John Stewart Mill

John Stewart Mill
John Stuart Mill

John Stuart Mill (* 20. Mai 1806 in Pentonville, London; † 8. Mai 1873 in Avignon) war ein englischer Philosoph und Ökonom und einer der einflussreichsten liberalen Denker des 19. Jahrhunderts. Er war Anhänger des Utilitarismus, der von Jeremy Bentham, dem Lehrer und Freund seines Vaters James Mill, entwickelt wurde. Seine wirtschaftlichen Werke zählen zu den Grundlagen der klassischen Nationalökonomie, und Mill selbst gilt als Vollender des klassischen Systems und zugleich als sozialer Reformer.

Der von ihm als Gegenentwurf zu Thomas Morus' Utopia geprägte Begriff Dystopia findet heute noch vor allem im englischsprachigen Raum Verwendung als Bezeichnung für ein philosophisches Konzept und eine literarische Gattung (dystopische Literatur).

Inhaltsverzeichnis

Leben

John Stuart Mill wird am 20. Mai 1806 als erstes der neun Kinder von James Mill und Harriet Murrow geboren. Seine persönliche Entwicklung wird maßgeblich von seinem Vater bestimmt, der als Vertreter eines radikalen Utilitarismus/philosophischen Radikalismus gilt und in der Erziehung des hochbegabten jungen Mill einen „Wettstreit zur Schaffung eines Genies“ sieht. Grundlage des philosophischen Radikalismus, der von James Mill und Jeremy Bentham begründet wurde, sollte die Umsetzung einer weitreichenden Reform der Gesellschaft ausschließlich unter rationalen und empirischen Aspekten sein; mit der Erziehung Johns will Vater Mill einen ersten Schritt dorthin unternehmen.

John Stuarts Erziehung beginnt mit drei Jahren. Er lernt Griechisch und Latein, später noch fließend Französisch und Deutsch und liest Äsops Fabeln im Original, danach die Anabasis von Xenophon, Herodot, Diogenes, Lukian und Isokrates. Mit sieben Jahren liest er die ersten Dialoge von Platon und beginnt unter Aufsicht seines Vaters mit dem Studium der Arithmetik. Zur Erholung liest er die Übersetzung von Plutarch und Humes „Geschichte Großbritanniens“. Als er acht Jahre alt ist, beginnt er damit, seinen jüngeren Geschwistern Latein beizubringen, und studiert die lateinischen und griechischen Klassiker. Im Alter von 13 Jahren durchläuft er einen kompletten Kurs der politischen Ökonomie. Mit 14 reist er nach Montpellier und studiert dort Chemie, Zoologie, Mathematik, Logik und Metaphysik. Nachdem er bis zum vierzehnten Lebensjahr ohne Kontakte zu Gleichaltrigen erzogen und „lediglich“ in wissenschaftlichen Disziplinen (Staatslehre, Philosophie, Logik, Wirtschaft) unterrichtet worden ist, erhält er bei einem Bruder Benthams (Sir Samuel Bentham) in Frankreich in der Nähe von Toulouse erstmals die Möglichkeit, Freundschaften zu schließen und körperliche Aktivitäten zu entwickeln (Reiten, Schwimmen, Fechten und Tanzen). Zeitgleich entdeckt er in den Pyrenäen seine Leidenschaft für Botanik, die er bis zu seinem Lebensende als Hobby betreiben wird. In Frankreich kommt Mill außerdem mit Vertretern des französischen Liberalismus zusammen und begeistert sich für die Ideale der Revolution von 1789, in deren Aufbrechen der Ständeherrschaft (siehe Ständeordnung) er eine Grundlage für die Entwicklung eines liberalen Staates sieht. Zurück in England kommt er 1821 erstmals in Kontakt mit den Schriften Benthams und wird ein Anhänger seines Nützlichkeitsprinzips. Ein Jahr später gründet er mit Freunden die „Utilitaristische Gesellschaft“, deren Mitglieder ethische und gesellschaftspolitische Fragen diskutieren. Drei Jahre danach folgt die Gründung der London Debating Society, in der sich Mill für die Einführung einer reinen Demokratie stark macht und gegen die „schädlichen Einflüsse der Aristokratie“ spricht.

