Kanadisches oder Quebecer Französisch

Kanadisches oder Quebecer Französisch

Als Quebecer Französisch (fr. le français québécois) bezeichnet man die Variante des Französischen, die in Québec, Ontario und den westlichen Provinzen Kanadas gesprochen wird. Die traditionelle Bezeichnung kanadisches Französisch (fr. le canayen) wird heute immer mehr durch die Bezeichnung Quebecer Französisch ersetzt, die allerdings unterschlägt, dass diese Variante des Französischen auch westlich der Provinz Québec gesprochen wird (siehe Frankophone Kanadier, Französisch in Kanada).

Klar vom kanadischen bzw. Quebecer Französisch abgrenzen kann man das akadische Französisch, das in den Seeprovinzen New Brunswick, Nova Scotia, Prince Edward Island und in einem kleinen Teil der zu Québec gehörenden Gaspésie gesprochen wird, sowie das neufundländische Französisch, das an der Westküste (Port-au-Port Halbinsel) Neufundlands gesprochen wird.

Aufgrund der räumlichen Isolierung vom Rest der Frankophonie weist das kanadische bzw. Quebecer Französisch wie die anderen Varianten des Französischen in Nordamerika (siehe Französisch in den USA, Haitianisch) deutliche Unterschiede im Vergleich zum Französischen in Europa auf. Diese Unterschiede sind in der Umgangssprache besonders ausgeprägt. Bei formalen Anlässen nähern sich viele Sprecher dem français de Radio-Canada (dem Französisch des Kanadischen Rundfunks) an, das nicht so weit vom europäischen Standard entfernt ist.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Das Französische wurde im Laufe des 17. Jahrhunderts zur Verkehrssprache in der Kolonie Neufrankreich. Die meisten französischen Kolonisten, die sich im 17. Jahrhundert im Sankt-Lorenz-Strom-Tal niederließen, kamen aus der Île-de-France, der Normandie, dem Poitou, dem Guyenne, der Bretagne, Saintonge und Aunis. Mit Ausnahme der Siedler aus der Île-de-France waren die meisten nicht frankophon (siehe Französische Sprache). Die Gemeinsprache der Siedler war jedoch die Pariser Koine sodass ihre Muttersprachen keine Spuren im kanadischen Französisch hinterlassen haben (Fournier & Wittmann 1995, Wittmann 1998).

Spätestens mit der Abtretung Neufrankreichs an die Briten löste sich das kanadische bzw. Quebecer Französisch von der Entwicklung des Französischen in Europa: Es bewahrte auf der einen Seite viele Elemente eines älteren Sprachstandes, auf der anderen Seite nahm es in seiner nordamerikanischen Umgebung auch viele neue Einflüsse auf. Entscheidend waren hierbei die unmittelbare Nachbarschaft zum Englischen und zu verschiedenen indigenen amerikanischen Sprachen, sowie der Zustrom von nicht-frankophonen Einwanderern nach Kanada.

Lexik

Das kanadische bzw. Quebecer Französisch hat eine Reihe von Archaismen bewahrt, die heute in Frankreich veraltet sind:

  • frz. voiture: qc./can. char
  • frz. casserole: qc./can. chaudron
  • frz. très froid: qc./can. frette
  • frz. pull-over, "t-shirt", etc.: qc./can. chandail
  • frz. pomme de terre: qc./can. patate

Französische Wörter wurden für das Leben in Kanada neu geschaffen (Neologismen), manche davon mit dem Ziel, Anglizismen zu vermeiden:

  • ein dépanneur ist ein Geschäft, in dem man jenseits der Öffnungszeiten einkaufen kann
  • eng. shopping, qc./can. magasinage
  • poudrerie bezeichnet einen Sturm, bei dem der Wind den bereits liegenden Schnee aufwirft
  • tuque ist eine große Wollmütze, die die Ohren bedeckt (in Erweiterung auch jede andere Mütze)

Anglizismen im Französisch Frankreichs wurden "französiert":

  • frz. vol charter; qc./can. vol nolisé
  • frz. week-end; qc./can. fin de semaine
  • frz. ferry; qc./can. traversier

Andere Wörter wurden dagegen aus dem Englischen übernommen oder analog zum Englischen gebildet (es ist Ziel der Sprachpolitik, dies zurückzudrängen):

  • frz. fève; eng. bean; qc./can. bine
  • frz. travail; eng. job; qc./can. job, djobe
  • frz. ventilateur; eng. fan; qc./can. fanne
  • frz. dentifrice; eng. tooth paste; qc./can. pâte à dents
  • frz. annuler; eng. cancel; qc./can. canceller

Auch aus anderen Sprachen wurden Wörter übernommen:

  • baskisch oregnac; qc./can. orignal (nordamerikanischer Elch)
  • aus dem Algonquin kommt caribou (nordamerikanisches Ren)


Satzbau

In der Umgangssprache gibt es die Fragepartikel -tu, die in direkten Fragesätzen verwendet wird (Dumas 1987). Eine ähnliche Fragepartikel findet sich auch heute noch in einigen nordfranzösischen patois, wo sie ursprünglich als -ti auftritt, da sie aus der Inversionsfrage (Jean, est-il là?) hervorgegangen ist (Paris 1887).

