Kultur

Kultur

Kultur (zu lateinisch cultura „Bearbeitung, Pflege, Ackerbau“, von colere „wohnen, pflegen, verehren, den Acker bestellen“) ist im weitesten Sinne alles, was der Mensch selbst gestaltend hervorbringt, im Unterschied zu der von ihm nicht geschaffenen und nicht veränderten Natur. Kulturleistungen sind alle formenden Umgestaltungen eines gegebenen Materials, wie in der Technik, der Bildenden Kunst, aber auch geistiger Gebilde wie etwa im Recht, in der Moral, der Religion, der Wirtschaft und der Wissenschaft.

Der Kulturbegriff ist im Laufe der Geschichte immer wieder von unterschiedlichsten Seiten einer Bestimmung unterzogen worden.[1] Je nachdem drücken sich in ihm das jeweils lebendige Selbstverständnis und der Zeitgeist einer Epoche aus, der Herrschaftsstatus oder -anspruch bestimmter Klassen oder auch wissenschaftliche und philosophisch-anthropologische Anschauungen. Die Bandbreite seiner Bedeutung ist dementsprechend groß: Sie reicht von einer rein beschreibenden (deskriptiven) Verwendung („Die Kultur jener Zeit.“) hin zu vorschreibenden (normativen), wenn bei letzterem mit dem Begriff der Kultur zu erfüllende Ansprüche verbunden werden.

Der Begriff kann sich auf eine enge Gruppe von Menschen beziehen, denen allein Kultur zugesprochen wird, oder er bezeichnet das, was allen Menschen als Menschen zukommt, insofern es sie beispielsweise vom Tier unterscheidet. Während die engere Bestimmung des Begriffs meist mit einem Gebrauch im Singular („die Kultur“) verbunden ist, kann ein weiter gefasster Begriff auch von „den Kulturen“ im Plural sprechen.

Antiker Tempel, der Parthenon in Athen, ein klassisches europäisches Symbol für „Kultur“

Inhaltsverzeichnis

Begriffsgeschichte

Etymologie

Das Wort Kultur ist eine Eindeutschung des lateinischen Begriffs cultura, der eine Ableitung von lateinisch colere „pflegen, urbar machen, ausbilden“ darstellt (s.o.). Auch die Begriffe Kolonie und Kult haben denselben Ursprung. Kultur ist in der deutschen Sprache seit Ende des 17. Jahrhunderts belegt und bezeichnet hier von Anfang an sowohl die Bodenbewirtschaftung als auch die „Pflege der geistigen Güter“. Heute ist der landwirtschaftliche Bezug des Begriffs nur noch in Wendungen wie Kulturland für Ackerland oder Kultivierung für Urbarmachung verbreitet; in der Biologie werden auch verwandte Bedeutungen wie Zellkulturen und Bakterienkulturen benutzt (s. auch die Begriffsklärung Kultur). Im 20. Jahrhundert wird kulturell als Adjektiv gebräuchlich,[2] jedoch mit deutlich geistigem Schwerpunkt.

Etymologisch entstammt das lateinische Wort colere der indogermanischen Wurzel kuel- für „[sich] drehen/ wenden“, so dass die ursprüngliche Bedeutung wohl im Sinne von „emsig beschäftigt sein“ zu suchen ist.[3]

Antike

Plinius der Ältere prägte zwar noch nicht das Wort „Kultur“ als einen Begriff, unterschied allerdings schon zwischen terrenus (zum Erdreich gehörend) und facticius (künstlich Hergestelltes).[4] Im lateinischen Raum wird der Begriff cultura sowohl auf die persönliche Kultur von Individuen als auch auf die Kultur bestimmter historischer Perioden angewendet. So charakterisiert z. B. Cicero die Philosophie als cultura animi, das heißt als Pflege des Geistes.[5] Neben der Kultur als Sachkultur bei Plinius findet sich also auch Kultur als Bearbeitung der eigenen Persönlichkeit.

Neuzeit

Immanuel Kants Bestimmung des Menschen als kulturschaffendes Wesen vollzieht sich im Verhältnis zur Natur. Für Kant sind Mensch und Kultur ein Endzweck der Natur.[6] Dabei ist mit diesem Endzweck der Natur die moralische Fähigkeit des Menschen zum kategorischem Imperativ verbunden: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Ein solches allgemeines Gesetz anzuerkennen als „Idee der Moralität gehört noch zur Kultur.“[7] Es ist dieser Leitsatz des moralischen Handelns, der den Menschen einerseits von der Natur trennt, andererseits steht er als Endziel der Natur in ihrem Dienst dieses Ziel zu achten und zu verfolgen. Ohne diesen moralischen Leitsatz vermag der Mensch sich bloß technologisch fortzuentwickeln, was zur Zivilisation führt.

