Anglo-amerikanisches Recht

Anglo-amerikanisches Recht

Das Common Law ist das in vielen englischsprachigen Ländern geltende Recht, das sich nicht auf Gesetze, sondern auf maßgebliche richterliche Urteile der Vergangenheit (Präzedenzfälle) stützt und auch entsprechend weitergebildet wird. Das Common Law hat also Züge des Gewohnheitsrechts. Nur ein geringer, im 20. und 21. Jahrhundert jedoch stark zunehmender Anteil ist kodifiziert (Statutory Law). Das Common Law umfasst alle Rechtsgebiete, d. h. sowohl Zivilrecht (Civil Law) als auch Öffentliches Recht (inklusive Strafrecht).

Inhaltsverzeichnis

Abgrenzung

Die Bezeichnung Common Law hat ihren Ursprung in dem französisch geprägten Begriff 'comune ley' (lateinisch communis lex). Damit war, in Abgrenzung zu den bis ins hohe Mittelalter existierenden unterschiedlichen Rechten der einzelnen germanischen Stämme (Angeln, Sachsen, Jüten usw.), das englische, auf ungeschriebenen Gewohnheiten beruhende, durch richterliche Entscheidungen fortgebildete gemeine Recht gemeint. Der Begriff des Common Law wird dabei in der Literatur heute in zweierlei Weise definiert: Unter dem heute vorherrschenden, weiten Begriff des Common Law wird das gesamte englische Recht einschließlich der Equity und auch des Statute Law verstanden und zwar in Abgrenzung zum Begriff des Civil Law, der das kontinentaleuropäische Recht kennzeichnet. Der andere, enger verstandene Begriff des Common Law kennzeichnet als Gegenbegriff zur Equity das gemeine Recht, welches von reisenden Richtern („itinerant justices“ oder „justices in eyre“) des königlichen Gerichts zu Westminster gebildet wurde.

Die Entwicklung des Englischen Rechts bis zu den Judicature-Acts

Die Periode bis 1485

Allgemeine Entwicklung

Das Common Law als Grundlage des englischen Case Law hat seinen Ursprung in der Zeit nach der Eroberung Englands durch Wilhelm den Eroberer im Jahre 1066, als im Auftrage des Königs reitende Richter (itinerant justices) durch das Land zogen und Recht sprachen. Zu jener Zeit galten in England zunächst die angelsächsischen, d. h. germanischen Stammesrechte, die sich entwickelt hatten, nachdem im 6. Jahrhundert die Landnahme in England durch germanische Stämme (Sachsen, Angeln, Jüten, Dänen) stattfand. Dieses Recht hatte jedoch, entsprechend den einzelnen Herrschaftsbereichen, jeweils nur lokale Geltung. Auch nachdem England im 10. Jahrhundert politisch geeint wurde, gab es noch kein einheitlich für ganz England geltendes Recht. Vielmehr wurde das örtliche Gewohnheitsrecht von den so genannten county courts und hundred courts angewandt, deren Zuständigkeitsbereich der damaligen Unterteilung Englands in Grafschaften und Hundertschaften entsprach. Die Rechtsanwendung durch diese Gerichte geschah in der Weise, dass entschieden wurde, welche der jeweils streitenden Parteien sich einem für heutige Verhältnisse alles andere als rationalen Beweisverfahren zu unterziehen hatte, um die Richtigkeit ihrer Behauptungen zu erhärten. Nach der normannischen Eroberung im Jahre 1066 änderte sich an dieser Rechtspraxis zunächst wenig, außer dass der König einen eigenen königlichen Gerichtshof, die Curia Regis für die hohe Gerichtsbarkeit einrichtete. Von der Curia Regis spalteten sich im 13. Jahrhundert nacheinander drei Common Law Courts ab:

