Kastrationskomplex

Kastrationskomplex

Die Kastrationsangst oder auch der Kastrationskomplex ist ein Konzept aus der klassischen Psychoanalyse, das auf die Theorie Sigmund Freuds zurück geht und später durch Jacques Lacan weiterentwickelt wurde.

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Kastrationsangst bei Freud

Nach Freud löst die Entdeckung des anatomischen Geschlechtsunterschieds beim Kleinkind eine Entwicklung aus, die für das Durchlaufen der ödipalen Phase entscheidend ist (siehe auch Ödipuskomplex). Diese Entwicklung ist bei Mädchen und Jungen unterschiedlich, beruht aber auf der Gemeinsamkeit, dass – nach Freud – Kinder beiderlei Geschlechts den Besitz eines Penis als den Normalfall betrachten.

Penisneid beim Mädchen

Beim Mädchen führt die Beobachtung, dass einige Menschen einen Penis besitzen und andere nicht, Freud zufolge zum unbewusstenPenisneid“ und zur Ablehnung der Mutter, dem „kastrierten Mann“. Das Mädchen will nicht werden wie die kastrierte Mutter, da es die Mutter selbst dafür verantwortlich macht, keinen Penis zu haben und an ihrer Kastration Schuld zu tragen. Durch die Zuwendung des Mädchens zum Vater gerät es in die ödipale Situation, in der es den Penis des Vaters begehrt und letztlich, so zumindest Freud, unbewusst ein Kind von ihm empfangen möchte, weil es das Kind mit einem Penis gleichsetzt.

Kastrationsangst beim Jungen

Für den kleinen Jungen hat die Entdeckung des Geschlechtsunterschieds eine andere Bedeutung. Wenn er sieht, dass manche Menschen keinen Penis haben, andere sowie er selbst aber einen besitzen, so nimmt er an, der Penis sei bei manchen durch Kastration verloren gegangen. Aus diesem Grund sieht er sich selbst unbewusst ebenfalls vom möglichen Verlust des Penis bedroht. Diese Angst ist die Kastrationsangst. Insbesondere im Kontext der ödipalen Situation kann diese Kastrationsangst durchaus positive Folgen für die Entwicklung des Kindes haben, wenn sie dazu führt, dass der Junge den unbewussten inzestuösen Wunsch nach seiner Mutter aufgibt, weil er befürchtet, dass der Vater, dem er physisch noch nicht gewachsen ist, ihn zur Strafe für sein Begehren kastrieren könnte.

Dadurch wird das Kind gedrängt, sein Begehren in der außerfamiliären Welt zu erfüllen (mit anderen Frauen), wodurch eine notwendige Orientierung des Kindes zur Gesellschaft erst möglich wird. Normalerweise gelingt es dem Jungen, dieser Situation eine positive Wendung zu geben, indem er sich mit dem Vater identifiziert. Er wünscht nun nicht mehr, den Vater zu ermorden und ihm die Mutter wegzunehmen, sondern er wünscht sich vielmehr, wie der Vater zu sein und seine Macht zu besitzen.

Die symbolische Repräsentation dieser Macht des Vaters und seines „Besitzens“ der Mutter ist der Phallus, der symbolische Penis. Mit dem Eintritt in die Geschlechtsreife gewinnt das Kind einen eigenen Phallus, ein eigenes 'Geschlechtswerkzeug', womit es die vorher (im Idealfall) bereits emotional erfolgte Loslösung aus der ödipalen Situation und letztlich aus dem Elternhaus nun auch physisch vollziehen kann.

Kastrationsangst bei Lacan

Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan bezeichnet die „Kastrationsdrohung“, der das Kind sich ausgesetzt fühlt, als „Nein-des-Vaters“ (Non-du-Père). Dieses Nein kann sowohl vom Vater selbst als auch von anderen Personen „Im-Namen-des-Vaters“ (meist implizit) ausgesprochen werden. Da für Lacan der Name-des-Vaters (le Nom-du-Père) auch die Gesetze der Gesellschaft repräsentiert (etwa das Inzesttabu), gehört der Kastrationskomplex der symbolischen Ordnung an. Durch das Nein des Vaters wird das Kind in die symbolische Ordnung der Gesellschaft und der Gesetze eingeführt. Lacan bezeichnet die Kastration, die ja stets nur angedroht bleibt, und die mit dieser Drohung einhergehende Hinwendung zum Symbolischen, deshalb auch als „symbolische Kastration“.

Mit dem Eintritt ins Symbolische geht die Kastrationsangst teilweise auf das durch den Vater repräsentierte Symbolische selbst, den großen Anderen über: „Zweifelsohne gibt es Neurotisierenderes als die Furcht den Phallus zu verlieren, nämlich nicht zu wollen, dass der Andere kastriert ist.“ (J.-B. Pontalis: Zwischen Traum und Schmerz, S. 128)

Literatur

  • Sigmund Freud: Die infantile Genitalorganisation. 1923. In: Studienausgabe Band V, Fischer-Verlag, Frankfurt a. M. 1972, S. 235–241
  • Sigmund Freud: Über einige Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds. 1925. In: Studienausgabe Band V, S. 253–266
  • Sigmund Freud: Die Ichabspaltung im Abwehrvorgang. 1938/1940. In: Studienausgabe Band III, S. 389–394
  • Jacques Lacan: Seminar VI: Die Objektbeziehungen. 1956-1957. Turia + Kant Verlag, Wien 2003
  • Jacques Lacan: Über die Bedeutung des Phallus. 1958. In: Schriften II. Quadriga Verlag, Berlin/Weinheim 1991 (3. Auflage), S. 121–132
  • Peter Widmer: Zwei Schlüsselkonzepte Lacans und ihre Bedeutung für die Praxis. In: Hans-Dieter Gondek et. al.: Jacques Lacan – Wege zu seinem Werk. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2001, S. 15–48, hier: S. 38–44
  • André Green: Der Kastrationskomplex. Edition Diskord, Tübingen 1996
  • Jean Laplanche, Jean-Bertrand Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt a. M. 1972, S. 242–247, ISBN 3-518-27607-7.
  • Jean-Bertrand Pontalis: Zwischen Traum und Schmerz. Fischer-Verlag, Frankfurt a. M. 1998

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