Im Jahr 1826 wird Mill von einer ersten Depression heimgesucht, die dazu führt, dass er seine Erziehung und die von seinem Vater vertretenen Konzepte des Rationalismus und des Assoziationismus kritisch zu bewerten beginnt. Nach James Mills Verständnis sei nützliches Handeln stets an einen Lustgewinn geknüpft, Leiden und Schmerz hingegen Ausdruck schädlicher und unnützer Aktivitäten. Eine depressive Krise dürfe es angesichts John Stuarts Tätigkeiten und Engagements also nicht geben, und so folgert er, dass sein Vater sich in seinen Annahmen geirrt habe. Diese Kritik verschärft sich nach dem Tod von James Mill im Jahr 1836 noch, der John Stuart eine erneute heftige Depression beschert und ihn für mehrere Monate arbeitsunfähig macht. In der Folge dieser Erfahrungen gewinnt für Mills politische Philosophie vor allem die freie Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit („innere Kultur des Individuums“) überragende Bedeutung. Dabei lehnt Mill staatliche Struktur mit autoritären Elementen keinesfalls ab, er betrachtet sie vielmehr als absolut notwendig, um die Individuen von Fehlern abzuhalten und in ihren Rechten zu bestärken. Einen radikalen wirtschaftlichen Liberalismus bekämpft er hingegen ebenso wie einen anti-individualistischen Sozialismus. Politisch spricht er sich unter anderem für eine soziale Mindestabsicherung und ein politisches Mitwirkungsrecht aller Bürger aus, betont gleichzeitig aber auch die Selbstverantwortung des Individuums und entwirft ein Mehrklassenwahlrecht auf Basis des Bildungsstandes (um eine Herrschaft des ungebildeten Pöbels zu vermeiden).

Von Mai 1823 an arbeitet John Stuart Mill bei der Ostindischen Handelsgesellschaft (East India Company) und steigt dort schnell in verantwortungsvolle Positionen auf. Als die Gesellschaft im Dezember 1858 verstaatlicht wird, hat er die Position des Präsidenten des Prüfungsbüros inne und verdient 2000 Pfund jährlich. Kurze Zeit später zieht er sich mit einer großzügigen Rente von 1500 Pfund aus seinem Beruf zurück und konzentriert sich ganz auf seine Studien.

Bereits 1830 lernt Mill die nach seinem Vater wohl am stärksten auf ihn wirkende Person kennen: Harriet Taylor. Die damals zweiundzwanzigjährige verheiratete Frau verliebt sich in den zwei Jahre älteren Mill und wird in der Folge erst seine „Seelenfreundin“ und platonische Geliebte, später, nach dem Tod ihres Mannes John Taylor im Jahr 1849, auch John Stuarts Ehefrau (1851). Als „radikale Linksintellektuelle“ setzt sich Harriet engagiert für Frauenrechte ein und beeinflusst Mills Gedanken und Werke maßgeblich (was er in seinen Veröffentlichungen „Über die Freiheit“, „Betrachtungen über die Repräsentativregierung“ und „Der Utilitarismus“ ausdrücklich betont). Nur wenige Monate nach Mills Pensionierung im Winter 1858/1859 stirbt Harriet Taylor in Frankreich an Tuberkulose und wird in Avignon beigesetzt.

Sieben Jahre später (1865) zieht Mill trotz seiner Weigerung, einen Wahlkampf zu führen, für die Whigs (die liberale Partei) ins Parlament ein. Durch seinen persönlichen Einsatz und seine pragmatische, offene Politik erwirbt er sich bei seinen Kollegen schnell großen Respekt, erntet aber für seine Positionen zum Scheidungsrecht massiven Widerspruch. Gemäß seiner Philosophie setzt er sich in seiner Amtsperiode für ein erweitertes Wahlrecht und Sozialreformen ein und erringt mit seinem Engagement für die Verwirklichung von Frauenrechten durch die Einführung eines Wahlrechts für Frauen im Juli 1866 einen Überraschungserfolg (beinahe ein Drittel der anwesenden Parlamentarier sprechen sich für Mills Antrag aus). In seinem Wahlkreis wird die Arbeit Mills jedoch als unzureichend bewertet, und die erneute Weigerung des Reformers, seinen eigenen Wahlkampf zu finanzieren, führt zur Abwahl im Jahr 1868. Mills Aussage dazu ist: „Ich wurde hinausgeworfen.“

Nach dem Verlust seines Mandats zieht sich Mill endgültig nach Avignon zurück und redigiert dort seine Autobiographie sowie Werke seines Vaters. Er stirbt am 8. Mai 1873 an einer Wundrose und wird im Marmorgrab seiner Frau beigesetzt. Seine letzten Worte waren: „Ich habe meine Arbeit getan.“

