Jahr null

Jahr null

Ein Jahr null gibt es in der von den Historikern angewendeten traditionellen christlichen Zeitrechnung nicht, wohl aber in der modernen Jahreszählung der Astronomen.

Im traditionellen System werden die Jahre mit Ordinalzahlen vor und nach der Geburt Christi gezählt: Das Jahr 1 vor Christi Geburt endet am 31. Dezember (1 v. Chr.), am nächsten Tag, dem 1. Januar, beginnt das Jahr 1 nach Christi Geburt (1 n. Chr.).

Die astronomische Jahreszählung verwendet hingegen die um die Null und die negativen Zahlen erweiterten natürlichen Zahlen, die sogenannten ganzen Zahlen. Die in dieser Zahlenreihe enthaltene 0 wird dem Jahr 1 v. Chr., die Zahl −1 dem Jahr 2 v. Chr. zugeordnet.

Inhaltsverzeichnis

Vorteile von traditioneller und astronomischer Jahreszählung

Das traditionelle System lässt sich als Anwendung zweier Chronologien beschreiben, die die Jahre vom Moment der Geburt Christi aus mit der Ordinalzahl 1 beginnend zählen, die eine rückwärts in die Vergangenheit, die andere vorwärts in die Zukunft.

Das System der Astronomen ist eine fortlaufende Chronologie, mit der die Länge von Zeiträumen, die den Beginn (Epoche) der christlichen Zeitrechnung enthalten, einfacher berechenbar ist. Diesem Rechenvorteil steht aber der Verlust an Logik entgegen, die im traditionellen Zählen mit Ordinalzahlen enthalten ist.

Jüngere Astronomie-Handbücher erläutern die Unterschiede, wie folgt:

„Wenn eine neue Jahreszählung begonnen wird, muss man klären, wie die vorhergehenden Jahre zu bezeichnen sind. Beda Venerabilis, der englische Historiker des achten Jahrhunderts, begründete eine Praxis, wie die vor dem Jahr A. D. 1 liegenden Jahre zu zählen sind. […] Darin geht dem Jahr A. D. 1 das Jahr 1 v. Chr. voran, ohne dass ein Jahr 0 dazwischen liegt. Wegen seiner numerischen Diskontinuität ist dieses ‚historische‘ System für die Differenzbildung zwischen antiken und modernen Daten beschwerlich. Astronomen gebrauchen heute +1 für A. D. 1. Und dem Jahr A. D. 1 geht das Jahr 0, diesem das Jahr −1 voran. Da der Gebrauch der Null sich in Europa langsam entwickelte, verspätete sich dieses ‚astronomische‘ System. Es wurde im 18. Jahrhundert von Jacques Cassini eingeführt.“

P. K. Seidelmann[1]

„Zwischen Astronomen und Historikern herrscht Meinungsverschiedenheit darüber, wie die Jahre vor dem Jahr 1 zu zählen sind. In diesem Buch werden die Jahre ‚vor Christus‘ auf astronomische Weise gezählt. Das Jahr vor dem Jahr 1 ist also das Jahr null, und das Jahr, welches vor diesem Jahr lag, ist das Jahr −1. Das Jahr, welches Historiker als 585 vor Christus bezeichnen, ist tatsächlich das Jahr −584. (Bei negativen Jahreszahlen wird ‚vor Christus‘ nicht benutzt! ‚−584 vor Christus‘ ist beispielsweise falsch.)
Die astronomische Weise, die negativen Jahre zu zählen, ist die einzige, die für arithmetische Zwecke geeignet ist. Beispielsweise gilt die Regel der Teilbarkeit durch 4 zur Ermittlung der julianischen Schaltjahre in der historischen Zählweise nicht mehr; diese Jahre sind tatsächlich 1, 5, 9, 13, … vor Christus. In der astronomischen Reihe werden diese Schaltjahre jedoch als 0, −4, −8, −12, bezeichnet […] und die Regel der Teilbarkeit durch vier bleibt bestehen.“

J. Meeus[2]

Gründe für das Fehlen des Jahres null in der traditionellen christlichen Zeitrechnung

Bei der Einrichtung der christlichen Zeitrechnung hätte man noch kein Jahr null benennen können, weil die Null noch gar nicht in Gebrauch war. Ihr nicht möglicher Gebrauch war aber nicht der entscheidende Grund für ihr Fehlen in der traditionellen Jahreszählung. Es liegt grundsätzlich in der Logik des Zählenden, also auch heute, nur vorhandene Dinge – sowohl reale als auch abstrakte – zu erfassen. Ein Bericht von einem Fußballspiel könnte zum Beispiel lauten: „Der restliche Schnee konnte erst in der letzten Minute vor dem Anpfiff vom Spielfeld entfernt werden. […] Bereits in der ersten Minute nach dem Anpfiff fiel ein Tor.“ Die Minute vor Spielbeginn würde niemals als Minute null verstanden.

