Irrungen Wirrungen

Irrungen Wirrungen

Irrungen, Wirrungen (in der Erstveröffentlichung in der Vossischen Zeitung vor dem ersten Kapitel im Untertitel als Berliner Alltagsgeschichte bezeichnet) ist ein Roman von Theodor Fontane, der im Jahr 1888 erschienen ist. Er behandelt das Motiv der unstandesgemäßen Liebe bzw. Mesalliance zwischen dem Baron und Offizier Botho von Rienäcker und der kleinbürgerlichen Schneidermamsell Magdalene Nimptsch, jedoch von allen als Lene bezeichnet. Beide können und wollen ihre Standesgrenzen nicht überwinden (Botho: „[...] dass das Herkommen unser Tun bestimmt. Wer ihm gehorcht, kann zugrunde gehn, aber er geht besser zugrunde als der, der ihm widerspricht.“) und heiraten schließlich einen anderen Partner, mit dem sie ein mäßig glückliches Leben bestreiten, denn, so Fontane am 16. Juli 1887 an Friedrich Stephany, den Chefredakteur der Vossischen: „Die Sitte gilt und muss gelten, aber daß sie’s muß, ist mitunter hart.“

Titelblatt der ersten Buchausgabe

Inhaltsverzeichnis

Handlung

Lene wohnt mit ihrer alten Pflegemutter Nimptsch in einem kleinen Häuschen auf dem Gelände einer Gärtnerei in der Nähe des Zoologischen Gartens in Berlin. Bei einer Bootspartie lernt sie Baron Botho von Rienäcker kennen. Während des Sommers kommen sich die beiden näher und verlieben sich rasch. Das Paar genießt seine Verliebtheit, Lene ist realistischer und gibt ihrer Liebe nicht, so wie Botho es vorgibt zu tun, eine große Chance für die Zukunft. Nach einigen Treffen mit Lene wird der Baron per Brief eines Tages zu einer Unterredung mit seinem Onkel Kurt Anton von Osten bestellt. Dieser erinnert ihn daran, dass er seiner reichen Cousine Käthe von Sellenthin so gut wie versprochen ist.

Eine gemeinsame Landpartie zu Hankels Ablage scheint zum Höhepunkt in Lenes und Bothos Beziehung zu werden. Als jedoch Bothos drei Freunde Balafré, Serge und Pitt mit ihren Mätressen „Königin“ Isabeau, Fräulein Margot und Fräulein Johanna hinzukommen, bemerkt der Aristokrat, dass er in der Öffentlichkeit aufgrund der vorhandenen Standesunterschiede keinen natürlichen Umgang mit Lene pflegen kann, und die Stimmung des Paares verschlechtert sich nachhaltig. Bald darauf erhält Botho einen Brief seiner Mutter, welche die prekäre Finanzlage der Familie bemängelt und Abhilfe durch die Heirat mit Käthe empfiehlt, so dass sich Botho von Lene trennt. Lene, die dieses von Anfang an kommen sah, hat Verständnis für Bothos Entschluss. Botho resigniert, und Lene entsagt.

Einige Wochen später heiratet der Baron seine Cousine, wobei ihn vor allem Vernunftgründe dazu bewogen haben. Bald bemerkt er die Oberflächlichkeit seiner Ehefrau, der es zudem an Ernsthaftigkeit fehlt. Als Lene ihren ehemaligen Geliebten zufällig von weitem auf der Straße sieht, beschließt sie, das Stadtviertel zu verlassen.

Im neuen Stadtviertel lernt Lene den Fabrikmeister Gideon Franke kennen. Nachdem dieser ihr einen Heiratsantrag gemacht hat, erzählt Lene von ihrem Vorleben. Franke, ein etwa fünfzigjähriger Sektierer, der schon einen Amerikaaufenthalt hinter sich hat, ist geneigt, über diese Vorgeschichte hinwegzusehen, sucht aber dennoch Botho in dessen Wohnung auf, um sich von der Beziehung zu Lene erzählen zu lassen. So erfährt Baron Botho vom Tod der Frau Nimptsch und besucht anschließend deren Grab, um dort den ihr versprochenen Immortellenkranz niederzulegen.