Staatsverständnis

Obwohl Mill dem Staat als Liberaler latent kritisch gegenüber steht und ihn lediglich als Übergangserscheinung auf dem Weg zu einer freien, gleichberechtigten Gesellschaft ohne Führungsstrukturen sieht, bewertet er seine Aufgaben umfassender als viele seiner liberalen Zeitgenossen. Den Laissez-faire-Gedanken, die dem Staat lediglich das Recht zur Schaffung stabiler wirtschaftlicher Rahmenbedingungen (z. B. durch Verteidigungseinrichtungen, ein stabiles Rechtssystem, eine einheitliche Währung etc.) zugestehen, setzt er einen aktiven und für die Entwicklung der Bürger verantwortlichen Staat entgegen. Oberster Grundsatz dabei muss laut Mill jedoch sein, dass der Staat (und die Gesellschaft) die Freiheit des Einzelnen nur dann einschränken dürfe, wenn dies zum Zwecke des Selbstschutzes oder zum Schutz anderer Mitglieder geschehe. Dies sei zum Beispiel der Fall, wenn eine Vorbereitung für ein Verbrechen stattfinde oder durch staatliches Eingreifen Unfälle vermieden werden könnten.

Wirtschaftliche Aktivitäten oder zumindest eine stramme Regulierungspolitik gesteht er dem Staat deshalb auch im Bereich der Gas- und Wasserversorgung und beim Eisenbahnbau zu, wo es wichtig sei, die Bildung von Monopolen und somit einen Missbrauch wirtschaftlicher Macht zu verhindern. Auch die Armenpflege sei eine staatliche Aufgabe, soweit das nicht die Eigeninitiative ersticke.

Strikter ist Mill in Fragen der Bildungspolitik. So spricht er sich energisch gegen ein öffentliches Bildungsmonopol aus, in dem der Staat Einfluss auf Lehrpläne und Lerninhalte nimmt. Gleichzeitig sieht er in einer umfassenden Bildung aber die Grundlage für die Erlangung persönlicher Freiheit und umfassenden („hochwertigen“) Glücks. Nur aufgeklärte Bürger könnten den Fortschritt einer Gesellschaft mitgestalten, und eine bessere Bildung ermögliche auch den unteren Klassen ein eigenverantwortliches Handeln, weswegen Mill die schulische (und weitergehende) Ausbildung als überragend wichtig für jeden Staat bewertet. Die Regierung soll nach seinem Willen deshalb für einen soliden Elementarunterricht sorgen und alle Bürger zum Bildungserwerb verpflichten (bei Kindern) oder zumindest motivieren (bei Erwachsenen). Die praktische Umsetzung der Ausbildung solle aber privaten bzw. unabhängigen Bildungsträgern überlassen bleiben, vor allem, um Meinungsvielfalt zu gewährleisten und Konformismus zu verhindern.

Trotz seiner durch die Werke Tocquevilles bestärkten Angst vor einer „Tyrannei der Mehrheit“ betrachtet Mill eine repräsentative Demokratie, in der alle Menschen unabhängig von ihrem Stand und ihrer Herkunft am politischen Entscheidungsprozess partizipieren können, als vorübergehend beste Regierungsform. Um die Gefahren zu minimieren, die aus der Fehlbarkeit demokratischer Mehrheiten resultieren, spricht er sich jedoch nicht für ein allgemeines und gleiches, sondern für ein Mehrklassenwahlrecht auf Basis der erworbenen Bildung aus. Da die Masse eines Staates lediglich eine „kollektive Mittelmäßigkeit“ sei, die dazu neige, bedeutende Einzelpersönlichkeiten zu unterdrücken (als Beispiele nennt er Sokrates, Galileo Galilei und Jesus von Nazareth) und die in der Regel nicht nach ihrem wirklichen, sondern lediglich nach ihrem scheinbaren und kurzfristigen Interesse handele (das zudem durch einen kurzfristigen Lustgewinn gesteuert werde), kommt für Mill in einem demokratischen Staat intellektuellen Eliten eine besondere Bedeutung zu. Einzig diese gebildeten Persönlichkeiten sollten wählbar sein und der ungebildeten Masse helfen, sich selbst zu bilden und weise Entscheidungen zu treffen.

