Hypersexualität

Hypersexualität
Klassifikation nach ICD-10
F52.7 Gesteigertes sexuelles Verlangen
F52.8 Sonstige sexuelle Funktionsstörung, nicht verursacht durch eine organische Störung oder Krankheit
F52.9 Nicht näher bezeichnete sexuelle Funktionsstörung, nicht verursacht durch eine organische Störung oder Krankheit
F63.8 Störung der Impulskontrolle
ICD-10 online (WHO-Version 2011)

Als Hypersexualität wird in Medizin, Psychotherapie, klinischer Psychologie und Sexualwissenschaft ein gesteigertes sexuelles Verlangen bzw. sexuell motiviertes Handeln bezeichnet, das unterschiedliche Ursachen haben kann.

Inhaltsverzeichnis

Einordnung nach ICD-10

In der Krankheiten-Klassifizierungsliste der Weltgesundheitsorganisation namens ICD-10 kann die Hypersexualität unter verschiedenen Diagnoseschlüsseln kategorisiert werden. Die wichtigsten werden unter dem Kapitel F52 („Sexuelle Funktionsstörungen, nicht verursacht durch eine organische Störung oder Krankheit“) erwähnt:

  • F52.7 als „Gesteigertes sexuelles Verlangen“ bzw. als Satyriasis (Mann) oder Nymphomanie (Frau)
  • F52.8 als „Sonstige sexuelle Funktionsstörung, nicht verursacht durch eine organische Störung oder Krankheit“
  • F52.9 als „Nicht näher bezeichnete sexuelle Funktionsstörung, nicht verursacht durch eine organische Störung oder Krankheit“
  • F63.8 als „Störung der Impulskontrollen

Problematik der Abgrenzung

Obwohl es sich hier um einen sachlicheren Begriff als jenen der Satyriasis bzw. des „Donjuanismus“ des Mannes und der Nymphomanie der Frau zu handeln scheint, wird dieser heute dennoch von einigen Sexualwissenschaftlern abgelehnt, da eine Quantifizierung von sexuellen Motivationen oder Handlungsweisen nach deren Meinung als alleinige Grundlage für eine Normierung des Verhaltens im Bereich der Sexualität nicht ausschließlich herangezogen werden sollte. Wie oft ein Mensch in einer Woche oder an einem Tag sexuell aktiv sein darf, um damit ein noch normales Sexualverhalten an den Tag zu legen, ist mit solchen Angaben alleine nicht immer zu bestimmen. Ungeachtet dessen ist die Anzahl von sexuellen Handlungen in den meisten Fällen ein zuverlässiger Indikator für das Krankheitsbild der Hypersexualität.[1]

Was Alfred Charles Kinsey (1894-1956) 1953 im Kinsey-Report ironisch über die Nymphomanie sagte, gilt entsprechend abgewandelt auch für die Hypersexualität: Eine Hypersexualität kann bei einer Person festgestellt werden, die mehr Sex hat als Sie (A nymphomaniac is a woman „who has more sex than you do.“).[2] Dennoch bleibt festzustellen: Bei der „Hypersexualität“ kann es sich – sofern die Fallstricke einer subjektiven Wertung bei deren Diagnose erkannt wurden – um eine Störung handeln, die ein befriedigendes Leben des Betroffenen aufgrund vielfältiger Ursachen eventuell verhindert – auch wenn in ähnlich erscheinenden Fällen der Lustgewinn aller Beteiligten erhöht ist.

Dieses Verlangen bzw. Verhalten soll sich in unkontrolliertem Genuss von sexuellen Kontaktmitteln wie Pornografie, Telefonsex oder übermäßiger Masturbation, übermäßigen Sexualkontakten (Promiskuität) bis hin zum von manchen Therapeuten konstatierten suchtartigem Sexualverhalten manifestieren. Manche „Sexsüchtige“ streben demnach mehrmals täglich Orgasmen an, ohne tatsächlich Befriedigung zu erlangen. Dies alles gehe soweit, dass Familie, Beruf und sexfreie soziale Kontakte vernachlässigt werden.

Als Folge von Veranlagung oder Verletzung, haben Menschen mit dem Klüver-Bucy-Syndrom oft einen übersteigerten Sexualtrieb.

