Hijra

Hijra
Hijra aus dem Panscheel Park in Neu Delhi, 1994

Hijra werden in den Gesellschaften Südasiens üblicherweise als Mitglieder „des dritten Geschlechts“ erachtet, und nicht als Mann oder Frau mit eindeutiger Geschlechtsidentität. Hijra sind genetisch meistens männlich, dann eventuell entmannt, seltener intersexuell oder weiblich. Sprachlich bezeichnen sich Hijra selbst meist als weiblich (oder auch als transgender[1]) und kleiden sich dementsprechend, werden dennoch häufig auch als Eunuchen bezeichnet bzw. wahrgenommen.

Inhaltsverzeichnis

Lebensform

Hijras leben meistens gezwungenermaßen in marginalisierten, dafür aber in eigenen, recht disziplinierten Gemeinschaften, anders als Frauen in der indischen Gesellschaft.

Obwohl sehr häufig angenommen wird, dass Hijra sich meistens einer rituellen Kastration und Penektomie unterziehen oder dieses wenigstens anstreben, um ganz von ihrer Schutzgöttin Bahuchara Mata angenommen zu werden und dadurch selbst zu einer wirksamen Segnung oder Verfluchung anderer als befähigt zu gelten, fehlten über in der Gegenwart tatsächlich durchgeführte genitale Operationen bislang verlässliche Quellen. Nach Angaben einer Gesundheitsorganisation in Mumbai, The Humsafar Trust (HST) [2], waren lediglich 8 Prozent der Hijra, welche die organisationseigene Klinik aufsuchten, rituell kastriert (nirwaan). Laut einer Studie der University of Delhi von 1983 führen die Hijras jedoch nach wie vor generell häufig Kastrationen durch. Langjährige Recherchen ergaben, dass 76 von 100 befragten Hijras kastriert waren. Oft wurden Kinder von verarmten Familien aufgekauft oder Straßenjungen aufgesammelt und diese Kinder dann später einer rituellen Kastration unterzogen, die in der Regel mit einer Penektomie verbunden war.[3]

Mitglieder dieser Gruppe bilden der hinduistischen Gesellschaft entsprechende Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaften, denen ein Guru vorsteht. Dieser muss für die materiellen und spirituellen Bedürfnisse seiner Schüler Sorge tragen und hat dafür ein Anrecht auf deren Einnahmen und Loyalität. Hijras tendieren dazu im Straßenbild aufzufallen durch ihre farbfrohe Kleidung und ihre aufwändig geschminkten Gesichter, besonders Augenlider und Lippenrot sowie sorgsam lackierten Fingernägel [4].

Traditionell verdienen Hijras ihren Lebensunterhalt durch Tanzen und Segnungen auf Hochzeiten, bei Hauseinweihungen und nach der Geburt von Söhnen. Diese Quelle von Geld und Anerkennung ist zwar immer weniger ertragreich und kann kaum mehr eine Hijra-Gemeinschaft ernähren, bleibt aber identitätsstiftend. Nur wenige andere Berufe stehen den Hijras offen und viele arbeiten daher als Prostituierte.

Einmal im Jahr treffen sie sich zu einem zweiwöchigen Festival in dem südindischen Dorf Kuvagam.

2009 gestand Indiens Wahlkommission Hijras ein drittes Geschlecht formaljuristisch zu, indem es ihnen die Möglichkeit eröffnete, auf den Stimmzetteln neben „männlich“ und „weiblich“ auch das Feld „anderes“ anzukreuzen.[5] Im Juni 2011 erkannte auch der Oberste Gerichtshof in Pakistan offiziell die Existenz eines dritten Geschlechts an. Damit sind Hijras weltweit einzig in Indien und Pakistan offiziell als Geschlecht gleichberechtigt. Ein drittes Geschlecht gibt es formaljuristisch ansonsten einzig auf der Pazifikinsel Tonga.[6]

Identitätsverständnis

Obwohl der Anschluss an eine Hijra-Gemeinschaft für viele transsexuelle Frauen und Mädchen sowie intersexuell Geborene geradezu zwangsläufig ist, hat er auch stark religiöse Züge. Mit westlichen Trans-Frauen ist ihr Identitätsgefühl nicht ohne weiteres gleichzusetzen, obwohl in jüngerer Zeit immer mehr Verbindungen entstehen. Einige wenige Hijras versuchen nicht, möglichst weiblich zu erscheinen, sondern zeigen trotz ihrer traditionell weiblichen Kleidung durchaus ein männliches Erscheinungsbild. Wenige bekennen sich zum Islam, Christentum, Buddhismus oder hinduistischen Richtungen. Alle verbindet die Anhängerschaft an die Göttin Bahuchara Mata, unter deren Schutz sie stehen und deren Kraft sie verkörpern. Dabei gibt es einige Parallelen zu den antiken Galloi des Kybele-Kultes, wie beispielsweise die Verbindung mit Mächten der Fruchtbarkeit und Transformation und hier insbesondere den durch die vermeintlich in der Regel ausgeführte rituelle Kastration mit Penektomie erreichten Verlust verbunden mit dem Opfer der eigenen physischen Fruchtbarkeit.

Siehe auch

Literatur

  • Serena Nanda: Neither Man nor Woman - The Hijras of India, Wadsworth (1998) – ISBN 0-534-50903-7
  • Eva Fels: Auf der Suche nach dem dritten Geschlecht, Promedia, Wien (2005) – ISBN 3-85371-233-9
  • Meena Balaji (and others), As told to Ruth Lor Malloy: Hijras: Who We Are, eBook Publisher tdc Marketing and Management Consulatation (2000/2001)
  • Satish K. Sharma: Hijras – the labelled deviants, Gian Publ. House, Neu Dehli (2000) – ISBN 81-212-0266-3

Film

  • Between the lines, Film über Hijras von Thomas Wartmann (2005), DVD (2007)

Weblinks

 Commons: Hijra – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. „The Hijras of India. The story of those who describe themselves as 'transgender' “ – englische Dokumentation der BBC NEWS (Februar 2007)
  2. „The Humsafar Trust“ (HST) (englisch) – eine indische Stiftung, schwerpunktmäßig mit zahlreichen medizinischen und juristischen Hilfsprojekten im LGBT-Spektrum.
  3. Wildes Crescendo in: Der Spiegel nr. 41 /1983, S. 202-206
  4. „Between the Lines - Indiens drittes Geschlecht zwischen Mystik, Spiritualität und Prostitution ” Film der Fotografin Anita Khemka
  5. Indian eunuchs given separate IDs. BBC, 13. November 2009
  6. Madeleine Eisfeld: Rechte statt Romantik. Indien und Pakistan erkennen ein Drittes Geschlecht an. iz3w, Nr. 326, September/Oktober 2011, S. 29

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