Das damalige Fehlen der Null ist an den damals gebrauchten römischen Zahlen erkennbar, sie haben kein Symbol dafür. In der damals betriebenen, im antiken Griechenland entwickelten geometrischen Mathematik wird die Null nicht benötigt. Das aus Indien stammende Konzept der Null wurde in der christlichen Welt erst etwa zur Jahrtausendwende von Gerbert von Aurillac zur Kenntnis genommen, 1202 von Leonardo Fibonacci (Liber abaci) eingeführt und seit der Renaissance angewendet. Sichtbares Zeichen für das Rechnen mit der Null war der Gebrauch der von den Arabern übernommenen Ziffer Null.

Bei der christlichen Zeitrechnung ist im Vergleich zu Herrscherjahre zählenden antiken Zeitrechnungen (zum Beispiel die nach Diokletian) lediglich ein Herrschaftsbeginn durch die Geburt eines Religionsstifters ausgetauscht.

Geschichte der astronomischen Jahreszählung

Die wissenschaftliche Jahreszählung wird gemeinhin als astronomische Jahreszählung bezeichnet, weil sie insbesondere von Astronomen bevorzugt benutzt wird. Die Sache hat aber in ihrem Kern nichts mit Astronomie zu tun, sondern mit Kalendermathematik. Man kann auch von der mathematischen Zählweise sprechen.

Sehr wahrscheinlich stammt der Vorschlag, die traditionelle Jahreszählung durch eine wissenschaftliche Jahreszählung zu ersetzen, in der das Jahr vor dem Jahr 1 mit der Zahl 0 bezeichnet wird, von dem italienischen Astronom Giandomenico Cassini. Fest steht, dass gegen Ende des 17. Jahrhunderts auf der Akademie der Wissenschaften zu Paris dieses System bereits üblich war, denn in einem Vortrag Cassinis aus dem Jahr 1696 ist es vorausgesetzt.[3] Das Jahr der Einführung des Julianischen Kalenders wird dort als annus 44 ante Christum, qui vulgo habetur 45 (= „Jahr 44 vor Christus, was gemeinhin als 45 bezeichnet wird“) beschrieben.

Die Jahre 3 v. Chr., 2 v. Chr, 1 v. Chr., 1 n. Chr, 2 n. Chr lauten in mathematischer Zählweise −2 AD, −1 AD, 0 AD, 1 AD, 2 AD.

Die Benutzung der Null für das herkömmliche Jahr 1 v. Chr. wurde vor allem durch Giandomenico Cassinis Sohn Jacques Cassini in wissenschaftlichen Kreisen publik. Er benutzte die neue Zählweise in astronomischen Tabellen[4] und begründete sie durch Rechenvorteile, die sie gegenüber der historischen Jahreszählung bietet. Nämlich: Nur auf der Grundlage der Ganzen Zahlen kann es eine einheitliche Kalendermathematik geben. Sämtliche Formeln und Relationen, die sich auf der Grundlage der wissenschaftlichen Jahreszählung für alle Jahre der Welt einheitlich herstellen lassen, brechen bei der historischen Jahreszählung in zwei heterogene Teile auseinander. Beispiel: Bei der wissenschaftlichen Jahreszählung sind im Julianischen Kalender die ohne Rest durch 4 teilbaren Jahre die Schaltjahre. Bei der historischen Jahreszählung gilt dies aber nur für Jahre n. Chr., während v. Chr. der Divisionsrest 1 die Schaltjahre kennzeichnet.

Vergleich zwischen moderner und römischer Zeitrechnung

Die traditionelle historische Zeitrechnung entspricht dem römischen Kalender christlicher Zeitrechnung, benutzt aber trotz fehlendem Jahr null das arabische Zahlensystem. Die astronomische Zeitrechnung besitzt dieses Jahr null. Dem Jahr 1 v. Chr. entspricht das Jahr 753 nach der Gründung Roms nach der Sage.

