Jarcha

Jarcha

Unter Harǧa ['xardʒa] (von arabisch Ausgang) versteht man in der Literaturwissenschaft den in arabischer oder romanischer Umgangssprache abgefassten Ausgangsrefrain, die Schlussverse, der letzten Strophe eines Muwassah-Gedichtes.

Inhaltsverzeichnis

Die Harga - ein Gedicht im Gedicht

Das Muwassah, ein Lob- oder Liebeslied, ist eine im maurischen al-Ándalus entstandene Gedichtform mit festem Reimschema, deren fünf bis sieben Strophen in arabischer oder hebräischer Hochsprache gehalten sind. Jedoch der an die letzte Strophe angehängte Kehrreim, die Harga (auf Spanisch jarcha ['xartʃa]), weicht von der sprachlichen Norm der übrigen Verse ab. Sie ist in einer der beiden Umgangssprachen des zweisprachigen mittelalterlichen al-Ándalus gehalten: in Vulgär-arabisch oder in alt-spanischem Dialekt. Die Harga bildet eine Diskontinuität, einen Bruch, im Gesamtgedicht, was ihr einen besonderen Stellenwert verleiht. Der mittelalterliche ägyptische Literaturtheoretiker Ibn Sana al-Mulk (1155-1211) rühmt diesen eigentümlichen Schlussrefrain, die jarcha, in höchsten Tönen:

" Die Harga ist der Glanzpunkt des Muwassah, sein Salz, sein Zucker, sein Moschus, sein Ambra; sie ist der Ausgang und der muss besonders lobenswert sein, sie ist der Schluss, nein, vielmehr die Einleitung, obwohl sie am Ende steht; wenn ich sage: die Einleitung, so heißt das, dass vor allem anderen auf sie der Sinn des Dichters gerichtet sein muss; sie muss der, der ein Muwassah dichten will, zuerst anfertigen, bevor er durch Versmaß oder Reim gebunden ist, in einem Augenblick, wo er frei und ungebunden, vergnügt und sorgenlos ist Manche bekommen die Harga nicht fertig und nehmen dann die eines Anderen zu Hilfe." [1]

Der Kehrreim, mit dem ein mehrstrophiges Muwassah-Gedicht endet, ist also seine Basis, sein End- und Höhepunkt. Er ist in einer besonderen Sprache gehalten, verleiht der Dichtung Lokalkolorit und bildet einen selbständigen Körper: die Harga ist sozusagen ein Gedicht im Gedicht. Die arabischen (und hebräischen) Poeten aus al-Andalus ließen sich bei der Gestaltung ihrer Hargas von eigenständigen romanischen Volksliedchen inspirieren, von (cancioncillas romances), volkstümlichen romanischen Liebesliedern, gesungen von Christinnen. Sie zitierten sozusagen als Ausklang ihrer Muwassah-Gedichte ein Fragment romanischer Frauenlieder und schrieben sie mit arabischen (bzw. hebräischen) Buchstaben, also in Aljamiado. In diesen altspanischen Schlussversen geht die Rede vom Mädchen aus; motivgleiche volkstümliche Lieder, in denen verliebte Mädchen die Sehnsucht nach ihrem Geliebten besingen, findet man in den alt-Galicisch-Portugiesischen cantigas de amigo wieder. Auch die altkastilischen Villancicos und die altfranzösischen Virelais sind formal mit dem Muwassah und dem Zagal verwandt. Dies stützt die These von der Entstehung einer mittelalterlichen europäischen Volksyrik auf der Iberischen Halbinsel lange vor der ersten bekannten Trobadorlyrik eines Guilhèm IX lo trobador, um 1100 (siehe Wilhelm IX. von Poitiers, der erste Trobador). Der Romanist Reinhold Kontzi bemerkt dazu[2]:

"Man kann nun mit Sicherheit sagen, dass lange vor der ersten bekannten Troubadourlyrik eine romanische Volkslyrik auf der Iberischen Halbinsel bestand. ... Man sieht heute ganz deutlich Verbindungen zwischen der Lyrik der Hargas, den galicisch-portugiesischen cantigas d'amigo und den kastilischen villancicos des 15.Jhs. Ja wir dürfen die Volksdichtung, die in den mozarbischen Hargas zutage tritt, in Verbrindung bringen mit den Refrains Nordfrankreichs und den Strambotti Italiens."

