Juden in Breslau

Juden in Breslau

Die Geschichte der Juden in Breslau beginnt im frühen 13. Jahrhundert. Nachdem ihnen im 15. Jahrhundert das Wohnrecht entzogen wurde, blühte die jüdische Gemeinde seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wieder auf und brachte im 19. und frühen 20. Jahrhundert bis zum Aufkommen des Nationalsozialismus viele bedeutende Rabbiner sowie jüdische Gelehrte und Schriftsteller hervor.

Inhaltsverzeichnis

Mittelalter

Der früheste Nachweis von Juden in Breslau ist ein Grabstein aus dem Jahr 1203. Im Jahr 1267 beschloss eine Kirchensynode, die Rechte der Juden in Breslau einzuschränken, doch Herzog Heinrich IV. garantierte ihnen zwischen 1270 und 1290 Privilegien. Die mittelalterliche Gemeinde verfügte über Synagogen, ein Tauchbad und Friedhöfe, wobei einige Grabsteine aus dieser Zeit erhalten geblieben sind. Im Laufe des 14. Jahrhunderts, zur Zeit der Pestepidemien, wurden Juden mehrmals aus Breslau ausgewiesen. Nachdem sie von dem Franziskaner Johannes Capistrano der Hostienschändung beschuldigt worden waren, wurden 1453 41 Juden auf dem Scheiterhaufen verbrannt und die anderen aus der Stadt ausgewiesen. 1455 erhielt die Stadt Breslau ein kaiserliches privilegium de non tolerandis Judaeis („Privileg zur Nichtduldung der Juden“), was zur Ausweisung aller Juden aus der Stadt führte, mit Ausnahme der Messebesucher. Dieses Verbot blieb de jure bis 1744 in Kraft.

Vom frühen 16. Jahrhundert an begannen Juden wieder die Stadt während der Messen zu besuchen, die für den Handel mit den benachbarten Ländern eine wichtige Rolle spielten. Nach und nach erteilte der Stadtrat Besuchsgenehmigungen auch außerhalb der Messezeiten. In diesem Zusammenhang wurde für die jüdischen Messebesucher eine besondere Art von Gemeindeorganisation errichtet: „Messe-Schatzmeister“ vertraten die Juden gegenüber den Behörden, erhoben Steuern und trafen Vorsichtsmaßnahmen gegen Diebe und Schwindler; „Messe-Richter“ (zwei aus Polen und einer aus Mähren) waren befugt, Bußen zu erheben und Besuchsverbote auszusprechen, und ein „Messe-Ausschuss“ überwachte die Einhaltung der Speisevorschriften. Zwischen den Messen gab es besondere Beamte namens Schammes, die vom Rat der vier Länder ernannt wurden. Ihre Aufgabe bestand in der Erhebung von gewissen Summen von jüdischen Messebesuchern. Außerdem versorgten sie die Juden in Polen mit Etrogim aus der Breslauer Messe. Diese Beamten, wie auch einige jüdische Messebesucher, wurden schließlich ständige Bewohner der Stadt Breslau.

Im späten 16. Jahrhundert gab es zwei Kategorien von Schutzjuden, die unter kaiserlichem bzw. städtischem Schutz standen. Nach ihrem Herkunftsort waren sie in verschiedene Schulen aufgeteilt und verfügten weder über einen Rabbiner noch über einen Friedhof, da offiziell keine jüdische Gemeinde existierte. Eine der ältesten Institutionen der neuzeitlichen Breslauer jüdischen Gemeinde war die Beerdigungsgesellschaft (Chewra Kadischa), die 1726 errichtet wurde.

Frühe Neuzeit

Nach der Eroberung von Breslau durch die Preußen im Jahre 1741 bewilligten die neuen Behörden die Errichtung einer Gemeinde, die 1744 auf zwölf Familien beschränkt wurde, und bestätigten die Ernennung von Bendix Reuben Gomperz (Baruch Wesel) als deren ersten Rabbiner. 1761 erwarb die Gemeinde einen Friedhof, der diejenigen von Lissa, Dyhernfurth und Krotoschin ersetzte. Die Bedeutung der Juden für den Handel mit Polen führte dazu, dass allmählich die Anzahl von Juden durch die Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen erhöht wurde. Es gab zu dieser Zeit verschiedene Klassen von Berechtigten: „Generalprivilegierte“, „Tolerierte“, „Fix-Entristen“ (bezahlten eine regelmäßige Gebühr für zeitlich begrenzten Aufenthalt) sowie „Schutzgenossen“, die bei der Gemeinde oder bei Privatpersonen angestellt waren. 1776 lebten etwa 2.000 Juden in Breslau. 1791 wurden die Juden durch ein neues Reglement unterteilt in „Generalprivilegierte“, welche ausschließlich die Gemeinde bildeten, „Stammnumeranten“, d.h. Familienangehörige der Generalprivilegierten, und „Extra-Ordinäre“, die zwar die Mehrheit bildeten, von der Gemeindemitgliedschaft jedoch ausgeschlossen waren. Die führenden Breslauer Familien standen im Allgemeinen auf Seiten der Haskala und der Reformbestrebungen. Zur Verwirklichung ihrer Ideen benutzten sie ihre Verbindungen mit toleranten preußischen Beamten und errichteten Schulen, wo Kinder aus armen Familien eine moderne Erziehung erhielten. Dazu gehörten die Königliche Wilhelmsschule, 1791 gegründet, und die Mädchenschule für arme Töchter aus dem Jahre 1801, welche staatliche Unterstützung genossen. Von Seiten des orthodoxen Judentums stießen diese Schulen auf Widerstand.