Gegenüberstellung moderne Datumsangaben und lateinische Datumsangaben[T 1]
Modernes Datum Historisches Jahr Astronomisches Jahr   Christliches Jahr[T 2] Römisches Jahr[T 3] Lateinisches Datum[T 4]
31. Dezember 1 v. Chr. 0 = 1 AC DCC.LIII a. u. c. pridie Kal. Ian.
1. Januar  1 (n. Chr.) 1 = 1 AD DCC.LIV a. u. c. Kalendis Ianuariis

Anmerkungen zur Tabelle

  1. Die Tabelle gibt den theoretischen, richtig angewendeten Julianischen Kalender wieder. Julius Caesar führte seinen neuen Kalender am 1. Januar DCCIX a. u. c. (709 = 45 v. Chr.) ein. Dieses Jahr war gleich ein Schaltjahr. Das Jahr zuvor wird als Verworrenes Jahr bezeichnet (weil es 445 Tage hatte). Nach Caesars Tod wurde aber 36 Jahre lang ein falscher, missverstandener Schaltmodus angewendet. Das Jahr 709 a. u. c. wurde gleich wieder als erstes Jahr verstanden und im „vierten“ Jahr 712 abermals ein Schaltjahr eingelegt, also schon nach drei Jahren. So waren die römischen Jahre 715, 718, 721 etc. bis einschließlich 745 a. u. c. (9 v. Chr.) alle tatsächlich Schaltjahre. 36/3 = 12, aber 36/4 = 9. Das Jahr 745 wäre auch bei richtig angewandten Schaltregeln römisches Schaltjahr gewesen. Die eigentlichen Schaltjahre 749 a. u. c. (5 v. Chr.), 753 a. u. c. (1 v. Chr.) und 757 a. u. c. (4 n. Chr.) fielen aber aus – waren also Gemeinjahre –, um den Kalender zu korrigieren.
  2. Ante Christum natum (AC) – lateinisch: „vor Christi Geburt“; Anno Domini (AD) – lateinisch: „im Jahre des Herrn“, also nach der Geburt Christi.
  3. Ab urbe condita (a. u. c.) – lateinisch: „seit der Gründung der Stadt (Rom)“.
  4. Obwohl Caesar das Neujahr eindeutig auf den 1. Januar festlegte, können Datumsangaben wie „pridie Kal. Ian.“ mit folgender Jahreszahl verschieden interpretiert werden, da die Römer ab dem 14. Dezember rückwärts zählten (XIX ante Kal. Ian.). Der 30. Dezember ist der dritte [sic] Tag vor den Kalenden, während der 31. Dezember der Vortag (pridie Kal. Ian.) der Kalenden des kommenden neuen Jahres ist.

Kritik an der Norm ISO 8601

Eine umstrittene Festlegung schuf die Internationale Organisation für Normierung mit ihrer Norm ISO 8601. Darin wird dem Gregorianischen Kalender ein Schaltjahr zugeordnet, und er wird zu einem proleptischen Kalender erklärt, der auch in die Vergangenheit zählt.

  • Der Gregorianische Kalender wurde 1582 eingeführt und von den Reformern im Gegensatz zum Julianischen Kalender als ausdrücklich nicht proleptisch verstanden (nicht einmal vor der Zeit der Reform).
  • Für Astronomen ist der gregorianische 400-Jahre-Zyklus ungünstig, innerhalb dessen die Jahrhunderte ungleiche Längen haben. Astronomische Berechnungen brauchen einen gleichförmigen Zeitablauf, weshalb Astronomen heute zuerst und stets in julianischen Jahrhunderten rechnen und erst am Ende der Berechnungen alle Daten nach dem 4. Oktober 1582 in gregorianisches Datum korrigieren. Sie werden daher die Norm ISO 8601:1988 = EN 28601:1992 auch künftig kaum anwenden.
  • Die Historiker haben das Jahr null nie verwendet. Sie benutzen für die Vergangenheit den altbekannten, proleptischen, julianischen Kalender der christlichen Ära, also ohne Jahr null. Somit ist auch nicht zu erwarten, dass die Historiker die ISO-Norm 8601 je umsetzen. Eine Umdatierung sämtlicher historischer Ereignisse, wonach etwa Julius Caesar statt am 15. März 44 v. Chr. jetzt am 13. März des Jahres −43 (in ISO-Schreibweise: −0043-03-13) ermordet wurde, ist nicht zu erwarten.
  • Im Computerbereich werden Datumsformate immer in Bezug auf einen jüngeren Zeitpunkt umgerechnet. Heute ist das zumeist der 1. Januar 1970, 00:00 UT (siehe Unixzeit). Daher hat auch die Informatik keinen Bedarf an einem proleptischen gregorianischen Kalender mit einem Jahr null.

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweise

  1. P. K. Seidelmann: Explanatory Supplement to the Astronomical Almanac. University Science Books, Mill Valley 1992, ISBN 0-935702-68-7, S. 579
  2. J. Meeus: Astronomical Algorithms. Willmann-Bell, Richmond 1998, ISBN 0-943396-61-1, Kap. 7.
  3. Siehe: Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften. Paris 1698, S. 390 und in Joh. Albertus Fabricius: S. Hippolyti Episcopi et Martyri Operum vol. etc. Hamburg 1716, S. 62!
  4. Jacques Cassini: Éléments d'astronomie & Tables astronomiques. Imprimerie Royale, Paris 1740.

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