Hier ein Beispiel einer von Emilio García Gómez (op.cit.) aus dem arabischen Schriftsystem ins lateinische Alphabet transliterierten, transkribierten (vokalisierten) und interpretierten (übersetzten) Harga. Sie bildet den Ausgangsrefrain eines Muwassah-Liebesgedichtes des arabisch-andalusischen Dichters Muhammad Ibn Ubada al-Malaqi (11. Jhd.).[3]:

1. Nach Transliteration aus der arabischen Konsonantenschrift ins lateinische Alphabet ergibt sich die Konsonantenfolge:

mw sidi 'ibrahim y' nw'mn dly
f'nt myb dy njt
in nwn š nwn k'rš yrym tyb
grmy 'wb 'frt

2. Nach vokalisierter Transkription ergibt sich der alt-spanische Text:

Mió sidi Ibrahim, ya nuemne dolye,
vente mib, de nojte.
In non, si non queris, iréme tib.
Garme a ob legarte.

3. Übersetzung ins heutige Spanisch:

Dueño mío Ibrahim, oh nombre dulce,
Vente a mí de noche.
Si no, si no quieres, iréme a ti
-¡dime a dónde! a verte.

4. Übersetzung ins Deutsche:

Mein Herr Ibrahim, o süßer Name,
Komm zu mir bei Nacht.
Wenn nicht, wenn du nicht willst, werde ich zu Dir gehen.
"Sag' mir, wo - ich Dich treffen kann!" [4]

Die hybriden, zweisprachigen Muwassahas mit romanischen Hargas, die in altspanischem Dialekt gedichtet, aber mit arabischen oder hebräischen Zeichen geschrieben sind, stellen für die Romanistik einen bedeutenden sprach- und literaturhistorischen Forschungsgegenstand dar. Diese hybride Aljamiadoliteratur überliefert die ältesten vollständig erhaltenen Texte iberoromanischer Sprachformen (mozarabische Dialekte). Gleichzeitig bewahren die Muwassahahs in den Hargas die frühesten Zeugnisse von Lyrik in romanischer Sprache.

Zur Editionsgeschichte der Hargas

Diese Überlieferung andalusischer Mädchenlieder, frühester Fragmente von Lyrik in romanischer Sprache aus dem 11. Jh., erreichte die Romanistik erst mit 900 Jahren Verspätung - im 20.Jhd. - als ein in arabischen und hebräischen Gedichten verborgenes Geschenk der abendländisch-morgenländischen Symbiose aus dem mittelalterlichen Spanien, aus al-Ándalus.

1948 veröffentlichte der ungarische Hebraist und Arabist Samuel Miklos Stern zwanzig romanische Hargas, die er in hebräischen Muwassahas als alt-spanischen Texte erkannt hatten. Er publizierte sie in einem auf Französisch geschriebenen Aufsatz in einer Fachzeitschrift für spanischer Arabisten: Al-Andalus XII (1948), pp. 299-346, unter der Überschrift:

"Les vers finaux en espagnol dans les muwassahs hispano-hébraïques. Une contribution à l'histoire du muwassah et à l'étude du vieux dialecte espagnol 'mozarabe'."
(Die spanischen Schlussverse in den hispano-arabischen Muwassahas. Ein Beitrag zur Geschichte des Muwassahas und zum Studium des alt-spanischen Dialektes 'Mozarabisch')