Der Anthropologe Edward Tylor bestimmt Kultur 1873 unter Aufnahme der darwinschen Evolutionstheorie und gibt so eine erste an den Erkenntnissen der Naturwissenschaft orientierte Definition: „Cultur oder Civilisation im weitesten ethnographischen Sinn ist jener Inbegriff von Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitte und alle übrigen Fähigkeiten und Gewohnheiten, welche der Mensch als Glied der Gesellschaft sich angeeignet hat.“[8]

Nach Albert Schweitzer erstrebt die Kultur letztlich „die geistige und sittliche Vollendung des Einzelnen“: „Der Kampf ums Dasein ist ein doppelter. Der Mensch hat sich in der Natur und gegen die Natur und ebenso unter den Menschen und gegen die Menschen zu behaupten. Eine Herabsetzung des Kampfes ums Dasein wird dadurch erreicht, dass die Herrschaft der Vernunft sich sowohl über die Natur als auch über die menschliche, stinkende Natur sich in größtmöglicher und zweckmäßigster Weise ausbreitet. Die Kultur ist ihrem Wesen nach also zweifach. Sie verwirklicht sich in der Herrschaft der Vernunft über die Naturkräfte und in der Herrschaft der Vernunft über die menschlichen Gesinnungen.[9]

Kultur und Zivilisation

Auf Kant geht die Entgegensetzung von „Kultur“ und „Zivilisation“ zurück.

Einzig im deutschsprachigen Raum hat sich der Gegensatz „Kultur“ und „Zivilisation“ entwickelt, während beispielsweise im englischen Sprachraum lange Zeit nur ein Wort für „Kultur“ (civilization) genutzt wurde. (Vgl. den Titel von Samuel P. Huntington Clash of civilisations, im Deutschen Kampf der Kulturen.) Erst seit einigen Jahrzehnten findet sich auch culture häufiger, ohne dass hiermit jedoch auf einen Gegensatz zu civilization Bezug genommen würde.

Die früheste Formulierung dieses Gegensatzes stammt von Immanuel Kant:

„Wir sind im hohen Grade durch Kunst und Wissenschaft cultivirt. Wir sind civilisirt bis zum Überlästigen, zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber uns für schon moralisirt zu halten, daran fehlt noch sehr viel. Denn die Idee der Moralität gehört noch zur Cultur; der Gebrauch dieser Idee aber, welcher nur auf das Sittenähnliche in der Ehrliebe und der äußeren Anständigkeit hinausläuft, macht blos die Civilisirung aus.“[10]

„Zivilisation“ bedeutet also für Kant, dass sich die Menschen zwar zu einem artigen Miteinander erziehen, Manieren zulegen und ihren Alltag bequem und praktisch einzurichten wissen und dass sie vielleicht durch Wissenschaft und Technik Fahrzeuge, Krankenhäuser und Kühlschränke hervorbringen. All dies reicht jedoch noch nicht dafür, dass sie „Kultur haben“, wenngleich es der Kultur dienen könnte. Denn als Bedingung für Kultur gilt Kant die „Idee der Moralität“ (der kategorische Imperativ), d. h. dass die Menschen ihre Handlungen bewusst auf an sich gute Zwecke einrichten.

Wilhelm von Humboldt schließt hieran an, indem er den Gegensatz auf Äußeres und Inneres des Menschen bezieht: Bildung und Entwicklung der Persönlichkeit sind Momente der Kultur, während rein praktische und technische Dinge dem Bereich der Zivilisation zugehören.[11]

Für Oswald Spengler ist Zivilisation ebenfalls negativ belegt, wenn sie nämlich das unausweichliche Auflösungsstadium von Kultur bezeichnet. Spengler sah Kulturen als lebendige Organismen an, die in Analogie zur Entwicklung des menschlichen Individuums eine Jugend, eine Manneszeit und ein Alter durchlaufen und alsdann verenden. Die Zivilisation entspricht dem letzten dieser Stadien, daher hat der zivilisierte Mensch keine künftige Kultur mehr. Zivilisationen „sind ein Abschluß; sie folgen dem Werden als das Gewordene, dem Leben als der Tod, der Entwicklung als die Starrheit […] Sie sind ein Ende [sc. der Kultur], unwiderruflich, aber sie sind mit innerster Notwendigkeit immer wieder erreicht worden.“[12]

Helmuth Plessner hält gar das deutsche Wort »Kultur« für fast nicht übersetzbar. In seiner empathischen Bedeutung sieht er eine religiöse Funktion:

„Kultur, der deutsche Inbegriff für geistige Tätigkeit und ihren Ertrag im weltlichen Felde, ist ein schwer zu übersetzendes Wort. Es deckt sich nicht mit Zivilisation, mit Kultiviertheit und Bildung oder gar Arbeit. Alle diese Begriffe sind zu nüchtern oder zu flach, zu formal, bzw. ›westlich‹ oder an eine andere Sphäre gebunden. Ihnen fehlt das Schwere, die trächtige Fülle, das seelenhafte Pathos, das sich im deutschen Bewußtsein des 19. und 20. Jahrhunderts mit diesem Wort verbindet und seine oft empathische Verwendung verständlich macht.“[13]

Kulturnation und Staatsnation

Der Begriff der Kulturnation entstand im 19. Jahrhundert als Ausdruck eines weniger durch Politik und militärische Macht als durch Kulturmerkmale repräsentierten Nationsverständnisses. Der Historiker Friedrich Meinecke sah in den kulturellen Gemeinsamkeiten, die eine Nation zusammenhalten, neben gemeinsamem „Kulturbesitz“ (z. B. die Weimarer Klassik) vor allem religiöse Gemeinsamkeiten. Von Volkstum ist in diesem Zusammenhang noch nicht die Rede.