  1. Der Court of Exchequer (Gericht des Schatzamtes), zuständig vor allem für königliche Finanzsachen und Abgabenangelegenheiten. Hieraus bildete sich später ein Finanzgericht und eine Finanzverwaltung.
  2. Der Court of Common Pleas (Gericht für allgemeine Angelegenheiten), auch the common bench genannt, zuständig vor allem für Klagen aus Grundeigentum und Grundbesitz sowie wegen Zahlung bestimmter Schulden.
  3. Der Court of King’s Bench (Gericht der Bank des Königs), zuständig vor allem für schwere Straftaten, unerlaubte Handlungen sowie für Appellationen. Dieser Gerichtshof erfüllte außerdem die Rolle eines Berufungsgerichtes, indem die Möglichkeit bestand, hier mangelhafte Verfahren unterer Gerichte zu überprüfen und zu korrigieren.

Schon bald aber wurde die Zuständigkeitsteilung zwischen den drei Gerichten aufgegeben und jedes der drei Gerichte konnte in allen der königlichen Gerichtsbarkeit unterworfenen Angelegenheiten Recht sprechen. Neben den drei königlichen Gerichten blieben für alle anderen Angelegenheiten die nichtköniglichen Gerichte zuständig, also vor allem die county courts oder hundred courts, daneben außerdem Patrimonial- und Kirchengerichte.

Dies sollte sich jedoch allmählich ändern: Allein die königlichen Gerichte verfügten nämlich über wirksame Mittel, um das Erscheinen von Zeugen vor Gericht zu gewährleisten und die ergehenden Urteile auch vollstrecken zu lassen; nur der König vermochte mit Hilfe der Kirche seine Untertanen zur Eidesleistung zu verpflichten. Dazu erschien den Rechtssuchenden die Gerichtsbarkeit des Königs sämtlichen anderen Gerichten weit überlegen. Aus diesem Grund und wegen der vereinheitlichenden Wirkung der Reisetätigkeit der Itinerant justices konnten die königlichen Gerichte ihre Zuständigkeit zu Lasten der county courts und hundred courts allmählich ausweiten und gegen Ende des Mittelalters die Gerichtsbarkeit alleine ausüben; dies entsprach außerdem dem Interesse des Königs, seine Machtstellung als oberster Gerichtsherr auszuweiten. Lediglich die Kirchengerichte blieben noch für Eheprozesse und Fragen der Kirchenzucht übrig. Diese Zuständigkeitserweiterung der königlichen Gerichte führte so zur Herausbildung des Common Law, welches sich allmählich gegen die bis dahin bestehenden unterschiedlichen Regeln des Gewohnheitsrechtes durchsetzte.

Das System der Writs

Im deutlichen Unterschied zu den kontinentaleuropäischen Rechtssystemen ist im englischen Recht nicht die Klage das klassische Mittel zur Durchsetzung eines bestimmten Anspruchs. Dies geschieht vielmehr mit Hilfe eines sogenannten writ (von ”to write” = schreiben, d.h. das Geschriebene), ein Mittel, das dem römischen Aktionenrecht sehr ähnlich ist. Unter einem Writ verstand man ursprünglich den den Prozess einleitenden Befehl des Königs an den Sheriff der Grafschaft des Beklagten, mit dem Inhalt, bestimmte prozesseröffnende Maßnahmen einzuleiten. Als solche Maßnahmen kamen z.B. die Vorladung des Beklagten oder die Einberufung einer Jury in Betracht.

Der rechtstechnische Unterschied zur Klage ist dabei der, dass ein Writ nicht ein prozessuales Mittel zur Durchsetzung eines beliebigen materiellen Anspruchs ist, sondern es gilt der Satz „ubi remedium ibi ius“ (wörtlich: „wo ein Mittel ist, ist ein Recht“, Remedies precede Rights, d.h. „Rechtsmittel sind wichtiger als Rechte“). Mit der Zeit bildete sich eine Anzahl von unterschiedlichen, in ihren jeweiligen Voraussetzungen streng formalisierte Writs heraus, welche aber materiell nur auf eine ganz bestimmte Art von Geschehen gerichtet war.