Botho verbrennt, von alten Erinnerungen aufgewühlt, Lenes Briefe und die Blumen, welche Lene mit einem Haar von sich zusammengebunden hatte. Dennoch kann dieser symbolische Akt seine Sehnsucht nach seiner ehemaligen Geliebten nicht beseitigen. Der Roman endet damit, dass Botho mit einer kleinen Bemerkung – anlässlich der Hochzeitsanzeige Lenes und Gideon Frankes in einer Zeitung – zu Selbsterkenntnis kommt: „Gideon ist besser als Botho.“

Figurenübersicht

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Das Motiv der standesübergreifenden Liebe

Das Motiv der standesklassenübergreifenden Liebe war im Jahr 1888 durchaus nicht neu für die Literatur. Auch im vorhergehenden Jahrhundert schon wurden Freiheit des Individuums und freie Partnerwahl als miteinander im Zusammenhang stehend betrachtet.

Am Ende des Romans haben Botho und Lene jeweils einen akzeptablen Ehepartner. Käthe zeichnet sich durch ihre Attraktivität, die finanzielle Absicherung, sowie durch die Sicherung der adligen Familientugend aus. Über Bothos Vorleben macht sie sich keine großen Gedanken, und als sie die verbrannten Briefe Lenes im Kamin findet, geht sie recht oberflächlich darüber hinweg. Auch Gideon sichert seine Partnerin finanziell ab. Im Gegensatz zu Käthe weiß er über Lenes frühere Liebschaften genauer Bescheid, entschließt sich aber bewusst, ihr diese zu verzeihen. Allerdings wird die Eheschließung zwischen Lene und Gideon Franke gleich vor der Kirche von Passantinnen kommentiert, die betonen, dass ein Ehemann, der doppelt so alt ist wie seine junge Frau, ohnehin keine großen Ansprüche erheben könne, und die ein mögliches Scheitern der Ehe andeuten: Franke könne Lene, wenn es wieder munkele, gleich mit seinen Vatermördern töten. Des Weiteren trägt Lene bei der Hochzeit keinen Hochzeitskranz auf ihrem Kopf, der für die Jungfräulichkeit der Braut steht, was ebenfalls zu irritierten und geschockten Kommentaren von den Zuschauern führt.

Rezeption des Romans

Der Roman erschien im Jahre 1887 zunächst in der Vossischen Zeitung und stieß bei den Lesern fast durchgängig auf Ablehnung und heftige Kritik. Selbst einer der Mitinhaber der Vossischen Zeitung äußerte der Schriftleitung gegenüber: "Wird denn die gräßliche Hurengeschichte nicht bald aufhören?"

Heutzutage ist nur noch schwer nachvollziehbar, dass die Darstellung dieser Liebesbeziehung als zu freizügig angesehen wurde. Auf Ablehnung stieß nicht nur, dass der Roman eine Beziehung zeigt, welche die Standesschranken nicht respektiert, von den meisten Lesern wurde es auch als problematisch empfunden, dass Fontane die Frau aus niederem Stand nicht nur als gleichwertig, sondern in mancher Weise auch als moralisch überlegen dargestellt hat.

Die Wahl der Namen

Zweimal wird im Roman selbst auf die Namen der Personen eingegangen: Frau Dörr meint, ein Christenmensch könne doch eigentlich gar nicht Botho heißen, und Botho selbst kommentiert Lenes Eheschließung gegenüber seiner jungen Frau mit dem vieldeutigen Satz: Gideon ist besser als Botho.

Dies bezieht sich im Kontext des Romans allerdings eher auf die Namensträger als auf die Namen selbst, denn während Botho der Gebieter bedeutet, lässt sich Gideon mit Hacker, Zerstörer übersetzen – beides keine ausschließlich positiven Assoziationen. In Kombination mit den Nachnamen der Figuren ergeben sich jedoch weitere Zusammenhänge.