Mit Aufkommen der völkischen Bewegung wurde dem Begriff der Nation allmählich eine ethnische Bedeutung verliehen. Während zuvor kaum völkische Aspekte im Staatsbürgerschaftsrecht der deutschen Gliedstaaten verankert gewesen waren, wurde 1913 das Abstammungsprinzip (ius sanguinis, „Recht des Blutes“) zur Bestimmung der deutschen Staatsangehörigkeit gesetzlich festgelegt. Die nationale Identität wurde damit staatlich beschränkt. Die aus dieser Entwicklung entstandene Vorstellung einer Kulturnation auf völkischer Grundlage wirkt sich seither weiter aus.

Während von einer Kulturnation anfangs in einem kritischen Sinne gegenüber der Staatsnation die Rede war, da das deutsche Nationalgefühl (aus Sprache, Traditionen, Kultur und Religion) nicht vom politischen Partikularismus widergespiegelt wurde, wandelte sich der Begriff unter dem Einfluss des völkischen Gedankengutes: Als Basis einer Kulturnation wurde nun ein „Volk“ im Sinne einer „Abstammungsgemeinschaft“ verstanden. Dieser Begriff eines Volkes wirkte wiederum gegenüber dem politisch-rechtlichen Begriff des Staatsvolkes, der die Gesamtheit aller Staatsangehörigen eines Staates darstellt, kritisch. Die Kulturnation umfasse ein Volk als Träger eines Volkstums, unabhängig davon, in welchem Staat, in welchen Grenzen und unter welcher Herrschaft es lebe.

Moderne Entwicklungen

Systemtheoretischer Ansatz

Für den Systemtheoretiker Niklas Luhmann beginnt geschichtlich gesehen Kultur erst dann, wenn es einer Gesellschaft gelingt, nicht nur Beobachtungen vom Menschen und dessen Umwelt anzustellen, sondern auch Formen und Blickwinkel der Beobachtungen der Beobachtungen zu entwickeln. Eine solche Gesellschaft ist nicht nur kulturell und arbeitsteilig in einem hohen Maße in Experten ausdifferenziert, sondern hat auch Experten zweiter Stufe ausgebildet. Diese letzteren untersuchen die Beobachtungsweisen der ersteren und helfen diese in ihrer Kontingenz zu begreifen, d. h. erst jetzt werden die Inhalte von Kultur als etwas Gemachtes aufgefasst und nicht als eine dem Menschen gegebene Fähigkeit. Kultur wird damit de- und rekonstruierbar.[14]

„Historische Anthropologie“

Ein aktuelles Arbeitsfeld, welches sich als „historisch ausgerichtete Anthropologie“ bezeichnen ließe, untersucht die im Laufe der Geschichte vollzogenen Bestimmungen der „menschlichen Natur“. So zeigt beispielsweise die Ordnung der Sinne, dass ihre Anzahl nicht eindeutig auf fünf festzulegen ist, sie teils hierarchisch, teils gleichberechtigt auftreten. Damit haben auch die Sinne eine Geschichte, wenn sie nämlich kulturell codiert sind. Es zeigt sich dann etwa eine für die abendländische Kultur prägende Bevorzugung des Gesichtssinns gegenüber anderen Sinnen.[15] Weitere Felder der historischen Anthropologie sind:[16]

  • Aus dem Verhältnis zwischen räumlich-materieller Außenwelt und ausdehnungsloser Innerlichkeit des menschlichen Subjekts ergibt sich eine Geschichte der Seele und Gefühle. Gerade in diesem Zusammenhang können sich auch Ansichten entwickeln, welche Gefühle nicht als innere Zustände des Individuums zu begreifen sondern räumlich ausgedehnte Atmosphären.[17][18]
  • Am geschichtlichen Verhältnis zwischen „der“ Gesundheit zu „den“ Krankheiten läßt sich untersuchen, wie sich das, was als gesund gilt und was als krankhaft angesehen wird, immer wieder verschiebt, ohne daß hier eine feste Grenze erkennbar wäre. Vielmehr ist auch hier jede Definition kulturabhängig, was sich besonders bei geistige Erkrankungen zeigt, wie etwa der wechselhaft unbestimmte Gebrauch der Begriffe „Nervosität“, „Hysterie“ und „Hypochondrie“ in der Zeit vom 18. bis 20 Jahrhundert belegt.
  • Das Geschlechterverhältnis wird inzwischen in einer Vielzahl von wissenschaftlichen Fachrichtungen untersucht, besonders widmet sich ihm die Geschlechterforschung (engl. Gender Studies). Die aus dem angelsächsischem Bereich kommende Unterscheidung zwischen biologischem Geschlecht (engl. sex) und Geschlechterrolle (engl. gender) hat sich auch im deutschsprachigen Bereich durchgesetzt. Vor allem Judith Butler hat darauf hingewiesen, daß Verhaltensweisen nicht „typisch männlich“ oder „typisch weiblich“ sind, sondern kulturell und sozial geprägt werden: Geschlechterrollen werden konstruiert.[19]

Grenzen des Kulturbegriffs

Entgegensetzung von Kultur und Natur

Dasjenige Konzept, welches das Entstehen von Kultur verständlich macht und den Begriff klar eingrenzt, stellt die Kultur der Natur entgegen. Damit ist als Kultur alles bestimmt, was der Mensch von sich aus verändert und hervorbringt, während der Begriff Natur dasjenige bezeichnet, was von selbst ist, wie es ist.

