Kongogräuel

Kongogräuel
Kongolesisches Dorf, das dem Anbau von Kautschukpflanzen weichen musste

Unter der Bezeichnung Kongogräuel wurde die systematische Ausplünderung des Kongo-Freistaats durch belgische Exportfirmen, vor allem die Société générale de Belgique, etwa zwischen 1888 und 1908 mittels Sklaverei und Zwangsarbeit zur Kautschukgewinnung bekannt. Es wird geschätzt, dass zehn Millionen Kongolesen dabei den Tod fanden, etwa die Hälfte der damaligen Bevölkerung.[1]

Inhaltsverzeichnis

Ursache

Auspeitschung eines Kongolesen

Auf der Kongo-Konferenz von 1884/85 in Berlin wurde das Kongobecken mitsamt seinem Hinterland dem König von Belgien, Leopold II., zugesprochen. Somit nahm die Kolonie eine Sonderrolle ein: Während die anderen Kolonien auf der Welt von einem Staat verwaltet und regiert wurden, war der so genannte Kongo-Freistaat seit 1885 persönlicher Privatbesitz des Königs.

Es herrschte der „Kautschukboom“. Der von Henry Wickham ausgehenden Methode des Kautschukanbaus zur Gummireifenproduktion begegneten im Kongo-Freistaat beste Voraussetzungen mit der größten natürlichen Fläche an Bäumen mit Kautschuk-Ranken. Die gleichzeitig in Asien und in der Karibik angelegten Kautschuk-Plantagen würden erst in 20 Jahren rentabel werden, so dass eine zeitlich begrenzte gewinnträchtige Monopolstellung gegeben war. Von nun an überzog ein staatlich eingerichtetes und organisiertes Zwangsarbeitssystem das Land. Bei dem Versuch, maximale Gewinne zu erzielen, machten sich die belgischen Firmen schwerer Übergriffe auf die kongolesische Bevölkerung schuldig.

Es entstanden riesige Kautschukplantagen, die die traditionelle Wirtschaftsform zerstörten und die Bevölkerung abhängig von Nahrungsmittellieferungen durch die belgischen Unternehmen machten.

Um die Zwangsarbeiter zu zwingen, soviel Kautschuk wie möglich zu sammeln, was mit dem Erklettern der Bäume verbunden war, erwies sich ein einfaches Aneinanderketten der Menschen als unpraktikabel. Statt dessen wählten die belgischen Kolonialherren die Geiselhaft und das Abtrennen einzelner Hände als Zwangsinstrument.

Geiselhaft

Jedem Dorf wurden Lieferquoten- und -fristen auferlegt (entweder in zwei oder in vier Wochen - je nach Entfernung des Dorfes von der nächsten Sammelstelle). Als Gewähr wurden die Frauen als Geiseln genommen. Kamen die Männer zu spät oder lieferten nicht genügend Kautschuk ab, wurden die Frauen umgebracht. Oft starben die Frauen durch die Entbehrungen in der Geiselhaft. Auch Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung.

Oft hackten die Männer die gesamte Kautschuk-Ranke ab, was mehr einbrachte. Die Ranke jedoch starb ab, so dass die Männer mit der Zeit immer weiter in den Dschungel mussten, um genügend Material zu finden. In Reaktion darauf wurde das Abhacken der Ranke verboten und mit dem Tode bestraft.

Weigerte sich ein Dorf oder gab es einen Aufstand, wurde es zerstört und alle Bewohner, Frauen, Männer und Kinder, wurden erschossen.

Die geforderte Kautschukmenge war so hoch, dass sie eigentlich nur durch unablässige Arbeit bei Tag und Nacht gewonnen werden konnte. Wer die geforderte Menge nicht erreichte, galt als faul und wurde hart bestraft.

Wiederholt kam es zu Aufständen und Rebellionen, sie wurden jedoch durch die Kolonialarmee, die Force Publique, brutal niedergeschlagen.

Die durch die brutale Ausbeutung erzielten Gewinne waren enorm, so stiegen die Aktien einer der beteiligten Firmen, der Anglo-Belgian India Rubber Company (Abir), von 4 ½ Pfund binnen 2 Jahren auf 700, schließlich auf 1000 Pfund.[2]

Hände-Abhacken

Verstümmelte Kongolesen

Die andere ausgeübte Methode war das Hände-Abhacken. Die Force Publique bestand aus Schwarzen – nur die Offiziere waren Weiße. Damit die Soldaten mit ihrer Munition nicht auf die Jagd gingen oder sie etwa für einen Aufstand zurückbehielten, musste genau Rechenschaft für jede abgeschossene Patrone gegeben werden. Dies wurde durch die Formel „für jede Kugel eine rechte Hand“ gelöst: Für jede Kugel, die abgeschossen wurde, mussten sie den von ihnen Getöteten die rechte Hand abhacken und sie als Beweis vorlegen. Oftmals wurden Lebenden die Hände abgehackt, um verschossene Munition zu erklären.