Die Verfahrensweise beim Erlass eines Writs war folgende: Der Writ musste vom Kläger gegen eine Gebühr in der königlichen Kanzlei (Chancery) beantragt werden und wurde vom Kanzler (Chancellor) gesiegelt. Damit wurde das zuständige Gericht des Beklagten unter Bezeichnung des Streitgegenstandes angewiesen, den Beklagten zu laden oder eine Jury einzuberufen und in der Sache zu verhandeln.

An dem Verfahren des Writ wird der Unterschied zur Klage noch deutlicher: Während die (dem kontinentaleuropäischen Recht eher bekannte) Klage sich schwerpunktmäßig auf materielles Recht stützt, ist ein Writ ein rein prozessrechtliches Instrument, das zur Begründetheit eines Anspruchs noch keine Aussage zulässt. Da jeder einzelne Writ das Vorliegen von jeweils unterschiedlichen Voraussetzungen erforderlich machte, war durch die Auswahl des richtigen Writ der Prozessverlauf bereits bis ins Detail festgelegt; denn jeder Writ bedingte die Abfolge der Prozesshandlungen, die Vertretung der Prozessparteien, die Zulassung und Bewertung von Beweisen etc. Bereits im 12. Jahrhundert bilden sich aus der Vielzahl der im Einzelfall gewährten Writs bestimmte typische Formulare für bestimmte typische Tatbestände heraus. Zu den wichtigsten dieser typischen Writs entwickelten sich schon früh die writs of covenant, writs of right, writs of debt und die writs of trespass. Soweit kein Writ zur Verfügung stand, ein Recht durchzusetzen, konnte das Begehren nicht vor den königlichen Gerichten vorgebracht werden. Aber auch derjenige, der für sein Begehren nicht den richtigen Writ wählte, verlor das Verfahren ohne Rücksicht auf die inhaltliche Berechtigung seines Anliegens.

Die Entstehung neuer Writ-Tatbestände durch extensive Auslegung von bereits bestehenden Writs gelangte im Jahr 1258 zu einem vorläufigen Schlusspunkt: Die wachsende Zahl von Writ-Tatbeständen hatte zu einem Zuständigkeitsverlust der lokalen Gerichte und damit zu einem Machtverlust des lokalen Adels geführt. Den daraus resultierenden Machtkampf mit dem König entschieden die Barone in den Provisions of Oxford (1258) für sich, mit der Folge, dass der Kanzler neue Writs nur noch mit Zustimmung des gesamten königlichen Rates, d.h. der curia regis ausstellen durfte. Bis dahin konnte Henricus de Bracton in seinem Tractatus de legibus et consuetudinibus Angliae (1240-1258) bereits 56 verschiedene Writs darstellen.

Aus sachlichen Notwendigkeiten wurden jedoch bereits 1285 wieder neue Writs zugelassen, wodurch die mit den Provisions of Oxford eingetretene Beschränkung der königlichen Gerichtsbarkeit wieder aufgehoben wurde. Bei den neuen Writs handelte es sich um die den „actiones utiles“ des römischen Rechts vergleichbaren "writs upon the case" und die "writs in consimili casu". Die beiden letztgenannten Writs sind außerdem gute Beispiele für die Entwicklung, wie durch extensive Auslegung der Tatbestände bestehender Writs und deren Anwendung auf ähnliche Tatbestände allmählich neue Writs geschaffen wurden (in consimili casu).