19. und frühes 20. Jahrhundert

Zwischen der Gemeindemehrheit und ihren Führungskräften verschärften sich nach dem Preußischen Judenedikt von 1812 die Spannungen. Die neuen Gemeindevertreter bemühten sich zunehmend um Reformen und um verstärkte Assimilation. Salomo Tiktin und sein Sohn Gedalia, der von 1843 bis zu seinem Tod 1886 als Rabbiner amtierte, führten die orthodoxe Partei gegen die Reformpartei an, die von Abraham Geiger angeführt wurde, der von 1840 bis 1863 als liberaler Rabbiner in Breslau amtierte. Die jüdische Gemeinde blieb jedoch eine Einheitsgemeinde, mit je einer orthodoxen und einer liberalen Kultuskommission und jeweils eigenen Rabbinern, Synagogen und Schulen. Beide Teile der Gemeinde führten ein aktives religiöses und kulturelles Leben. Eine Mittelstellung nahm das 1854 gegründete Jüdisch-Theologische Seminar Breslau ein, das erste moderne Rabbinerseminar in Europa. Dessen erster Direktor war Zacharias Frankel, der Begründer des konservativen Judentums, der infolge seiner Berufung von Dresden nach Breslau umzog. Noch in Dresden gründete Frankel 1851 die Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums, für die er bis 1868 in Breslau als leitender Redakteur tätig war und dann vom Historiker Heinrich Graetz abgelöst wurde, der auch am Seminar dozierte. Die erste jüdische Studentenverbindung, Viadrina, wurde 1886 an der Universität Breslau gegründet. Von 1895 bis 1937 erschien in Breslau das Jüdische Volksblatt, das später den Namen Jüdische Zeitung für Ostdeutschland erhielt. 1924 bis 1938 erschien zudem das Breslauer Jüdische Gemeindeblatt. Nach dem Ersten Weltkrieg erfuhren die kulturellen Aktivitäten zunächst einen Aufschwung. 1921 wurde eine jüdische Elementarschule errichtet, 1923 folgte ein Realgymnasium, die beide konservativ ausgerichtet waren. 1930 wurden ein Jugendinstitut und ein Altersheim eröffnet. Zu den führenden jüdischen Persönlichkeiten aus dieser Zeit gehört auch Ferdinand Lassalle, einer der Begründer der deutschen Arbeiterbewegung. Die höchste Anzahl erreichte die jüdische Bevölkerung von Breslau im Jahre 1925, als 23.240 Juden verzeichnet wurden; bis 1939 sank diese Zahl auf 10.309.

Zeit des Nationalsozialismus

Nach dem Novemberpogrom 1938 mussten die erzieherischen, kulturellen und sozialen Aktivitäten der jüdischen Gemeinde aufgegeben werden. Sämtliche Synagogen und Schulen wurden zerstört; als einziges Gebetshaus blieb die Storch-Synagoge (1829 gegründet) noch nach November 1938 bestehen. Vom September 1941 an wurden die Breslauer Juden in „Judenhäusern“ zusammengetrieben und einige Monate später nach Grüssau, Tormersdorf und anderen schlesischen Orten, von dort aus weiter nach Auschwitz deportiert. Von April 1942 an wurden die verbliebenen Juden direkt nach Auschwitz, Sobibor, Riga oder Theresienstadt deportiert. Bis 1943 waren von der Breslauer Gemeinde nur noch Partner aus gemischten Ehen und einige Kinder übrig geblieben. Der älteste, 1761 eingeweihte Friedhof wurde zerstört. Das 1924 errichtete Gemeindearchiv blieb in einem Friedhofsgebäude erhalten und wurde 1945 in das Jüdische Historische Institut in Warschau übergeführt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Breslau eine neue jüdische Gemeinde von polnischen Juden gegründet, welche die „Storch-Synagoge“ wiederum als Gebetsraum benutzten. Bis 1967 gab es in der Stadt eine jiddische Primarschule. Nach dem Sechstagekrieg wanderten die meisten Breslauer Juden nach Israel aus.

Aktuelle Situation

Heute gibt es in Breslau eine jüdische Gemeinde mit rund 300 eingetragenen Mitgliedern. Neben der „Storch-Synagoge“, die als Gebets- und Veranstaltungshaus genutzt wird, existiert die 1998 gegründete jüdische Grundschule „Lauder - Etz Chaim“ (Lebensbaum) und ein jüdischer Kindergarten. Diese beiden Einrichtungen wurden mit Hilfe der Ronald S. Lauder Foundation gegründet, leiden allerdings an einem Mangel an jüdischen Kindern, so dass die Vorschuleinrichtung heute bereits den Namen Nichtöffentlicher Europäischer Kindergarten („Niepubliczne Przedszkole Europejskie“) trägt. Während der Alte Jüdische Friedhof zu einem Museum für Friedhofskunst wurde und recht gut konserviert ist, wird der Neue Jüdische Friedhof weiterhin von der jüdischen Gemeinde Breslaus genutzt, erfordert aber Restaurierungsarbeiten.

Quellen

Siehe auch

Literatur

  • Till van Rahden: Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860 bis 1925. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2000, S. 111, ISBN 3-525-35732-X

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