Auch im prinzipiell allgemeinen Verhältniswahlrecht (das Frauen einschließt) nehmen Gebildete (und „die wahrscheinlich gebildeten Besitzenden“) eine Sonderrolle ein: Sie sollen Mehrstimmen erhalten und somit die Unterdrückung einer gebildeten Minderheit vermeiden. Dieser Gedanke, die Verteidigung der Freiheit, nimmt bei Mill in mehreren Bereichen einen zentralen Stellenwert ein. Sie (die Freiheit) müsse auch gegen die Demokratie und sogar das Individuum selbst verteidigt werden. Rechte wie die persönliche Freiheit, die freie Meinungsäußerung, Presse-, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit sind Mills Ansicht zufolge unabdingbar und können weder durch freiwilligen Verzicht eines einzelnen noch durch Mehrheitsbeschluss aufgehoben werden.

Der Freiheitsbegriff bei Mill

Die Freiheit ist für John Stuart Mill der „erste und stärkste Wunsch der menschlichen Natur“ und ermöglicht es dem Individuum erst, seine Fähigkeiten, seinen Geist und seine Moral voll zu entwickeln. Alles staatliche und gesellschaftliche Handeln muss dementsprechend darauf ausgerichtet sein, dem Individuum eine freie Entwicklung zu gewähren, während seine Freiheit, wie Mill es in einem als „Freiheitsprinzip“ bekannten Grundsatz formuliert, unter einer Bedingung beschränkt werden dürfe: Um sich selbst oder eine andere Person zu schützen. (Zitat: „… dass der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumischen befugt ist: sich selbst zu schützen. Dass der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gesellschaft rechtmäßig ausüben darf: die Schädigung anderer zu verhüten.“) Eingriffe des Staates oder der Gesellschaft hingegen, die darauf abzielen, den Einzelnen zu einem Verhalten zu zwingen, das ihrer Meinung nach besser oder klüger sei bzw. das Individuum glücklicher mache, sind nach Mill hingegen unrechtmäßig und müssen unter allen Umständen vermieden werden. Denn „über sich selbst, über seinen eigenen Körper und Geist“ sei jeder einzelne ein souveräner Herrscher.

Dieser „sehr einfache Grundsatz“ bedürfe, wie Mill selbst feststellt, einiger Ergänzungen und Einschränkungen. Zum einen sei der Satz lediglich auf „mündige“ Personen anzuwenden, sowohl Kinder als auch geistig Kranke bleiben von ihm ausgeschlossen, zum zweiten könne man auch bei einer zurückgebliebenen Gesellschaft (einer Barbarei) nicht davon ausgehen, dass diese sich selbst entwickeln könne, womit ein Despotismus hier eine legitime Regierungsform sei. Freiheit, so Mill, könne „nicht auf einer Entwicklungsstufe angewendet [werden], auf der die Menschheit noch nicht einer freien und gleichberechtigten Erörterung derselben fähig [sei]“. Ferner seien durchaus Situationen denkbar, in der staatliche Akteure zum Wohle anderer oder zum Wohle des gesamten Staates Druck auf das Individuum ausüben dürften, so z. B. zur Verhinderung von Falschaussagen vor Gericht, zur Sicherung der Landesverteidigung oder zur Aufrechterhaltung einer Infrastruktur. Überall dort jedoch, wo nur die Interessen des Individuums betroffen seien oder sein Handeln andere Mitglieder der Gesellschaft nicht ungebührlich einschränkten oder belästigten, hätten weder der Staat noch die Gesellschaft ein Recht dazu, dem Einzelnen Vorgaben zu machen oder ein bestimmtes Verhalten zu erzwingen.

Diese Freiheit umfasst laut Mill eine ganze Reihe von Bereichen des privaten und öffentlichen Lebens. Hierbei handele es sich um:

  1. Die Gewissensfreiheit, also die Freiheit des Denkens und Fühlens und die Unabhängigkeit der persönlichen Meinung und Gesinnung (sowie nahezu untrennbar mit ihr verbunden das Rede- und Publizierrecht),
  2. die freie Wahl der Lebensgestaltung inklusive einer freien Wahl der Ausbildung, der Lehrinhalte, des Geschmacks und der Lebensplanung sowie
  3. die Vereinigungsfreiheit zu jedem beliebigen sozialen, politischen, wirtschaftlichen oder privaten Zweck (freilich unter der Voraussetzung, dass andere damit nicht geschädigt würden und der Zusammenschluss freiwillig geschehe).