Das System der Writs litt jedoch unter einem augenscheinlich mangelhaften Schutz vertraglicher Rechte. Glanvill, von dem eine umfassende Sammlung von Writs überliefert ist (um 1185-1189) bemerkt hierzu: „Private Vereinbarungen werden im allgemeinen nicht von den Gerichten unseres Herrn, des Königs, geschützt“. Zur Lösung dieses Problems boten sich verschiedene Wege an: Zum einen ging man, mit Hilfe des "writ of detinue", vom Eigentumsgedanken aus. Danach wurden Mieter, Entleiher, Verwahrer und Spediteure nicht durch ihre Abmachungen, sondern aufgrund der Tatsache verpflichtet, dass sie eine fremde Sache innehatten. Zum anderen konnte man, mit Hilfe des "writ of debt", auf die Form abstellen. Der Beklagte konnte danach deswegen belangt werden, weil er seine Schuld in einer förmlichen Urkunde anerkannt hatte. Eventuelle Willensmängel spielten hierbei keine Rolle. Beide Writs waren zur Lösung des Problems jedoch nicht zufriedenstellend, vor allem, weil sie nur unter besonderen Voraussetzungen greifen konnten. Daher griff man auf den "writ of trespass" zurück, welchem dabei unter den anderen Writs bald besondere Bedeutung zukam: Ursprünglich wurde dieser Writ nur dort gewährt, wo jemand mit Gewalt oder unter Bruch des Landfriedens einen anderen in seinem Besitz an Sachen oder in seiner körperlichen Unversehrtheit verletzt hatte. Mit anderen Worten handelt es sich also um einen Writ, der eigentlich ein deliktisches Verhalten sanktionieren soll. In der gerichtlichen Praxis wurden jedoch auf der Basis des „in-consimili-casu-Denkens“ die unter den writ of trespass fallenden Tatbestände nach und nach ausgedehnt: Zunächst wurde auch bei Schaden infolge Schlechterfüllung (misfeasance) verurteilt, immerhin ein Jahrhundert später auch bei Nichterfüllung (non-feasance). Noch etwas später entsteht in Verbindung mit der action of debt eine Klagemöglichkeit, falls der Beklagte sich ausdrücklich zu der eingeklagten Leistung verpflichtet hat (special assumpsit). Aber erst im Jahre 1602 kommt im Slade's Case der Durchbruch: Jedes Versprechen beinhaltet zugleich die Verpflichtung zu seiner Erfüllung (indebitatus assumpsit). Über einen langen Zeitraum hinweg entwickelte sich die action of trespass on the case so zu den heute noch bekannten Tatbeständen des Delikts- und Vertragsrechts.

An der Entwicklung der Writs wird daher deutlich, welche dominante Bedeutung dem Verfahrensrecht im englischen Recht zukommt. Das Common Law bestand zu Anfang aus einer Reihe von verschiedenen Verfahrensarten, die in streng formalisierter Weise abzulaufen hatten. Hauptsorge des Klägers musste daher sein, die richtige Klageart zu wählen, damit sich die königlichen Gerichte für zuständig erklärten. Der Ausgang des Verfahrens war dagegen unbestimmt, da sich im Common Law erst sehr allmählich materiellrechtliche Normen entwickelten.

Die dem römischen Recht sehr ähnliche Art der Prozesseinleitung hatte dazu geführt, dass englische Prozesspraktiker nicht in Ansprüchen, sondern in Klagetypen dachten. Für das mittelalterliche common law trifft darum wie für das römische Recht zu, dass Sätze des materiellen Rechts erst in einem späteren Stadium - und zwar gleichsam als Abscheidungen des Prozessrechts in dessen Höhlungen und Fugen - erkennbar wurden .

Die Equity

Trotz der fortlaufenden Ausweitung des Anwendungsbereichs einiger Writs wurde das Common Law bereits seit dem 14. Jahrhundert von den Rechtssuchenden als starr, unbeweglich und damit als ungenügend empfunden. Der Grund dafür lag vor allem im streng formalisierten Prozessverlauf, welcher durch das System der Writs vorgegeben war. Dieser nahm den Common Law Courts die Möglichkeit, ihre Entscheidungen nach den Grundsätzen von fairness and reasonableness (Treu und Glauben) auszurichten. Infolgedessen konnte zum Beispiel auch der arglistig Handelnde Rechte bekommen, wenn nur die Klageformel (Writ) stimmte. Ein weiterer Mangel lag darin, dass die Gerichte aufgrund des Aktionensystems der Writs an bestimmte, wenige Rechtsfolgen gebunden waren, z.B. Verurteilung auf Schadensersatz, nicht aber Vertragserfüllung oder auf Unterlassung von Handlungen.