Samuel Miklos Stern intersessierte sich für die in arabischer Literatur selten anzutreffende und im mittelalterlichen Al-Ándalus entstandene Strophengedicht-Gattung Muwassah. Er war durch die Werke der Arabisten Martin Hartmann und Julián Ribera auf eine Schrift des arabischen Dichters Ibn Sana al-Mulk (1155-1211) gestoßen[5]: über die Technik des Muwassah . Ibn Sana al-Mulk stellt darin die Theorie auf, das Genus des Muwassah sei im maurischen al-Ándalus erfunden worden; zudem sei die Strophenform von volkstümlichen romanischen Liedern übernommen worden. Um ihren Gedichten ein feuriges Lokalkolorit zu verleihen, hätten die arabische Poeten aus al-Ándalus den Schlussrefrain, die Harga, in hispanoarabischem und sogar in romanischem Dialekt verfasst, also in Aljamiado-Schreibweise; inspiriert durch die Volkslieder mozarabischer Christinnen. Nur hatte man bisher noch nirgendwo ein Muwassah-Manuskript mit solchen romanischen Hargas gefunden. Romanisten warteten sehnsüchtig auf deren Entdeckung, denn alle bisher bekannten Muwassahas besaßen lediglich Hargas, die in dialektaler arabischer Umgangssprache gehalten waren. Als S. M. Stern nun bei der Lektüre mittelalterlicher hebräischer Muwassahas, die in der Geniza der Ben Esra Synagoge zu Fostat (Alt-Kairo) gefunden worden waren, auf rätselhafte Hargas stieß, deren konsonantische Reihenfolge im Hebräischen keinerlei Sinn ergab, hatte er den genialen Einfall, dass es sich hier um die vermuteten und sehnsüchtig gesuchten Schlussverse in andalusisch-romanischer Umgangssprache handeln könnte, versteckt integriert in hebräische Muwassahas. Der Aufsatz sorgte für große Aufregung besonders unter spanischen Romanisten, die dank durch der von S. M. Stern durchgeführten Transliteration und Transkription aus dem hebräischen ins lateinische Alphabet zum ersten Male diese semitischen Aljamiadotexte lesen konnten.

1952 veröffentlichte der spanische Arabist Emilio García Gómez, Herausgeber der Zeitschrift Al-Andalus, 24 alt-spanische Hargas, die er in hispano-arabischen Muwassahas entdeckt hatte[6]. Er editierte sie analog zu Samuel M. Stern, d.h. er transliterierte und transkribierte den arabischen Text ins lateinische Alphabet.

1965 gab Emilio García Gómez sein Buch Las jarchas romances de la serie árabe en su marco (deutsch: die romanischen Hargas aus den arabischen Manuskripten in ihrem Kontext) heraus, in dem er die vollständigen arabischen Muwassah-Gedichte transliterierte und nachdichtete, aus denen die Schlussverse stammen, um sie dann aus dem gesamtpoetischen Kontext heraus interpretieren zu können und um sie auch Nicht-Orientalisten, Romanisten zugänglich zu machen.

1997 konnte Richard Hitchcock in seiner kritischen Bibliographie [7] bereits über 250 Werke zitieren, die sich seit Sterns Aufsatz aus dem Jahre 1948 mit der Thematik der Hargas befassten.

1988 veröffentlichte der Arabist Alan Jones eine kritische paläographische Untersuchung arabischer Hargas[8]

1998 präsentierte der spanische Arabist Frederico Corriente in seinem Buch Poesía dialectal árabe y romance en el Andalus ein umfangreiches Corpus von 68 Hargas: 42 aus arabischen und 24 aus hebräischen Muwassahas. [9]

Interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Kontroversen zwischen Arabisten, Hebraisten und Romanisten

(noch in Bearbeitung)

Siehe auch

Literatur

  • Dámaso Alonso: Cancioncillas de amigo mozárabes. Primavera temprana de la lírica europea; in: Revista de Filología Española 33 (1949), pp. 297-349.
  • Francisco Cantera: Versos españoles en las muwassahas hispanico-hebreas; in: Sefarad (revista de estudios hebraicos, sefardíes y de Oriente próximo) IX (1949), pp. 197-234.
  • Frederico Corriente: Poesía dialectal árabe y romance en Alandalus: cejeles y xarajat de muwassahat. Madrid: Gredos 1998.
  • Álvaro Galmés de Fuentes: Las jarchas mozárabes. Forma y significado. Barcelona: Crítica, 1994.
  • Emilio García Gómez: Las jarchas de la serie árabe en su marco. Madrid 1965.
  • Martin Hartmann: Das Muwassah, das arabische Strophengedicht. Nebst: Metrum und Rhythmus, die Entstehung der arabischen Versmasse. (Neudr. d. Ausg. Weimar 1897 und Giessen 1896) 1981, ISBN 978-90-6022-713-8
  • Klaus Heger: Die bisher veröffentlichten Harǧas und ihre Deutungen. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1960.
  • Alan Jones: Romance Kharjas in Andalusian Arabic Muwassah poetry: a palaeographic analysis. Ithaca London 1987, ISBN 0863720854.
  • Richard Hitchcock: Some Doubts about the Reconstruction of the Kharjas; in: Bulletin of His- panic Studies 50, 2 (1973), S. 109-119.
  • Reinhold Kontzi: Zwei romanische Lieder aus dem islamischen Spanien. (Zwei mozarabische Harǧas); in: Romania cantat. Gerhard Rohlfs zum 85. Geburtstag gewidmet. Band II Interpretationen. Tübingen: Narr 1980, ISBN 3878085095, S.305-318.
  • Samuel Miklos Stern: Les vers finaux en espagnol dans les muwassahs hispano-hébraïques. Une contribution à l'histoire du muwassah et à l'étude du vieux dialecte espagnol 'mozarabe'; in: Al-Andalus Revista de las escuelas de estudios árabes de Madrid y Granada, XII (1948), pp. 299-346.
  • Samuel Miklos Stern: Les chansons mozarabes. Les vers finaux en espagnol ('kharjas') dans les 'muwashshas' arabes et hébreux.Palermo 1953; 2. Aufl. Oford 1964.
  • Yasemin Soytemel: Mozarabische Jarchas. Liebesgedichte aus dem islamischen Andalusien des 11. und 12. Jahrhunderts; in: Tranvia. Revue der Iberischen Halbinsel, 2001, Heft 63, pp. 28-29
  • Otto Zwartjes: Love Songs from al-Andalus. History, Structure and Meaning of the Kharja (Medieval Iberian Peninsula), Leiden: Brill 1997, ISBN 978-9004106949, Auszüge im Volltext.
  • Otto Zwartjes & Henk Heijkoop: Muwaššaḥ, zajal, kharja : bibliography of eleven centuries of strophic poetry and music from al-Andalus and their influence on East and West, Leiden ;Boston :Brill,2004, ISBN 90-04-13822-6