Über die Freiheit der Gedanken und der Diskussion

Die Presse- und Meinungsfreiheit war, zumindest nach Mills Urteil, im Großbritannien seiner Zeit bereits so ausgeprägt, dass er massive Beschränkungen oder eine Zurücknahme derselben nicht mehr fürchtete. Allerdings stellte er hierbei eine große Ausnahme fest, nämlich die Tatsache, dass Einschränkungen der Pressefreiheit durch den Staat durchaus noch festzustellen seien, wenn dies auf Wunsch der Bevölkerung oder bei einer Verletzung moralischer Grundsätze geschehe. Mill dürften hierbei seine eigenen Erfahrungen zumindest teilweise beeinflusst haben, wurde er als junger Erwachsener doch wegen des Verteilens „obszöner Literatur“ (einer Anleitung zur Schwangerschaftsverhütung) zu einer vierzehntägigen Gefängnisstrafe verurteilt.

Gerade hierin, im Einfluss des Volkes, sieht Mill eine besondere Gefahr. Da die Gesellschaft über nahezu unbeschränkte Sanktionsmöglichkeiten (z. B. in Form von sozialer Ächtung und psychischen Drucks) verfüge, übe sie eine noch größere Macht aus als Regierungen früherer Zeiten. Sie habe jedoch aus mehreren Gründen ebenso wenig das Recht, die Meinung eines Individuums zu unterdrücken wie dieses umgekehrt das Recht habe, der Gesellschaft seinen Willen aufzuzwingen:

  • Falls die unterdrückte Meinung wahr sei, würde der Gesellschaft eine Möglichkeit zur Fortentwicklung vorenthalten.
  • Erst in der Diskussion sei es möglich, aus Erfahrungen und Thesen eine gesicherte Wahrheit zu entwickeln, und selbst wenn die unterdrückte Meinung falsch sei, könne diese durch eine Falsifizierung zu einem noch besseren und tieferen Verständnis der Wahrheit beitragen.

Dass eine neue oder unkonventionelle Meinung richtig sei, könne nach Mill praktisch immer eintreten, unabhängig davon, wie profund das Wissen derjenigen ist, die die (neue) Meinung unterdrücken wollten. Und obwohl sich jeder Mensch der eigenen Fehlbarkeit prinzipiell bewusst sei, dominiere in Diskussionen doch stets die Überzeugung, dass man im aktuellen Sachverhalt die richtige Position vertrete. Dies gelte in besonderem Maße, wenn man die Meinung eines überwiegenden Teils einer Gesellschaft vertrete, sich also auf allgemein anerkannte Werte und Moralvorstellungen oder weithin akzeptiertes Wissen beziehe. Dabei gebe es genügend historische Beispiele, in denen ganze Epochen sowohl in ihrem Faktenwissen irrten (so z. B. vor Galileo Galileis astronomischen Entdeckungen) oder in denen herausragende Persönlichkeiten entweder von einer fehlgeleiteten Mehrheit zum Schweigen gebracht wurden (beispielsweise Sokrates, der wegen Gott- und Sittenlosigkeit zum Tode verurteilt, oder Jesus von Nazareth, der wegen seiner Lehren gekreuzigt wurde) oder selbst in die Irre gingen (Mill redet hier vom römischen Kaiser Marc Aurel, der trotz hoch stehender Moralvorstellungen und eines tadellosen Lebens die Christenverfolgung angeordnet habe). Die Entgegnung einiger seiner Zeitgenossen, dass erst durch eine Feuerprobe (bisweilen im wahrsten Sinne des Wortes) die Substanz und der Wahrheitsgehalt neuer Thesen überprüft werden könnten, lehnt Mill daher auch entschieden ab. In der Religionsgeschichte könne man sehen, dass neue (und „richtige“) Interpretationen und Lehren, wenn schon nicht für immer unterdrückt, so doch leicht für Jahrhunderte zurückgeworfen werden könnten, und selbst die vom durch den Antikatholizismus geprägten englischen Volk so befürwortete Reformation sei mindestens zwanzigmal vor Luther ausgebrochen und jedes Mal wieder erstickt worden. Vielmehr benötige eine Gesellschaft, die sich nicht nur auf unstrittige und somit harmlose Themen konzentrieren solle, eine weitgehende Freiheit sowohl von politischen wie gesellschaftlichen Zwängen. Es bestände sonst die Gefahr, dass aus Freigeistern Duckmäuser und aus großen Denkern eingeschüchterte Haderer mit ihrem Schicksal würden.

