst. Diese Reinigung findet nach Meinung gläubiger Hindus nicht nur auf der materiellen, sondern ebenso auf der spirituellen Ebene statt.

Mögen auch in einer modernen Welt viele diese Praxis als unhygienisch und abergläubisch empfinden, so hat sich der Dung doch als sehr wirksames Insektizid und Desinfektionsmittel erwiesen. Entsprechende Produkte werden heute gewerbsmäßig hergestellt. Dung und Urin von Rindern setzt die traditionelle Volksmedizin Ayurveda seit langem gegen verschiedene Krankheiten ein.

Das Herumgehen der Kühe in den Straßen, das Europäer an Indien als besonders typisch betrachten, hat einen einfachen Grund: Viele Bauern lassen ihre Kühe frei laufen, damit sie sich von Abfällen selbst ernähren, wodurch sie auch für das Gemeinwesen einen wichtigen Zweck erfüllen.

Schlachten von Kühen

Kühe in den Straßen von Jaipur, Indien (2011)

Traditionell schlachten Hindus keine Rinder, der Verzehr von Rindfleisch ist ein Nahrungstabu. Nach der Milchproduktion wird eine Kuh meist bis zu ihrem natürlichen Tod gefüttert. Der wirtschaftliche Druck ist auf dem Lande jedoch sehr stark und darum kommt es vor, dass Bauern unproduktive Tiere bei einem „Unfall“ sterben lassen oder sie für wenig Geld verkaufen. Um ihr Gewissen zu beruhigen, geben sie oft vor, nicht zu wissen, dass sie schließlich meist doch geschlachtet werden (etwa für die Lederproduktion), anstatt in einem fremden Stall ihr freies Futter zu bekommen, wie ihnen versprochen wurde. In einigen Gegenden in Indien gibt es sogenannte Gaushalas, Ställe, wo kranke oder alte Kühe bis an ihr Lebensende gefüttert werden. Wohlhabende unterstützen diese Ställe mit Spenden.

In den meisten indischen Bundesstaaten ist das Töten von Kühen gesetzlich verboten, eine unionsweite Regelung gibt es aber nicht. In Westbengalen und Assam ist nur das Schlachten von Rindern über 14 Jahren, die nicht mehr als Nutztier zu gebrauchen sind, sowie verletzten Tieren erlaubt. Grund dafür dürfte die wirtschaftlich wichtige Lederindustrie sein. Keine gesetzliche Regelung gibt es in den Bundesstaaten Kerala, Manipur, Meghalaya und Nagaland[2]. In manchen Bundesstaaten müssen zeitlich begrenzt zugunsten der muslimischen Bevölkerung Konzessionen gemacht werden.

Siehe auch

Quellen

  • Annika Backe: Die Stiere des Zeus. Stier und Mythos im antiken Griechenland. KulturKommunikation, Uplengen/Remels 2006.
  • Peter Jaeggi: Die heilige Kuh – Eine kleine indische Kulturgeschichte. Paulusverlag Fribourg/Schweiz 2009, ISBN 978-3-7228-0753-9.
  • Maarten J. Vermaseren: Mithras. Geschichte eines Kultes. Kohlhammer, Stuttgart 1965 (Urban-Bücher 83).

Weblinks

 Commons: Heilige Kuh – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. * Hans Bonnet: Kuh, in: Lexikon der ägyptischen Religionsgeschichte, Hamburg 2000 ISBN 3-937872-08-6 S. 402-405.
  2. Darstellung der rechtlichen Situation in den einzelnen Bundesstaaten

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