  • C'est-tu loin, ça? "Ist es weit?"
  • Ta mère tu là? "Ist deine Mutter da?" (mit Schwund von "sein")
  • J'ai-tu l'air fatigué? "Sehe ich müde aus?"
  • Y'en a-tu d'autres? "Gibt es andere?"
  • Ça vous tente-tu vraiment d'y aller? "Habt ihr wirklich Lust hinzugehen?"
  • M'as-tu aller là? "Werde ich da hingehen?" (Vergleiche Haitianische /esk m a alé la?/)
  • Faut-tu être cave pas à peu "Muss man da nicht wirklich blöd sein?"
  • C'est-tu pas possible, ce qui arrive là! "Ist was da vorkommt möglich?"

In basilektalen Varianten wird das Imperfektum des verbums "sein" analytisch auseinandergelegt, mit agglutinierten Präsenzformen (Fournier & Wittmann 1995, Wittmann 1998).

  • (moué) chu tà àprà manjé "ich war am essen" (aus j'suis'tais (j'étais) après manger)
  • (toué) té tà
  • (lui) i(é) tà
  • (èl) è tà
  • (nouzot) ouen tà
  • vouzot tà
  • (euzot) son tà / (euzot) i tà

Weibliche Formen

Die Québecer bzw. Kanadier bilden weibliche Formen für eine Reihe von Substantiven, die im Französischen in Frankreich keine weibliche Form haben:

  • l'auteur, l'auteure
  • le maire, la mairesse
  • le premier ministre, la première ministre
  • le professeur, la professeure

Regionale Varianten

Auch innerhalb des kanadischen bzw. Quebecer Französisch gibt es regionale Varianten. Sprecher vom Lac Saint-Jean oder aus der Beauce sind auch für die anderen Sprecher nicht immer leicht zu verstehen.

Markantestes Kennzeichen der Montrealer Variante ist die besonders intensive Diphtongierung langer Vokale (Dumas 1987, Ostiguy & Tousignant 1993). So würde ein Montrealer Sprecher das Wort père "Vater" [paer] aussprechen, während ein Sprecher aus der Stadt Québec [pɛr] sagen würde. Es gibt auch grammatische Unterschiede, z.B. im Genus: "der Bus" heißt in Montréal und international "le bus", in Québec umgangssprachlich "la bus".

Literatur

  • Dumas, Denis (1987). Nos façons de parler: les prononciations en français québécois. Sainte-Foy: Presses de l'Université du Québec.
  • Scheunemann, Britta (2006). Québécois Slang: Das Französisch Kanadas. Bielefeld: Reise-Know-How Verlag.
  • Martel, Pierre & Hélène Cajolet-Laganière (1996). Le français québécois: usages, standard et aménagement. Québec: Presses de l'Université Laval.
  • Fournier, Robert & Henri Wittmann (1995). Le français des Amériques. Trois-Rivières: Presses Universitaires de Trois-Rivières, 334 S.
  • Meney, Lionel (1999). Dictionnaire Québécois Français. Montreal: Guérin Universitaire.
  • Ostiguy,Luc & Claude Tousignant (1993). Le français québécois: normes et usages. Montreal: Guérin Universitaire.
  • Paris, Gaston (1887). "Ti, signe de l'interrogation." Romania 6.438-442.
  • Reinke, Kristin (2004). Sprachnorm und Sprachqualität im frankophonen Fernsehen von Québec: Untersuchung anhand phonologischer und morphologischer Variablen. Tübingen: Niemeyer Verlag.
  • Reinke, Kristin & Luc Ostiguy (2005a). "La concurrence des normes au Québec, dans les médias, à l’école et dans les dictionnaires." Normen und Normkonflikte in der Romania, Carsten Sinne, ed. Munich: Peniope.
  • Reinke, Kristin & Luc Ostiguy (2005b). La langue à la télévision québécoise: aspects sociophonétiques. Québec: Éditeur officiel du Gouvernement du Québec.
  • Wittmann, Henri (1973). "Le joual, c'est-tu un créole?" La Linguistique 9:2.83-93.[1]
  • Wittmannn, Henri (1998). "Le français de Paris dans le français des Amériques." Proceedings of the International Congress of Linguists 16.0416 (Paris, 20-25 juillet 1997). Oxford: Pergamon (CD edition). [2]
  • Wolf, Lothar (1987): Französische Sprache in Kanada. München, 417 S.

Weblinks


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