Für den zweiten von ihm betrachteten Fall, in dem die neue Meinung falsch sei, stellt Mill fest, dass selbst dies im Interesse der Wahrheit durch einen Dialog und nicht durch ein Diskussionsverbot verdeutlicht werden müsse. Die Wahrheit drohe sonst zu einem Dogma zu verkommen, das nicht mehr stringent begründet werden und somit in Diskussionen auch nicht mehr effektiv gegen abweichende Positionen (also falsche Ansichten) verteidigt werden könne. Wichtig sei es daher, jeden Menschen darin zu unterrichten, Behauptungen und auch tradiertes Wissen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen.

Zu den Grenzen der Meinungsfreiheit

Mill im Alter

Nach Mill umfasst das Recht der freien Diskussion auch das Recht, seine Meinungen kund zu tun und zu publizieren. Allerdings erkennt er selbst an, dass es hierbei gewisse Grenzen geben müsse. Während er Maßnahmen gegen unfaire Diskussionspraktiken (wie Unterdrückung von Fakten, Beweisfälschung, Grobheiten oder persönliche Angriffe) noch nicht verboten sehen will, könne „niemand behaupten, dass Handlungen ebenso frei sein dürften wie Meinungen.“ Gegnern einer Meinungsäußerung gesteht er deshalb auch das Recht auf eine zumutbare Ausweichmöglichkeit zu und definiert, dass diese vom Provokateur mit seinen Belästigungen nicht verfolgt werden dürften. „Die Freiheit des Einzelnen“, so Mill, „darf sich nicht zu einer Belästigung für Andere entwickeln.“

Ebenfalls verboten werden müssen nach Mill „alle Handlungen, gleich welcher Art, die ohne gerechten Anlass anderen Schaden zufügen“. Dies umfasst unter anderem Aufforderungen zur Gewalt oder solche zur Störung der öffentlichen Ordnung, durch die mit großer Wahrscheinlichkeit direkter Schaden an anderen Individuen und deren Besitz angerichtet würden (Mill nennt hier als Beispiel das Aufhetzen eines Mobs). Gerechtigkeit geht bei Mill also aus der Möglichkeit zum Individualismus aller hervor, und die individuellen Rechte gelten nur „innerhalb der durch die Rechte und Interessen Anderer gezogenen Grenzen“. So ist beispielsweise ein Verbot von Stalking aus seiner Position abzuleiten; die Verfolgung eines einzelnen erklärten Nicht-Christen von einer christlichen Mehrheit hingegen ist danach zu verurteilen.

Zur freien Entwicklung der Persönlichkeit

Von den gerade genannten Beschränkungen einmal abgesehen, propagiert Mill jedoch das Recht auf eine ungehinderte und freie Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und (gemäß seiner utilitaristischen Ethik) auf das Streben nach dem größten möglichen individuellen (und allgemeinen) Glück. Dies sei aus mehreren Gründen sinnvoll, denn zum einen sei Individualität nicht nur „etwas innerlich Wertvolles“, sondern:

  • Alle könnten möglicherweise von originellen Charakteren lernen, die neue Bräuche und einen „besseren Geschmack und Sinn im Menschenleben“ einführten,
  • alles vorhandene Gute sei das Ergebnis origineller Schaffenskraft,
  • erst die Entwicklung der eigenen Individualität ermögliche jedem Einzelnen, das für ihn produktivste und erfolgreichste Leben zu führen, und schließlich
  • sei menschlicher Fortschritt nur im Widerstand gegen die „Tyrannei der Gewohnheit“ möglich.

Werde hingegen in einer Gesellschaft ausschließlich Gleichheit angestrebt, drohe der Niedergang oder zumindest eine Stagnation denn mit dem Trend zur Uniformität, der auch im Westen immer stärker festzustellen sei, schrumpfe die Fähigkeit, wissenschaftliche oder soziale Durchbrüche zu erzielen.