In solchen und ähnlichen Fällen wandten sich die Enttäuschten an den König, mit der Bitte um Gerechtigkeit und Gnade. Die auf diesem Wege in ihren Urteilen übergangenen Gerichte nahmen daran zunächst keinen Anstoß, zum einen, weil es sich bei den Bittgesuchen anfangs um Ausnahmen handelte, zum anderen, weil die Common-Law-Gerichte selbst ihre Entstehung und Entwicklung dem Grundsatz verdankten, dass man notfalls vom König selbst Gerechtigkeit erbitten kann .

Mit der Zeit, als die Bittgesuche an den König zahlreicher wurden, delegierte der König seine Befugnis auf den Kanzler, welcher zunächst im Namen des Königs, später, seit dem Ende des 15. Jahrhundert als selbständiger Richter entschied. So entstand ein neues Gericht, der Court of Chancery. In diesem urteilte der Kanzler ohne Writs, nur kraft königlicher Vollmacht und nach seinem Gefühl für Billigkeit. Im weiteren Verlauf der Zeit hielt sich der court of chancery mehr und mehr an seine in früheren Entscheidungen aufgestellten Grundsätze gebunden. So verfestigten sich die Maximen, welche diesen Entscheidungen zugrunde lagen, immer mehr zu einem eigenen, neben dem Common Law stehenden Normengefüge, dem Recht der Equity.

Anzumerken bleibt, dass über die Rechtsprechung des Kanzlers, welcher bis 1529 grundsätzlich Geistlicher und in dieser Funktion außerdem Beichtvater des Königs war, viele Grundsätze des kanonischen Rechts in das Recht der Equity einflossen.

Die Zeit zwischen 1485 und 1832

Nach dem Ende der Rosenkriege, welche den Tudors die englische Krone verschafften (bis 1603), wurde der chancellor allmählich ein selbständiger Richter, der mit entsprechenden Vollmachten des Königs Recht sprach. Unter der Herrschaft der Tudors nahm die Equity-Rechtsprechung beträchtlichen Umfang an und verlor somit ihren bisherigen Ausnahmecharakter.

In dieser Situation geriet das common law in Gefahr, beiseite geschoben oder auf Nebengebiete abgedrängt zu werden, da beide Rechtsgebiete – common law und equity – ihre jeweiligen Befürworter in den gesellschaftlichen Machtkämpfen des 16. und 17. Jahrhunderts hatten: Die Rechtsprechung der equity öffnete sich weit mehr als das common law den am römisch-kanonischen Vorbild orientierten Verfahrensarten und überhaupt der Rezeption des römischen Rechts. Dieses aber genoss die Sympathie der nach absoluter Herrschaft strebenden englischen Könige, da sich nur aus ihm die politische Forderung nach absoluter Verbindlichkeit des königlichen Willens ableiten ließ. Hinzu kam der Gedanke, das vom chancellor bevorzugte römische Recht begünstige den Absolutismus, weil es sich auf Privatrecht beschränke und die Krone selbst nicht binde.

Das common law seinerseits wurde mit seiner umständlichen und formalistischen – aber gerade dadurch gegen direkten herrscherlichen Zugriff Schutz bietenden – Technik zu einer wichtigen Waffe des Londoner Parlaments im Kampf gegen die absolutistischen Tendenzen des Königs. Hinzu kam der Gegensatz zwischen dem schriftlichen, geheimen und inquisitorischen Verfahren des chancellors – stets ohne Jury – und dem mündlichen und öffentlichen Common-Law-Verfahren. Vor allem aber stellte sich der englische Juristenstand mit seinem hinhaltenden Widerstand gegen die Einflüsse des römischen Rechts auf die Seite des Parlaments.