Mit „Natur“ kann jedoch immer nur etwas gemeint sein, das irgendwie durch Kulturtechniken wie Kunst und Wissenschaft beschrieben wurde. Gleichzeitig werden die Grenzen dessen, was „Natur“ bezeichnet, durch menschliche Kulturtechniken immer weiter hinausgeschoben, so macht etwa erst das Elektronenmikroskop kleinste Partikel sichtbar, während das Hubble-Teleskop erst die großen kosmischen Maßstäbe zur Darstellung bringt. Ebenso schiebt die Kulturtechnik der Astrophysik die zeitlichen Grenzen dessen, was wir mit dem Begriff Kosmos meinen, immer weiter nach hinten, während durch Atomuhren extrem kurze Zeitspannen exakt erfassbar werden. Wenn jedoch Natur nur durch die Brille der Kultur wahrgenommen werden kann, scheint es letztlich so, dass »alles Kultur sei«. Damit wird die Vorstellung, dass Kultur stets Auseinandersetzung mit dem Anderen, dem Neuen und Fremden ist, zunehmend unplausibel, denn wenn alles Kultur ist, dann ist unklar, was überhaupt mit dem Begriff gesagt werden soll.[20]

Wenn Kultur trotzdem weiterhin als die Bewältigung des Anderen, der Natur, begriffen werden soll, so darf die Natur nicht als räumlich dem Menschen gegenüberstehend gedacht werden, sondern das Andere ist der Kultur selbst eingeschrieben. Das Andere besteht nicht einfach neben oder außerhalb der Kultur, sondern haftet ihr an wie eine Kehrseite.[21] „Natur“ wäre dann ein Grenzbegriff, der aussagt, dass es »etwas« gibt, das vom Menschen beschrieben und bearbeitet wird, was aber zugleich meint, dass dieses »etwas« niemals unmittelbar zugängig wird. Damit gibt es keine „Natur an sich“, sondern nur Beschreibungen von Natur. Auch die exakte mathematische Physik ist damit nur eine mögliche Form der Naturdarstellung.[22]

Normative Verwendung des Begriffs

Verschiedene Fragen werden aufgeworfen, wenn der Begriff „Kultur“ nicht nur deskriptiv (beschreibend) verwendet wird, sondern auch normativ (vorschreibend) verwendet wird. In diesem Sinne meint „Kultur“ nicht nur das, was tatsächlich vorgefunden wird, sondern auch das, was sein soll, beispielsweise Gewaltfreiheit.

Eine normative Verwendung des Kulturbegriffes ist in der Alltagssprache nicht unüblich, wie man beispielsweise daran hört, dass von einer „Kultur der Gewalt“ wenn überhaupt nur abwertend die Rede ist – eine solche Kultur wäre eine „Unkultur“. Häufig sind also moralische Maßstäbe mit dem Kulturbegriff verbunden. Dabei ergibt sich jedoch die Schwierigkeit, zu bestimmen, was sich etwa unter „Gewalt“ verstehen lässt und wann sie vermeidbar ist. Nicht nur haben verschiedene Kulturen unterschiedliche Auffassungen darüber, wann eine Handlung gewaltsam ist, sondern auch darüber, was durch die Gewalt überhaupt verletzt wird.[23]

Der Kulturbegriff in der Biologie

Wie sehr auch immer sich ein Tier oder eine Pflanze an seine Umwelt anpasst: Eine Vererbung der durch Lernen oder durch physiologische Anpassung erworbenen Eigenschaften gilt heute als unmöglich, da die im Genom angelegten angeborenen Eigenschaften – abgesehen von wenigen epigenetischen Faktoren, deren Einflussbreite aber bereits im Genom verankert war – durch Umwelteinflüsse nicht verändert werden. Gleichwohl ist es möglich, dass ein Tier von den Eltern durch Prägung oder Imitationslernen erworbene Eigenschaften an die eigenen Nachkommen weitergibt. „Die Übertragung von Informationen von einer Generation zur nächsten auf nichtgenetischem Wege wird im allgemeinen als kulturelle Tradition bezeichnet.“ [24] In der Biologie werden solche kulturellen Traditionen allerdings häufig verkürzt als Kultur bezeichnet. [25]

Kulturelle Traditionen gibt es beispielsweise bei Vögeln, bei denen die Jungtiere den arttypischen Gesang im Wege der Prägung von den Eltern übernehmen. Englische Blaumeisen entwickelten in den 1940er- und 1950er-Jahren die Tradition, die Stanniol-Verschlüsse von Milchflaschen aufzupicken, sobald der Lieferant die bestellten Flaschen vor den Haustüren der Empfänger abgestellt hatte. Japanmakaken wurden bekannt dafür, das Kartoffelwaschen erlernt und an nachfolgende Generationen weitergegeben zu haben. Auch der Werkzeuggebrauch bei Tieren entspricht häufig der Definition von kultureller Tradition.