Zum Begriff „Sexsucht“

Sucht“ ist ein äußerst inflationär benutzter Begriff, der dementsprechend von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) seit 1964 nicht mehr benutzt wird. Wenn er im Folgenden verwendet wird, dann deshalb, weil er immer wieder auftaucht, ansonsten aber auch gleichbedeutend von „Hypersexualität“ gesprochen wurde. So schränkt Patrick Carnes „Sexsucht“ nach Christian Schulte-Cloos (Sexualität und Sucht)[1] folgendermaßen ein: „Nur ein außer Kontrolle geratenes Verhalten, das einhergeht mit den klassischen Anzeichen für Sucht – Besessenheit, Machtlosigkeit und die Benutzung von Sex als Schmerzmittel – weisen auf sexuelle Sucht hin.“

Vor allem in den Vereinigten Staaten wird „Sexsucht“ insbesondere von konservativen Kreisen als eigenständiges Krankheitsbild propagiert und auch dort kontrovers diskutiert. Peer Briken, Direktor des Instituts für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf sagte, dass es „selbst unter Therapeuten, die sich auf die Behandlung sexueller Probleme spezialisiert haben“ kaum Übereinstimmungen gäbe, „wie man eine Sexsucht diagnostizieren könnte“.

Martin Kafka, Psychiater von der Harvard Medical School definierte als „sexabhängig“, Menschen, die über einen Zeitraum von sechs Monaten wöchentlich mindestens sieben Orgasmen haben und sich täglich „ein bis zwei Stunden mit solchen Aktivitäten beschäftigen“. Als pathologisch seien demnach solche Personen einzustufen, deren sexuelle Phantasien und Verhaltensweisen so viel Raum einnehmen, dass sie für sonstige, nichtsexuelle Aktivitäten und Pflichten kaum noch Zeit finden; als Reaktion auf Angstzustände, Missstimmung und Langeweile auftreten und wiederholt als Antwort auf nervenaufreibende Ereignisse erfolgen. Weiter sagte er: „Exzessives hypersexuelles Verhalten ohne persönliche Not kann nicht als krankhaft bezeichnet werden“. Entscheidend sei der mit dem übersteigerten sexuellen Verlangen verbundene Leidensdruck.[3]

Geschichte

Das Phänomen des angeblich süchtigen sexuellen Erleben wurde in der Literatur auch früher beschrieben. Medizinisch wurde es erstmals von den zwei französischen Psychiatern Esquirol und Pinel (ca. 1830) als Störung gesehen und mit „Erotomanie“ bezeichnet. Im weltweit ersten wissenschaftlichen Lehrbuch über Störungen der Sexualität wird es von Krafft-Ebing (1896) aufgeführt und „sexuelle Hyperästhesie“ genannt. Sexualsucht, Hyperlibido, Hypererotizismus, Sexualzwang und Sexualabhängigkeit sind einige der benutzten Begrifflichkeiten, die seither gefunden wurden, um dieses Phänomen zu benennen. Geschlechtsspezifische Bezeichnungen haben auch Eingang in die Umgangssprache gefunden. So wird bei der Frau von Nymphomanin, beim Mann vom Casanova oder Don Juan gesprochen.

Siehe auch

Literatur

  • P. Briken, A. Hill, W. Berner: Syndrome sexueller Sucht. In: Batthyány, Dominik und Pritz, Alfred (Hrsg.): Rausch ohne Drogen. Substanzungebundene Süchte. Wien, New York 2009, S. 219-238
  • Carnes, Patrick: Wenn Sex zur Sucht wird. (Originaltitel: Don't Call It Love übersetzt von Karin Petersen), Kösel, München 1992, ISBN 3-466-30324-9.
  • Carnes, Patrick: Zerstörerische Lust. Sex als Sucht. (Originaltitel: Out of the Shadows übersetzt von Walter Ahlers). Heyne, München 1987, ISBN 3-453-00622-4.
  • Roth, Kornelius (2009): Sexsucht: Störung im Spannungsfeld von Sex, Sucht und Trauma. In: Batthyány, Dominik und Pritz, Alfred (Hrsg.): Rausch ohne Drogen. Substanzungebundene Süchte. Wien, New York, 239-256
  • Roth, Kornelius (2007): Sexsucht. Krankheit und Trauma im Verborgenen. Berlin, ISBN 978-3-86153-442-6
  • Roth, Kornelius (2000): Sexsucht. Therapie und Praxis. In: Poppelreuter, Stefan und Gross, Werner (Hrsg.): Nicht nur Drogen machen süchtig. Weinheim
  • Schneider, Bernd / Funke, Wilma (2000): Sexsucht. Theorie und Empirie. In: Poppelreuter, Stefan / Gross, Werner (Hrsg.): Nicht nur Drogen machen süchtig. Weinheim
  • Sigusch, Volkmar (2002): Leitsymptome süchtig-perverser Entwicklungen. Dtsch Arztebl 99: A 3420–3423 [Heft 50] PDF
  • von Kirchbach, Godela (2007): Wenn der Sex zur Sucht wird… Existenzanalyse 24, 1, 43-48 [1]
  • Universimed: Internetsexsucht: Sex im World Wide Web, aufgerufen am 22. Juli 2011

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b Christian Schulte-Cloos: Sexualität und Sucht
  2. Love and Romantic Relationships
  3. Schlacht am Venushügel Frank Thadeusz in DER SPIEGEL 19/2011
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