Der Konflikt zwischen den beiden Gerichtszweigen trat 1615 im Earl of Oxford´s Case offen zutage. Der Earl of Oxford hatte mithilfe von Prozessmanipulation ein Urteil eines Common law-Gerichtes erstritten, dessen Vollstreckung vor dem Equity-Gericht nur durch die Drohung seiner eigenen Gefangennahme verhindert werden konnte. Durch die Parteinahme des Königs in dem Fall konnte der court of chancery seitdem somit die Vollstreckung eines Urteils der Common Law-Gerichte unter Androhung der Gefangennahme (subpoena) verhindern. Gleichzeitig stellte diese Entscheidung aber auch einen Kompromiss zwischen equity und common law dar: Denn einerseits gilt zwar seitdem der Grundsatz "Equity shall prevail", wonach der equity in Konfliktfällen der Vorrang vor dem common law zukommt. Auf der anderen Seite galt nun, dass die equity lediglich die vom common law gelassenen Lücken ausfüllen soll, um generellen Rechtsschutz bieten zu können, was sich in der Maxime "equity follows the law" ausdrückt. Infolgedessen war der Konflikt zwischen dem common law und der equity dahingehend abgeschlossen, dass die equity das common law zwar ergänzte, aber nicht mehr als Ganzes verdrängte. Bis heute gibt es im angloamerikanischen Rechtskreis auch eine Tendenz, im common law das Recht des einfachen Volkes zu sehen (daher "common"), welches sowohl der Equity als dem Recht der Chancery (bzw. des jeweiligen obersten Gerichts), als auch dem statute law (Gesetzesrecht) gegenübergestellt wird, welches von Parlamenten beschlossen wird.

Heutige Verbreitung des Common Law

Das 18. Jahrhundert stellte für England eine Epoche innenpolitischen Friedens dar, während common law und equity eine ruhige, kontinuierliche Entwicklung nahmen. Als herausragende Entwicklung während dieser Zeit ist jedoch die enorme geographische Expansion des englischen Rechts zu nennen. So wurde z. B. bereits 1608 im Fall Calvin v. Smith entschieden, dass in den englischen Kolonien in Nordamerika englisches Recht anzuwenden sei. Dieser Vorgang hatte seine Ursachen in der Gründung, Besiedelung und Eroberung britischer Kolonien in nahezu allen Erdteilen. Von dieser Entwicklung betroffen waren vor allem die späteren USA, der größte Teil Kanadas, Australien, Neuseeland, der indische Subkontinent sowie eine größere Zahl weiterer Länder in Afrika und Asien.

Trotz der späteren Unabhängigkeit dieser Gebiete ist das englische Recht dort bis heute (Ausnahmen: Québec in Kanada, Louisiana in den USA und teilweise Südafrika) als Grundlage von Gesetzgebung und Rechtsprechung beibehalten worden.

Die Zeit zwischen 1832 und 1875

Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wurde in zunehmendem Maße eine radikale Reform des überlieferten Rechts und die Verkündung einer allgemeinen Kodifikation gefordert. Der wichtigste Exponent dieses Zeitalters, welches in England auch the age of reform genannt wird, war der Sozialreformer und Jurist Jeremy Bentham (1748 - 1832). Dieser und andere Vertreter des Utilitarismus sahen in den geschichtlich gewachsenen, oft mehr auf historischem Zufall als auf rationaler Planung beruhenden Regeln des common law nichts anderes als Hemmnisse auf dem Wege zu einer großangelegten sozialen Reform.

Der Ruf nach totaler Kodifikation des common law fand indessen keinen ausreichenden Widerhall, da für die meisten englischen Juristen außer Frage stand, dass man das gewachsene englische Recht nicht durch ein Gesetzbuch ablösen kann, das am grünen Tisch ausgearbeitet und an sozialphilosophischen Leitvorstellungen orientiert ist.