Entstehen von Kultur

Biologische Voraussetzungen beim Menschen und Umweltbedingungen

  • Der gegenüberliegende Daumen der Hand und der daraus resultierende Pinzettengriff ermöglichen den feinmotorischen Werkzeuggebrauch. (Ein Schimpanse kann keine Schnürsenkel binden, aus anatomischen Gründen.)
  • Hierzu ist der aufrechte Gang Voraussetzung, denn erst er setzt die Hand für ihren Gebrauch frei. Zudem ist ein großer Kopf nicht mehr so hinderlich beim aufrechten Gang, sitzt auf den Schultern und hängt nicht am Hals.
  • Die Vergrößerung des Gehirns ermöglicht es, große Informationsmengen aufzunehmen und zu verarbeiten und in die Zukunft zu planen.
  • Ein veränderter Kehlkopf und die Ausprägung spezieller Stimmbänder für sprachliche Lauterzeugung führen zu einer schnelleren und effektiveren Kommunikation. Dies ermöglicht die Weitergabe von theoretischem Wissen, ohne dass es praktisch vorgeführt werden müsste.
  • Das Selbstbewusstsein der psychischen Akte eröffnet vor allem dem Menschen die Veränderbarkeit seiner selbst und der Welt: Die Dinge sind nicht unveränderlich gegeben, sondern es bildet sich ein Verständnis des Möglichen. Durch die symbolische Repräsentation lassen sich Möglichkeiten zunächst durchspielen, Dinge kombinieren, Lösungen für Probleme finden. Der Mensch steht in einem offenen Verhältnis zu seiner Umwelt, die ihn und seine Handlungen nicht linear determiniert (vorausbestimmt), sondern er kann frei auf sie reagieren.
  • Ebenso haben die günstigen klimatischen Bedingungen der letzten 10.000 Jahren (erdgeschichtlicher Abschnitt des Holozän, seit der letzten Eiszeit) erst ermöglicht, dass die Zivilisationen sich entwickeln konnten. Durch die ackerbauliche Voraussetzungen, wodurch Arbeitsteilung und Bevölkerungswachstum begünstigt wurden, konnten sich die Gesellschaften ausdifferenzieren, welche Wissenschaft und Künste hervorbrachten. Durch den Klimawandel könnten jene Errungenschaften jedoch auch wieder zunichte gemacht werden, da der Mensch und auch viele Tierarten sehr sensibel auf kleine Änderungen beim Klima reagieren.[26] [27]

Kultur als Bewältigung

Die Frage nach den Urbedürfnissen

Der Mensch sieht sich gegenüber der natürlichen Umwelt vielen Herausforderungen und Gefahren gegenübergestellt und ist wie jedes Lebewesen darauf angewiesen, seine biologisch-physiologischen Bedürfnisse aus seiner natürlichen Umwelt heraus zu befriedigen. Kultur kann als Reaktion auf diese wechselnden Herausforderungen aufgefasst werden. Allerdings stößt ein solches Kulturverständnis recht schnell an seine Grenzen. So versuchte beispielsweise Bronisław Malinowski, im historischen Rückblick die an den Menschen gestellten Herausforderungen als „Grundbedürfnisse“ des Menschen freizulegen. Anhand von historischen Vergleichen versuchte er eine endliche Zahl solcher Grundbedürfnisse freizulegen, aus welchen sich dann alles menschliche Tun erklären ließe. Auch funktionalistisch-evolutionistische Kulturtheorien etwa sehen in den verschiedenen Kulturtechniken allein Mittel, die dem Zweck des Überlebens dienen. Kultur wäre dann die Befriedigung der immer gleichen menschlichen Bedürfnisse.

Es kann jedoch nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass Kulturerzeugnisse lediglich Urbedürfnisse des Menschen befriedigen.[28] Dies wird etwa am modernen Verkehrswesen deutlich: So ermöglichen es neue technische Verkehrsmittel nicht nur, größere Entfernungen zu überwinden, sondern es wird mit ihnen zugleich gesellschaftlich notwendig, immer größere Entfernungen zurückzulegen. Daher kann nicht ohne Weiteres davon gesprochen werden, dass etwa das Flugzeug ein Urbedürfnis nach Interkontinentalflügen befriedigt. Kulturinstitutionen sind daher nicht allein eine Antwort auf Anforderungen durch die Natur oder auf natürliche Bedürfnisse, sondern auch eine Reaktion auf durch sie selbst hervorgebrachte Strukturen; sie erfordern neue Institutionen (Malinowski), weshalb ihr wesentlich eine Selbstbezüglichkeit eingeschrieben ist. So bedient etwa auch die moderne Kulturindustrie mit Musik, Kino und Fernsehen keine überlebenswichtigen Bedürfnisse, sondern stellt eine Eigenwelt da, welche gewisse Bedürfnisse erst hervorbringt.[29][30]

Dass mit Kulturleistungen nicht nur Nöte bewältigt werden, sondern mit ihnen eine Freude am Entdecken, am Erfinden und Schaffen von Neuem einhergeht, die nicht auf einen unmittelbaren Nutzen zielt, das ist die Lust an Innovation, lässt sich gut ablesen am Werk des Kulturphilosophen Ernst Cassirers und dessen Auseinandersetzung mit der Renaissance.[31] Hierbei ist vor allem zu bedenken, dass gerade technische Neuerungen in der Renaissance nicht allein der besseren Bearbeitung der Natur dienten und also der Befriedigung grundlegender Bedürfnisse, sondern zu großem Teil in der Kunst zum Einsatz kamen.

