Kemalist

Kemalist
Mustafa Kemal Atatürk

Der Kemalismus (türk. Kemalizm oder Atatürkçülük) bezeichnet die Gesamtheit der Ideen und Prinzipien Mustafa Kemal Atatürks. Er ist die Gründungsideologie der Türkei.

Versinnbildlicht wird diese durch die so genannten sechs Pfeile (Altı Ok), die für Republikanismus im Sinne von Volkssouveränität, Nationalismus als Wendung gegen den Vielvölkerstaat des osmanischen Zuschnitts, Populismus als Ausdruck einer auf die Interessen des Volkes, nicht einer Klasse gerichteten Politik, Revolutionismus im Sinne einer stetigen Fortführung von Reformen, Laizismus, d.h. Trennung von Staat und Religion, und Etatismus mit partieller staatlicher Wirtschaftslenkung stehen.

Der Kemalismus ist seit 1931 auch zentraler Bestandteil des Parteiprogramms von Atatürks Republikanischer Volkspartei (CHP), deren Emblem heute noch sechs Pfeile zieren.

Heute betrachten sich vor allem die CHP, die Partei der Demokratischen Linken (DSP) und die Türkischen Streitkräfte als Vertreter des Kemalismus.

Inhaltsverzeichnis

Kemalismus in der Verfassung

Die 6 Prinzipien erhielten am 5. Februar 1937 – 14 Jahre nach Staatsgründung – zunächst im Artikel 2 Verfassungsrang.[1]

Im Laufe der Geschichte wurde dieser Artikel der Verfassung der Türkei jedoch zweimal geändert, und der direkte Bezug auf die 6 Prinzipien entfiel.

Die Vorlagen dafür kamen jeweils nach einem Militärputsch durch die Türkischen Streitkräfte, angenommen wurden die Vorlagen per Volksentscheid.

So wurden am 9. Juli 1961[2] zunächst Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit stärker betont, und dann am 7. November 1982 Friede der Gemeinschaft und nationale Solidarität, aber auch explizit der Nationalismus Atatürks.[3]

Konstant blieben über die Jahre hinweg nur die Prinzipien des Laizismus und Nationalismus und der Republik im Wortlaut in der Verfassung verankert.

Die sechs Pfeile des Kemalismus

Die sechs Pfeile im Logo der Republikanischen Volkspartei (Türkei)

Nationalismus

Atatürks Ziel war es, aus dem Vielvölkerstaat des Osmanischen Reiches einen Nationalstaat zu formen. Der Nationalismus (milliyetçilik) diente diesem Zweck. Grundlage des Nationalgefühls war eine gemeinsame Sprache und die gemeinsame Geschichte der Bewohner des Landes. Jeder Bürger, der sich als Türke bezeichnete, wurde als solcher akzeptiert. Der Nationalismus Mustafa Kemals basierte nicht auf dem Begriff der Rasse. Atatürks Nationalismus erteilte dem Turanismus ebenso eine Absage wie dem Panislamismus. Seinen Ausdruck findet der Nationalismus in dem Ausspruch Atatürks: „ Froh sei derjenige, der sagt: Ich bin ein Türke.“ Das Wort "Türke" ist ein Sammelbegriff für das ganze Volk. Die Bedeutung ist nicht auf die türkische Ethnie bezogen.

siehe auch:
Ne mutlu Türküm diyene
Minderheitenpolitik der Türkei

Populismus

Mit Populismus (halkçılık) ist bei Atatürk nicht der Populismus im heute gebräuchlichen Sinne gemeint, sondern das Konzept einer klassenübergreifenden gesellschaftlichen Kooperation. Dies äußerte sich insbesondere in der Adaption des schweizerischen Zivilgesetzbuches. Beeinflusst wurde dieser Populismus durch die solidarischen Konzepte von Emile Durkheim und Léon Victor Bourgeois. Der Populismus sollte dazu beitragen, das Volk für den Aufbau eines modernen Staates zu mobilisieren. Seinen Ausdruck fand er unter anderem in der rechtlichen Gleichstellung der Frau. Später diente der Grundsatz zur Rechtfertigung des Ein-Parteien-Systems: Das Volk wird durch die Partei repräsentiert.

Republikanismus

Republikanismus (cumhuriyetçilik) bedeutete, dass die junge Türkei eine republikanische Staatsform (vgl. Art. 1 der Verfassung) erhielt. Kalifat und Millet-System wurden abgeschafft.

siehe auch: Politisches System der Türkei

Laizismus

Laizismus (laiklik) bedeutete in der Türkei die Trennung von Religion und Politik und die Säkularisierung der gesamten Gesellschaft. Damit wurde die Religion Privatsache und der Einfluss religiöser Würdenträger beschränkt. Folgende Reformen hängen mit dem Prinzip des Laizismus zusammen: Abschaffung des Kalifats, Schließung der islamischen Schulen, Verbot der Polygamie, Aufhebung des islamischen Rechts, Kopftuchverbot, Einführung westlicher Kleidung, des lateinischen Alphabets und des gregorianischen Kalenders und das Verbot religiöser Parteien. Für religiöse Fragen wurde eine staatliche Religionsbehörde geschaffen: das Präsidium für religiöse Angelegenheiten.

siehe auch: Religion in der Türkei

Etatismus

Der Etatismus (devletçilik) meint das Eingreifen des türkischen Staates in die Wirtschaft. Grund waren die fehlende Infrastruktur und mangelnde Industrialisierung. Zwischen 1933 und 1938 wurde der Fünfjahres-Industrieplan realisiert. Der Staat wurde überall dort unternehmerisch tätig, wo privatwirtschaftliches Engagement fehlte.