Botho, dessen klägliche Vermögenslage im Roman von verschiedenen Personen ausgiebig besprochen wird, gebietet fast über rien – das französische Wort für nichts. Tatsächlich bestehen die Ländereien der Familie Rienäcker nicht mehr aus Äckern, sondern aus sumpfigen Ranunkelwiesen und einem romantischen, aber nutzlosen Muränensee. Er hat ebenfalls die gleichen Initialen wie Rexin (B. v. R.), dem er auch von der Liebe zu einer Bürgerlichen abrät.

Gideon, der wie sein biblischer Namensvetter gegen Ungläubige ins Feld zieht, trägt den Nachnamen Franke – der Freie. Tatsächlich erhebt er sich über gesellschaftliche Konventionen und besitzt die Freiheit, Lene trotz ihres nicht mehr makellosen Rufes zu ehelichen.

Lenes Vorname Magdalene wird dem Leser erst in der zweiten Hälfte des Romans deutlich. Man kann hier an die Assoziationen denken, die die katholische Kirche zeitweise zu Maria Magdalena hatte, aber auch daran, dass diese Frau eine der wenigen weiblichen biblischen Gestalten ist, die nicht nur über ihren Mann oder ihren Vater definiert werden, sondern eine gewisse Selbstständigkeit besitzen. In der ersten Hälfte des Romans allerdings lässt Lene auch an den Namen Helena denken, die auf die Helena von Troja, die schönste Frau im alten Griechenland, zurückzuführen ist. Auch Lene Nimptsch hat sich von Jugend auf daran gewöhnt, für sich selbst zu entscheiden und einzustehen. Ihr von der Adoptivmutter übernommener Nachname Nimptsch spielt auf den wirklichen Namen des Dichters Nikolaus Lenau an.

Käthe, eigentlich also Katharina, ist im Kontrast zu Lene durch ihren Namen als die Reine gekennzeichnet. Obwohl im Klub besprochen wird, dass ihr schon mit vierzehn Jahren in der Berliner Pension der Hof gemacht wurde, hat sie offenbar kein nennenswertes Vorleben hinter sich, sondern ihr Lebenslauf entspricht den Normen und Standeskonventionen.

Immer wieder - auch in anderen Romanen Fontanes - haben Namen Signalwirkung: Sie lassen den Leser Zusammenhänge assoziieren, die der Erzähler also nicht direkt aussprechen muss; derartiges, oft unbewusstes Lesen zwischen den Zeilen aktiviert die Phantasie des Lesers. Die Hauptgestalten in der Welt der Bürgerlichen sind gekennzeichnet durch bodenständig klingende Namen wie "(Suselchen) Dörr" oder "Nimptsch"; Lene Nimptsch bildet schon durch ihren Familiennamen einen Kontrast zu Bothos Ehefrau mit dem vergleichsweise kapriziös klingenden "Sellenthin". Auch die handelnden Personen selbst benutzen Namen bewusst zur Kennzeichnung: Botho und seine Kameraden geben sich ausländische "Necknamen", und die Freunde haben auch ihre "Damen" nach Frauengestalten aus Schillers "Jungfrau von Orleans" benannt. Lene - wie wohl auch die "Damen" - kennt angesichts ihres Bildungsniveaus die Herkunft der Namen nicht, merkt also auch nicht, wie Botho sie herabsetzt, indem er ihr den Spitznamen "Mademoiselle Agnes Sorel" gibt und sie damit der Mätresse Karls VII. gleichstellt.

Literatur

Verlagseinband der Erstausgabe 1888
  • Erste Buchausgabe: Theodor Fontane: Irrungen, Wirrungen. Roman. Leipzig: Verlag von F. W. Steffens, o. J. [1888], 284 S., s. Abb. rechts

Hörbücher

  • Sabine Falkenberg liest Irrungen, Wirrungen. Ungekürztes Hörbuch mit Gesamttext und Worterklärungen als PDF-Datei. HörGut! Verlag, Hamburg 2007. ISBN 978-3-938230-16-9
  • Gert Westphal liest Irrungen, Wirrungen. Vollständige Lesung 5 CDs, ca. 345 Minuten. Genre: Deutschsprachige Weltliteratur. Verlag: Deutsche Grammophon. ISBN 3-8291-1354-4

Weblinks


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