Gleichwohl waren die Forderungen Benthams von großem Einfluss auf die englische Rechtsentwicklung im 19. Jahrhundert. Im Vordergrund stand dabei jedoch (wie schon in der Vergangenheit) weniger das materielle Recht, als vielmehr die Reform der Gerichtsverfassung und des Prozessrechts.

Dabei wurde in mehreren Schritten 1832, 1852 (Common Law Procedure Acts) und 1873 (Judicature Acts) die Prozesseinleitung durch Writs abgeschafft. 1857 wurde auch die geistliche Gerichtsbarkeit abgeschafft und 1870 die Möglichkeit einer direkten Verurteilung durch das Parlament durch eine Bill of Attainder.

Die Judicature-Acts

Als Folge der Supreme Court of Judicature Acts (1873, in Kraft seit 1875) wurden die bis dahin voneinander isolierten Rechtswege zu einem geschlossenen, hierarchischen System umgeformt, mit dem neugeschaffenen High Court of Justice an der Spitze. In diesem wurden die drei Common-Law-Gerichte sowie der Court of Chancery miteinander verschmolzen, allerdings lebte die alte Aufteilung in einzelnen Abteilungen fort. Trotzdem werden seit den judicature acts sowohl das common law als auch die Regeln der equity von allen Abteilungen nebeneinander angewandt.

Die judicature acts hatten außerdem gravierende Auswirkungen auf das tradierte System der Writs. Bis dahin stand der Kläger noch vor dem Problem, sich vor Prozessbeginn verbindlich für einen von etwa 412 verschiedenen Writs zu entscheiden, wonach infolgedessen das ganze Verfahren festgelegt war. Von nun an wurde jeder Prozess vor dem High Court of Justice durch einen writ of summons eingeleitet. Dies machte die Festlegung auf einen bestimmten Klagetyp entbehrlich und reduzierte für den Kläger das Risiko, bereits durch rein formale Fehler den Prozess zu verlieren. Mit den judicature acts wurde die moderne Entwicklung des englischen common law eingeleitet, wobei der Schwerpunkt der Reform auch weiterhin auf der Modernisierung des Prozessrechts und des Gerichtsverfassungsrechts und weniger auf dem materiellen Recht liegt.

Gegenwart

Infolge der Angleichung des Rechts des Vereinigten Königreiches und Irlands an das EG-/EU-Recht besteht in diesen Ländern eine zunehmende Praxis der Kodifizierung bisheriger Rechtsgrundsätze (insbesondere im Strafrecht, um dem Bestimmtheitsgebot und dem Grundsatz des Gesetzesvorbehalts Rechnung zu tragen).

Teile des Common Law gelten in ihrer ursprünglichen Fassung noch in zahlreichen Ländern, die früher Kolonien der englischen Krone waren, so z.B. in den USA, Kanada, Australien, Neuseeland u.a. Auch in Südafrika gilt, zumindest teilweise, das Common Law, allerdings besteht hier eher ein Mischrechtssystem. Das hat historische Gründe: Im Westen Südafrikas hatten sich hauptsächlich Engländer angesiedelt, während in den östlichen Landesteilen (die vormaligen Burenrepubliken Oranjefreistaat und Transvaal) Niederländer siedelten. Die Niederländer hatten ein anderes Recht: das Roman Dutch Law, also ein Gemeines Recht holländischer Prägung. Nach der Vereinigung der englischen und holländischen Provinzen entstand ein Mischrechtssystem, das seine Wurzeln im Gemeinen Recht hat, heute jedoch zunehmend stärkere Züge des Common Law zeigt.

Literatur

  • Marc Gerding: Trial by Jury. Die Bewährung des englischen und des US-amerikanischen Jury-Systems. Eine Idee im verfassungsrechtlichen und gesellschaftlichen Wandel. Julius Jonscher Verlag Osnabrück 2007, ISBN 3-9811399-0-9

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