Revolutionismus

Revolutionismus (ursprünglich inkilâpçılık, heute devrimcilik) bezeichnet den Grundsatz, die Umgestaltung der türkischen Gesellschaft auch nach den großen Reformen der 1920er Jahren voranzutreiben. Ferner zielt der Terminus auf die umfassende Modernisierung des Staates. Die traditionellen osmanischen Institutionen wurden durch zeitgemäße Einrichtungen ersetzt.

Einfluss auf die türkische Gesellschaft

Eliten als Hüter des Kemalismus

Der Kemalismus bestimmt nach wie vor das politische, kulturelle und religiöse Leben in der Türkei. Die große Mehrheit der Bevölkerung führt einen westlichen Lebensstil und auch halten viele sich eher als religiös bezeichnende Menschen nach wie vor an den Grundsätzen des Kemalismus fest. Während die intellektuelle Elite sich stets mit Parteien identifiziert hat, welche das kemalistische Gedankengut als Maxime verstehen, finden islamische Parteien vor allem bei der ärmeren Bevölkerung Gehör und werden von ihnen als Wahlalternative gewählt.

Eine Kontrollfunktion der türkischen Streitkräfte mit dem Ziel, die Verfassung und ihre kemalistischen Prinzipien zu schützen, war lange Zeit gesetzlich verankert. Als Hüter der kemalistischen Ideen sah sich die türkische Armee zuletzt 1980 zu einem Putsch legitimiert, als kommunistische und rechtsextreme Terroristen die Sicherheit des Staates und der Bevölkerung bedrohten und das Militär, wie zuvor 1960 und 1971, in die Politik eingriff. Dem Putsch folgten Monate der Repression politischer Gegner, im Zuge dessen nicht nur mit rechtsstaatlichen Mitteln vorgegangen wurde, sondern willkürliche Inhaftierungen, Verschleppung und Folter als Maßnahmen systematisch eingesetzt wurden. Mit den Gesetzesänderungen im Zuge des EU-Prozesses hat das Militär als nicht demokratisch legitimierte Instanz Teile seiner Macht eingebüßt. In den Schulen steht der Kemalismus vom ersten Schuljahr an auf dem Lehrplan.

Parteien und der Kemalismus

Sowohl rechte als auch linke Parteien beanspruchen die kemalistischen Ideen für sich und instrumentalisieren diese für ihre Politik. Nur die islamisch orientierten Parteien stehen distanziert zum Kemalismus oder lehnen diesen ganz ab. Der Grund hierfür ist der propagierte Laizismus und damit die Trennung von Staat und Religion, aber auch die restriktive Behandlung des Islam durch die Kemalisten in den Anfangsjahren der türkischen Republik.

Kemalismus und die EU

In seinem Bericht vom 25. März 2003 erwähnte der niederländische Europaparlament-Abgeordnete Arie Oostlander: „Der Kemalismus ist ein Hinderungsgrund für einen EU-Beitritt der Türkei.“

Die Mehrheit der Kemalisten wendet sich, trotz anfänglicher Unterstützung, ebenfalls gegen einen EU-Beitritt der Türkei. Sie befürchten Einschränkungen der nationalen Souveränität, die mit einem Beitritt verbunden wären.

In einer Pressemitteilung des Europaparlaments vom Jahr 2006 stellte der Abgeordnete Bernd Posselt (CSU) folgende Fragen: "Ist Laizismus wirklich vereinbar mit Demokratie, wenn er nur ein Minderheiten- und Elitenprojekt ist? Ist Religionsfreiheit wirklich vereinbar mit einem als Laizismus getarnten Staatsislam? Sind Minderheitenrechte wirklich vereinbar mit Kemalismus?" [4]

Siehe auch

Literatur

  • Islam und Kemalismus in der Türkei, Bundeszentrale für politische Bildung, 2004
  • Şahinler Menter: Kemalismus. Ursprung, Wirkung und Aktualität. Anadolu, Hückelhoven 1997, ISBN 3-86121-072-X
  • Bassam Tibi: Aufbruch am Bosporus. Die Türkei zwischen Europa und dem Islamismus. Diana, München und Zürich 1998, ISBN 3-8284-5012-1
  • Leng Wang: Kemalism. A General Political Survey of the Rise of the Turkish Nationalism between 1918 and 1928. Dissertation, Stanford University 1929 (Digitalisat, PDF)
  • Atatürk Araştırma Merkezi: Atatürk'ün Söylev ve Demeçleri I-III. Ankara 2006 (Sammlung von Atatürks Reden und Ansprachen vom Atatürk-Forschungszentrum)
  • Gazi Caglar: Die Türkei zwischen Orient und Okzident. Eine politische Analyse ihrer Geschichte und Gegenwart. ISBN 3-89771-016-1

Einzelnachweise

  1. Bis 1961 lautete Artikel 2, Satz 1 des Verfassungsgesetzes der Republik Türkei von 1924: Das Türkische Reich ist republikanisch, nationalistisch, volksverbunden, interventionistisch, laizistisch und revolutionär.
  2. Der Artikel 2, Satz 1 des Verfassungsgesetzes der Republik Türkei von 1961 lautet nun: Die türkische Republik ist eine auf den Menschenrechten und den in der Präambel festgesetzten Grundprinzipien begründeter nationaler, demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat.
  3. Schließlich lautet der Artikel 2, Satz 1 des Verfassungsgesetzes der Republik Türkei von 1982: Die Republik Türkei ist ein im Geiste des Friedens der Gemeinschaft, der nationalen Solidarität und der Gerechtigkeit die Menschenrechte achtender, dem Nationalismus Atatürks verbundener und auf den in der Präambel verkündeten Grundprinzipien beruhender demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat.
  4. Presseaussendung vom 27.09.2006 des Europaparlaments

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