Es kam auch vor, dass „motivierte“ Soldaten (die sehr viele Hände zurückbrachten) frühzeitig aus dem harten Dienst in der Armee entlassen wurden. Auch diese Vorgehensweise begünstigte das Hände-Abhacken. Die Hände wurden geräuchert, um sie länger haltbar zu machen, da es lange dauern konnte, bis ein weißer Vorgesetzter die Anzahl der Hände kontrollieren konnte.

Widerstand

Durch einzelne engagierte Missionare, die sich zur Wehr setzten, gelangte das Geschehen an die Öffentlichkeit.[3] Das ganze Ausmaß der Gräuel wurde jedoch in Europa aufgedeckt, als Edmund Dene Morel, ein Angestellter der Reederei, die das Monopol auf den Handel mit dem Kongo-Freistaat hatte, aufdeckte, dass mit der Kolonie gar kein Handel betrieben wurde, sondern die Schiffe, die in die Kolonie fuhren, praktisch nur mit Waffen und Munition beladen waren.

Morel startete in der Folge die erste internationale Menschenrechtsbewegung und erreichte besonders in Großbritannien und den USA ein großes Echo der Empörung. Die soeben erfundene Photographie führte das Ausmaß der Unterdrückung eindrücklich vor Augen. Fotos von Schwarzen mit abgehackten Händen oder Füßen machten daraufhin in Europa und den USA die Runde. 1903 entsandte Großbritannien den Diplomaten Roger Casement an den Kongo, um die Anschuldigungen gegen Leopold II. und sein Regime zu untersuchen. Sein Bericht bestätigte sämtliche Vorwürfe Morels. Unter internationalem und nationalem Druck (in Belgien war Leopold II. unbeliebt), gab der König schließlich nach: 1908 trat er den Kongo an den belgischen Staat ab. Die Kolonie erhielt nun den Namen „Belgisch-Kongo“. Die brutalen Zwangsmaßnahmen wurden sofort unterbunden, die Zwangsarbeit an sich wurde 1910 offiziell abgeschafft.

Ausblick

Durch die staatliche Verwaltung verbesserte sich allmählich die Situation der einheimischen Bevölkerung. Jedoch wurde trotz des juristischen Verbots die Zwangsarbeit zunächst weiter geduldet. Äußere Umstände bildeten den Hauptgrund für die Veränderungen: Der Großteil der Kautschukbäume war abgeholzt, und die in der Karibik und in Asien angelegten Kautschukplantagen konnten mittlerweile genutzt werden.

Schon Zeitgenossen schätzten, dass im Kongo-Freistaat die Hälfte der Einwohner durch Zwangsarbeit, Hunger, die Grausamkeit der Verwaltung sowie durch Krankheiten ums Leben kam. In den 20 Jahren zwischen der Kongokonferenz und Mark Twains Pamphlet König Leopolds Selbstgespräch (1905) war die Bevölkerung des Kongo von ursprünglich etwa 25 Millionen Einwohnern bereits auf 15 Millionen zusammengeschmolzen. Twain und andere wiesen zudem darauf hin, daß ohne die 10 Millionen Toten die Bevölkerung in jenen 20 Jahren durch natürlichen Zuwachs 30 Millionen zählen würde, Leopolds Todesbilanz also sogar mit 15 Millionen anzusetzen sei. 1924 ermittelte Belgien dann, dass in Belgisch-Kongo nur noch etwa zehn Millionen Einwohner lebten. Zum Zeitpunkt des Endes der belgischen Herrschaft (Unabhängigkeit 1960) waren es erst wieder 18 Millionen.

Literatur

Film

  • Peter Bate: Weißer König, Roter Kautschuk, Schwarzer Tod. Belgien 2004 (Informationen bei ARTE)

Weblinks

Fußnoten

  1. Dieter H. Kollmer: Die belgische Kolonialherrschaft 1908 bis 1960, in: Bernhard Chiari, Dieter H. Kollmer (Hgg.): Wegweiser zur Geschichte Demokratische Republik Kongo, 2. Aufl., Paderborn u. a. 2006, S. 45 und Death Tolls for the Major Wars and Atrocities of the Twentieth Century von Matthew White, letzte Fassung November 2005; und Weißer König, roter Kautschuk, schwarzer Tod - ARTE
  2. Anton Zischka: Wissenschaft bricht Monopole. Leipzig 1936, S. 151.
  3. Luigi Tucciarone: Die „Kongo-Greuel“ im Spiegel zweier offizieller Berichte. „Casement Report“ (1903) und „Bulltin officiel de l’Etat Independant du Congo“ (1905), 2009, S. 7ff.

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