Formgebung und Ordnung von zufällig und unstrukturiert Gegebenem

Funktionalistische Theorien, die alles Tun des Menschen auf sein Überleben hin interpretieren, übergehen den sinngebenden Charakter menschlicher Kulturtätigkeit. Kultur dient nicht nur der Befriedigung elementarer Bedürfnisse, sondern sie schafft auch Sinnstrukturen und Ordnungssysteme, die dem zufällig (Kontingenten) und ungeordnet Gegebenen einen Ort in der Welt des Menschen verschaffen. Das heißt der Mensch versucht im Prozess der Kultur dem Zufälligen und Ungeordneten eine Struktur zu geben, es wiedererkennbar, symbolisch kommunizierbar oder nutzbar zu machen. Dabei ist Kultur gegenüber den Ansprüchen und Herausforderungen, denen sich der Mensch gegenüber sieht, stets im Verzug, sie ist nachträgliche Kontingenzbewältigung.[32]

Einbindung in stets schon vorhandene Sinnstrukturen und Formverhältnisse

Werden außergewöhnliche Ereignisse kulturell vom einzelnen Menschen oder einer Gruppe verarbeitet, so findet dies nicht im luftleeren Raum statt. Zur Bewältigung werden tradierte Sinn- und Formverhältnisse, Denkweisen und Praktiken herangezogen, die aber ihrerseits kontingent sind, d. h. nicht notwendig für alle menschlichen Kulturen genau in dieser Form entstehen mussten. Damit kann keine allgemeine und für alle menschlichen Lebensgemeinschaften gleich verlaufende Kulturentwicklung nachgezeichnet oder vorausgesagt werden. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass selbst Symbolsysteme mit universalem Anspruch wie die Mathematik in unterschiedlichen Kulturen verschiedene Ausprägungen erfahren haben. (Vgl. die Geschichte der Mathematik.)

Kultur als symbolische Sinnerzeugung

Statuen
Kultur als symbolischer Bezug zur Welt

Wenn der Mensch sich auf sich selbst oder auf seine Umwelt bezieht, so tut er dies nicht nur durch seine leiblichen Sinne, sondern vor allem mittels von Symbolen. Anders als bei Tieren, deren Verhaltensmuster und Reaktionen instinktiv vorgeschrieben oder konditioniert sind, kann sich der Mensch mit Hilfe von Symbolen, beispielsweise mit Worten, auf die Dinge in der Welt beziehen. Symbole machen die Dinge handhabbar, indem sie diese unter gewissen Gesichtspunkten darstellen. Der Mensch kann die Natur durch mathematische Symbole beschreiben oder durch dichterische Worte besingen, er kann sie malen oder tanzen, in Stein hauen oder im Text beschreiben. Einzelne Dinge erscheinen ihm unter religiösen, wissenschaftlichen, weltanschaulichen, ästhetischen, zweckrationalen oder politischen Gesichtspunkten, werden also stets in ein größeres Ganzes eingebunden, in dem ihnen eine Bedeutung zukommt. Dies macht die kulturelle Welt des Menschen aus.

Symbolisierung als Formgebung

Als frühste und wichtigste Arbeiten, welche die Bedeutung von Zeichen und Symbolen für menschliche Sprache und Denken herausstellen gelten das Werk von Charles S. Peirce, der eine Zeichentheorie als erweiterte Logik entwickelt und Ferdinand de Saussure, der die Semiotik als allgemeine Sprachwissenschaft etabliert. Es war dann Ernst Cassirer in den 1920er Jahren, der eine Kulturphilosophie entwickelte, welche den Menschen als symbolisches Wesen begreift. Anders als Peirce und Saussure, setzt Cassirer dabei nicht bei Gedanken und Bewusstsein des Menschen an, sondern bei dessen praktischem Weltbezug. Der Mensch verhält sich also zur Welt nicht bloß theoretisch, sondern er steht in einem leiblichen Verhältnis zu ihr. Kulturtätigkeit des Menschen ist daher stets ein Gestalten, Formen und Bilden von Dingen.[33]

Die elementarste Form der Gestaltung ist dabei die Abgrenzung oder Perspektivierung. Da jede Wahrnehmung nur einen Teil der Wirklichkeit erfasst, ist damit schon jegliches Wahrnehmen gestaltend: Im Sehen beispielsweise wird der Hintergrund abgeblendet und der Fokus auf das davorliegende Objekt gerichtet. Erst durch diese Abgrenzung (Prägnanzbildung) kann das Objekt symbolisch erfasst werden als dieses oder jenes. Dabei verhält sich der Mensch nicht rein passiv, sondern erst sein Tun und Handeln bringt die Welt der symbolischen Gestalten hervor, die seine Kultur ausmacht. Nichts in der Welt ist also an sich gegeben, die Welt ist kein Sammelsurium von einfach vorhandenen Dingen, sondern all die uns vertrauten Sachen entspringt erst der Kulturtätigkeit des Menschen, seinem Tun:

„Die Grundlegenden Qualitäten des Tastsinns – Qualitäten wie ›hart‹, ›rauh‹ und ›glatt‹ entstehen erst kraft der Bewegung, so daß sie, wenn wir die Tastempfindung auf einen einzelnen Augenblick beschränkt sein lassen, innerhalb dieses Augenblicks als Data gar nicht aufgefunden werden können.“[34]

Gestalten vollzieht sich für Cassirer stets in Verbindung mit einem sinnlichen Gehalt. Jede Formgebung geschieht also in einem Medium: Sprache braucht den Klang, Musik den Ton, der Maler die Leinwand, der Bildhauer den Stein, der Schreiner das Holz. Diesen Kerngedanken fasst Cassirers Formulierung der symbolischen Prägnanz: In einem Medium wird eine prägnante Form herausgearbeitet, die sich dann symbolisch auf anderes Beziehen kann.