Weblinks

  • 55 jarchas - transkribiert und interpretiert aus der Diplomarabeit von: Alma Wood Rivera: Las jarchas mozárabes: Una compilación de lecturas. 1969.
  • Ausführliche Bibliographie zum Thema: Harga (Kharja), Muwassah und Zagal - Henk Heijkoop and Otto Zwartjes: Muwassah, Zajal, Kharja. Bibliography of Strophic Poetry and Music from al-Andalus and Their Influence in East and West. Leiden: Brill 2004, ISBN 978-9004138223.

Fußnoten

  1. Übersetzung von Martin Hartmann zitiert nach: Reinhold Kontzi: Zwei romanische Lieder aus dem islamischen Spanien. (Zwei mozarabische Harǧas); in: Romania cantat. Gerhard Rohlfs zum 85. Geburtstag gewidmet. Band II Interpretationen. Tübingen: Narr 1980, ISBN 3878085095, S.307-308.
  2. Reinhold Kontzi: Zwei romanische Lieder aus dem islamischen Spanien. (Zwei mozarabische Harǧas); in: Romania cantat. Gerhard Rohlfs zum 85. Geburtstag gewidmet. Band II Interpretationen. Tübingen: Narr 1980, ISBN 3878085095, S.317-318.
  3. Jarcha Nr. 23 - aus einem arabischem Muwassaha - transliteriert, transkribiert und interpretiert aus der Diplomarbeit von: Alma Wood Rivera: Las jarchas mozárabes: Una compilación de lecturas.1969.
  4. Eine sprachhistorische und literarische Deutung dieser Harga findet sich bei Reinhold Kontzi: Zwei romanische Lieder aus dem islamischen Spanien. (Zwei mozarabische Harǧas); in: Romania cantat. Gerhard Rohlfs zum 85. Geburtstag gewidmet. Band II Interpretationen. Tübingen: Narr 1980, ISBN 3878085095, S.305-318.
  5. Martin Hartmann: Das Muwassah, das arabische Strophengedicht. Nebst: Metrum und Rhythmus, die Entstehung der arabischen Versmasse. (Neudr. d. Ausg. Weimar 1897 und Giessen 1896) 1981, ISBN 978-90-6022-713-8.
  6. Emilio Gracía Gómez:Veinticuatro jaryas romances en muwassahas árabes; dans: Al-Andalus XVII (1952) pp.57-127.
  7. Richard Hitchcock: The Kharjas: A critical biography. London 1977, ISBN 978-0729303897.
  8. Alan Jones: Romance Kharjas in Andalusian Arabic Muwassah poetry: a palaeographic analysis. Ithaca London 1987, ISBN 0863720854.
  9. 'Poesía dialectal árabe y romance en el Andalus. Gredos Madrid 1998, ISBN 8424918878.

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