Zu den Grenzen der Entwicklungsfreiheit und zur Straffrage

Während das Individuum nach Mill in seiner Entwicklung nach innen völlig ungehindert handeln darf („wenn die Handlung nur die Interessen des Betreffenden selbst angeht oder die anderer mit ihrem Willen – vorausgesetzt, alle Betreffenden seien volljährig und im Besitz ihres Verstandes"), betrachtet er dieses durchaus nicht als isoliertes Subjekt, sondern als Bestandteil der Gesellschaft (zoon politikon), die ihr Recht auf einen Anteil am menschlichen Leben habe. Die Tatsache, dass man in einer Gesellschaft lebe, mache es jedem „unbedingt zur Pflicht, eine bestimmte Linie des Benehmens gegen die anderen einzuhalten.“ Dazu zähle zum einen, durch sein eigenes Handeln die Interessen anderer nicht zu schädigen und zum anderen, einen Teil zu den Kosten beizutragen, die für die Gesellschaft bei der Bereitstellung ihrer Leistungen (Schutz nach innen und außen, Aufbau einer Infrastruktur, Wohlfahrt) anfallen.

Allerdings sollten Mills minimalistische Grundsätze nicht als Plädoyer für einen Staat aus Egomanen verstanden werden, in dem lediglich das absolut Notwendige für die Gesellschaft geleistet werden solle und sonst ausschließlich Individualinteressen dominieren. Ganz im Gegenteil erhofft sich Mill eine aktive Rolle jedes Einzelnen in der Gesellschaft und auf zwischenmenschlicher Ebene. Lediglich von staatlichen Beschränkungen und Vorgaben will er diese Handlungen befreit sehen und bevorzugt Methoden der sozialen Kontrolle. Mills Instrumente sind dabei z. B. Warnungen, Ratschläge und in Extremfällen auch Ablehnung oder Verachtung durch die Gesellschaft. Auch sollte bei jeder Gesetzgebung berücksichtigt werden, dass Strafen leichter „Rebellen erzeugten“ und der Schaden, der aus einem Handeln entstehe, häufig wirksamer vor einer Nachahmung schütze als vorbeugende Verbote.

Erst wenn andere durch das Verhalten des Individuums in ihren Rechten verletzt würden (Mill nennt hier die Fälle eines trinkenden Vaters, der seine Familie nicht mehr ernähren kann und eines Schuldners, der durch Prunksucht und Verschwendung seinem Schuldendienst nicht nachkommt), sei eine staatliche Strafe gerechtfertigt und müsse auch vollstreckt werden.

Philosophisches und gesellschaftliches Grundverständnis

Zum Utilitarismus

Der Utilitarismus ist eine auf Jeremy Bentham und James Mill zurückgehende Ethik, die eine Handlung dann als sittlich und moralisch gut beurteilt, wenn diese nützlich ist. John Stuart Mill, der das Konzept Benthams und James Mills nach deren Tod weiterentwickelte, definiert hierfür, dass eine Sittlichkeit dann gegeben sei, wenn Handlungen die Tendenz haben, Glück zu befördern, während sie moralisch falsch seien, wenn sie zu Leiden führen.

Der utilitaristischen Theorie nach streben alle Menschen danach, Lust zu gewinnen und Unlust zu vermeiden. Von Zeitgenossen wurde der Utilitarismus vor allem deshalb kritisiert, weil er das Luststreben ins Zentrum menschlichen Handelns stellte und somit keinen Raum für edlere Ziele und einen höheren Zweck (z. B. göttliche Fügungen) ließ („pig philosophy“). Der Begriff „Lust“ [pleasure] bezieht sich bei Bentham und James Mill jedoch nicht zwangsweise auf direkte Sinneswahrnehmung und Stimulationen (physische Lust bzw. Sinnlichkeit), sondern primär, wie John Stuart Mill hervorhebt, auf eine geistige Erfüllung und „Glück“ [happiness]. Somit sei ein Streben nach Lust, das nach Mill unterschiedliche Qualitäten aufweist (das einfache Glücksstreben eines Schweines oder das eines Narren sei leichter zu finden als das eines Sokrates), auch das Streben nach einer höheren Entwicklungsstufe und „der Utilitarismus (könne) sein Ziel daher nur durch die allgemeine Ausbildung und Pflege eines edlen Charakters erreichen“.

Mill teilte die Menschen in zwei Kategorien ein. Der Ersten zugehörig seien Menschen mit "höheren Fähigkeiten", was auf das geistige Potenzial bezogen ist. Diese kennen beide Seiten des Glücks und sind so niemals zufriedenzustellen, da sie stets nach dem Vollkommenen streben, obwohl sie wissen, dass dies nie zu erreichen ist. Menschen mit "niederen Fähigkeiten" können sich keine richtige Vorstellung vom "wahren" Glück machen und sind so schneller zufriedenzustellen.