„Unter ,symbolischer Prägnanz' soll also die Art verstanden werden in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ,sinnliches' Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ,Sinn' in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt.“[35]

Wenn Prägnanzbildung sich immer immanent in einem Medium vollzieht, dann kann von einer immanenten Gliederung gesprochen werden: Die Eigenschaften des Mediums bestimmen zugleich die Möglichkeiten zur Formgebung und zum Sinngehalt. Das Symbol ist also nicht gänzlich beliebig, sondern entwickelt sich in steter Beziehung zur Widerständigkeit der Welt, an welcher der Mensch sich abarbeitet: Holz kann nicht in Form gegossen werden, sondern verlangt einen bestimmten Umgang mit ihm, Worte sind nicht minutenlang, sondern sind von einer Kürze, die sie im Alltag erst gebrauchbar macht. Warnsignale sind laut und grell, Liebesgeflüster ist leise und zart, so dass es dem Ohr schmeichelt. Cassirer spricht bezüglich des Gesichtssinns davon, dass sich „im Sehen und für das Sehen“ Gestalt ausbildet, denn jedem Sehprozess geht immer schon eine Gestaltung voraus, die auch das neu erfasste bestimmt. (Siehe Absch. Raumwahrnehmung.) Die immanente Gliederung des sinnlichen Gehalts ist Voraussetzung dafür, dass die Welt nicht als formlos-unbestimmte Masse begegnet: durch Verdichtung und Herauslösung bilden sich Formen, Gestalten, Kontraste, welche durch Fixierung zu einer Identität gegenüber anderen Wahrnehmungsinhalten gelangen. Erst hierdurch „zerfließt“ die Welt nicht. Damit die Formen und Gestalten aber zu einer Dauerhaftigkeit kommen und sich „aus dem Strom des Bewusstseins bestimmte gleichbleibende Grundgestalten teils begrifflicher, teils rein anschaulicher Natur“ herausheben, braucht es eine anschließende Repräsentation. Damit tritt dann „an die Stelle des fließenden Inhalts [...] eine in sich geschlossene und in sich beharrende Form.[36]

Nicht alles, was dem Menschen begegnet, wird von ihm sogleich zur Darstellung gebracht. Damit durch Prägnanz ein zwischenmenschlich handhabbares Symbol bilden kann, ist nötig:[37]

  • Rekognition (Wiedererkennung): Nur was sich mehrmals wiederholt erfassen lässt, kann Symbol werden
  • Präsentation: Anwesenheit des Physikalisch-sinnlichen, Symbolisierung braucht stets ein stoffliches Medium
  • Retention: Das Erlebnis bleibt für eine gewisse Dauer im Bewusstsein und entschwindet nicht sogleich wieder
  • Repräsentation: Die Beziehung welche Darstellendes und Dargestelltes verbindet: Sie ist für Cassirer eine grundlegende Leistung des Bewusstseins und vollzieht sich als eine ständige Bewegung zwischen beiden.
Universalität der Symbole

Symbole sind universelle Bedeutungsträger. Das heißt, es kann einerseits alles irgendwie Geformte zum Symbol werden, und andererseits lassen sich Symbole beliebig von einer Bedeutung hin zu einer anderen verschieben. Während zwar auch Tiere etwa Warnschreie haben, durch die sie Artgenossen auf Gefahr aufmerksam machen, bleiben diese jedoch immer an die konkrete Situation gebunden. So führen tierische Signale stets zu der gleichen Reaktion der Artgenossen oder bleiben, wenn sie außerhalb des gewöhnlichen Zusammenhangs geäußert werden, für die anderen unverständlich.[38] Menschliche Symbole hingegen, wie etwa das Wort, sind universell einsetzbar und auf verschiedene Dinge oder Situationen übertragbar.

Einbettung der Symbole in ein Sinnganzes

Wenn sich in der Formgebung etwas herausbildet, das dann für den Menschen von Bedeutung ist, wird nicht einfach ein beliebiger Sinn zum Wahrnehmungsinhalt hinzugesetzt, sondern das Wahrgenommene wird in ein Sinnganzes eingebettet:

Vielmehr ist es die Wahrnehmung selbst, die kraft ihrer eigenen immanenten Gliederung eine Art von geistiger ,Artikulation' gewinnt [...] Diese ideelle Verwobenheit, diese Bezogenheit des einzelnen, hier und jetzt gegebenen Wahrnehmungsphänomens, soll der Ausdruck ,Prägnanz' bezeichnen.[35]

Gleichwohl von dieser Fähigkeit des Menschen jegliche Formgebung abhängt, gibt es historisch keinen 'absoluten Nullpunkt' der symbolischen Prägnanz, keinen Zustand der völligen Formlosigkeit, denn Ausgangspunkt ist die „physiognomische“ Weltwahrnehmung des mythischen Bewusstseins.[39] Für das mythische Bewusstsein zeigt sich die Welt in mimetischen Ausdrucksmomenten, diese sind affektiv wirksam und ragen ihrem Ursprung nach noch in die tierische Welt hinein.[40] Sie bieten Anknüpfungspunkte für jede weitere Formgebung.