Feminismus

Ungewöhnlich für seine Zeit und wahrscheinlich beeinflusst durch seine spätere Frau Harriet Taylor Mill, vertritt J. S. Mill feministische Ansichten. "Alle selbstsüchtigen Neigungen, Selbstvergötterung und ungerechte Selbstbevorzugung, mit denen die Menschheit behaftet ist, haben ihren Ursprung in dem gegenwärtigen Verhältnis zwischen Mann und Frau". Er fordert ebenso das Frauenwahlrecht wie ein Scheidungsrecht. Auch untersucht er als einer der ersten sozialwissenschaftlich die Unterdrückung der Frau.

Wirtschaftswachstum und stationärer Zustand

In Grundsätze der politischen Ökonomie (Principles of Political Economy) beschreibt Mill seinen stationären Zustand. Er geht davon aus, dass nach Erreichen des Wachstumsziels (ein Leben in Wohlstand für alle) eine Zeit des Stillstands kommen müsse. Dieser stationäre wirtschaftliche Zustand bedeutet für ihn jedoch nicht, dass auch kein intellektueller, kultureller und wissenschaftlicher Fortschritt stattfindet und auch ein Mangel an Waren vorhanden ist. Stillstand herrscht allein in Bezug auf die Kapital- und Bevölkerungszunahme. Es ist ein Zustand in dem "[...] keiner arm ist, niemand reicher zu sein wünscht, und niemand Grund zu der Furcht hat, dass er durch die Anstrengungen anderer, die sich selbst vorwärts drängen, zurückgestoßen werde." Das Streben nach Wachstum bezeichnet Mill als Sucht. Er geht davon aus, dass gesellschaftliche, kulturelle und sittliche Fortschritte umso größer wären, würde der Mensch dieser Sucht entsagen. Erwerbstätigkeit kann ebenso in Mills stationärem Zustand stattfinden, "nur mit dem Unterschiede, dass die industriellen Verbesserungen anstatt nur der Vermehrung des Vermögens zu dienen, ihre ursprüngliche Wirkung hervorbrächten, nämlich die Arbeit zu verkürzen."

Karl Marx mit seinem Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate setzte an solche Überlegungen kritisch an.

Werke

  • A System of Logic, Ratiocinative and Inductive, Being a Connected View of the Principles of Evidence, and the Methods of Scientific Investigation, 1843 (Digitalisat), vgl. dazu Die induktiven Methoden von John Stuart Mill
  • Essays on some Unsettled Questions of Political Economy, 1844
  • Principles of Political Economy, 1848 (Digitalisat der Ausgabe 1857: Vol. 1, Vol. 2) – deutsch: Grundsätze der politischen Oekonomie (Digitalisat: Bd. 1, Bd. 2)
  • Utilitarianism, 1863 (E-Text)
  • Considerations on Representative Government, 1861
  • Auguste Comte and Positivism, 1865
  • Examination of Sir William Hamilton's Philosophy, 1865
  • Subjection of Women, 1869 - deutsch: Die Hörigkeit der Frau [1])
  • Autobiography, postum 1873 (E-Text)
  • Three Essays on Religion, postum 1874
  • On Liberty – deutsch: Über die Freiheit

Literatur

  • Nicholas Capaldi: John Stuart Mill. A biography. CUP, Cambridge 2004, ISBN 0-521-62024-4.
  • Jürgen Gaulke: John Stuart Mill. Rowohlt, Hamburg 1996, ISBN 3-499-50546-0.
  • Richard Reeves: John Stuart Mill: Victorian Firebrand. Atlantic Books, 2007, ISBN 978-1843546436. 
  • Peter Rinderle: John Stuart Mill. Beck, München 2000, ISBN 3-406-41957-7.
  • Ralph Schumacher: John Stuart Mill. Campus Verlag, Frankfurt/M. 1994, ISBN 3-593-35156-0.
  • Erich W. Streissler (Hrsg.): John Stuart Mill. Duncker & Humblot, Berlin 2002, ISBN 3-428-10872-8
  • Peter Ulrich, Michael S. Aßländer (Hrsg.): John Stuart Mill. Der vergessene politische Ökonom und Philosoph. Haupt Verlag, Stuttgart 2006, ISBN 3-258-07038-5.

Weblinks


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