Durch Symbole werden sinnliche Einzelinhalte zu Trägern einer allgemeinen geistigen Bedeutung geformt. Die Formgebung läuft somit zugleich mit der sinnlichen Wahrnehmung ab.

„Unter einer ‚symbolischen Form’ soll jene Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem innerlich zugeeignet wird.“[41]

Mit der Formgebung geht gleichzeitig eine Sinngebung einher, erst Formen lassen Bezüge und Strukturen in der Welt erkennen. Symbolische Formen sind somit Grundformen des Verstehens, die universell und intersubjektiv gültig sind und mit denen der Mensch seine Wirklichkeit gestaltet. Kultur ist die Art und Weise, wie der Mensch durch Symbole Sinn erzeugt. Symbole entstehen also stets in Verbindung zur Sinnlichkeit, haben aber einen Sinn, der über diese hinaus verweist:

Jeder noch so ,elementare' sinnliche Inhalt ist [...] niemals einfach, als isolierter und abgelöster Inhalt, ,da'; sondern er weist in eben diesem Dasein über sich hinweg; er bildet eine konkrete Einheit von ,Präsenz' und ,Repräsentation'.[42]

Kultur als ein Geflecht von symbolischen Beziehungen: »Kultur als Text«

Besonders anschaulich lässt sich die Einbettung einzelner Symbole in ein übergeordnetes Ganzes fassen, wenn man Kultur metaphorisch als »Text« beschreibt. So wie ein einzelnes Wort in einem Satz erst seine genaue Bedeutung erhält, erhalten dann auch Gesten, Bilder, Kleidung, usf. ihre Bedeutung erst im Gesamtzusammenhang einer Kultur. Max Weber bestimmte bereits 1904 Kultur als ein Gewebe von Zeichen:

„›Kultur‹ ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens.“[43]

›Kultur‹ ist damit für Weber alles: „Eine Kulturerscheinung ist die Prostitution so gut wie die Religion oder das Geld.“[44] In neuerer Zeit hat Clifford Geertz seinen Kulturbegriff an Weber angeschlossen:

„Der Kulturbegriff, den ich vertrete, und dessen Nützlichkeit ich in den folgenden Aufsätzen zeigen möchte, ist wesentlich ein semiotischer. Ich meine mit Max Weber, daß der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnenen Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht.“[45]

Der Mensch lässt sich daher als dasjenige Wesen beschreiben, das durch Formgebung den Dingen eine Bedeutung verleiht, indem es sie in einen Gesamtzusammenhang einordnet. Die Auffassung, dass Kultur ein Zeichensystem sei, bestimmt daher die meisten modernen anthropologischen, soziologischen, literaturwissenschaftlichen und philosophischen Kulturtheorien.[46] In diesem Zusammenhang hat sich der stehende Begriff von »Kultur als Text« etabliert.[47] Während allerdings Cassirer seinen Kulturbegriff an das praktische Tätigsein des Menschen und dessen Umgang mit der Welt knüpft, birgt hingegen die pointierte Metapher von »Kultur als Text« die Gefahr einer Verengung des Kulturbegriffs und führt dazu dass kulturelle Phänomene nur noch von ihrer sprachlichen Seite her in den Blick genommen werden. [48]

Tradition und kulturelles Gedächtnis

Menschliche Gesellschaften sind für ihr Überleben und ihre Bedürfnisbefriedigung auf ihre kulturellen Fähigkeiten angewiesen. Damit diese auch folgenden Generationen zur Verfügung stehen, muss eine Generation ihre Praktiken, Normen, Werke, Sprache, Institutionen an die nächste Generation überliefern. Diese Traditionsbildung ist als anthropologisches Grundgesetz in allen menschlichen Gesellschaften anzutreffen.

Anthropologische Voraussetzungen der Traditionsbildung

Den Anreicherungsprozeß von Wissen durch Traditionsbildung hat in neuerer Zeit Michael Tomasello aus anthropologischer Sicht als „Wagenheber-Effekt“ beschrieben: Mit jeder Generation kommen etwas Wissen und kulturelle Fähigkeiten hinzu.[49] In der Traditionsbildung zeigt sich für Tomasello ein Hauptunterscheidungsmerkmal des Menschen gegenüber dem Tier, das keine Wissensweitergabe durch Nachmachen kennt. Zwar können beispielsweise Affen ihre Artgenossen nachahmen, aber sie sind nicht dazu in der Lage diese als intentionale Wesen zu erkennen, d. h. als Wesen die bei ihrem Tun einen bestimmten Zweck im Sinn haben. Es gelingt ihnen daher nicht den Sinn hinter einer Handlung nachzuvollziehen und diese in der zum Gelingen notwendigen Weise selbst auszuführen. Statt dessen bilden sie nur spiegelbildlich die Bewegungen ihrer Artgenossen ab und kommen somit nur zu zufälligen Erfolgen.

Sprache als Medium des kulturellen Gedächtnisses

Damit die Überlieferung der kulturellen Gehalte gelingt, bedarf es einer regelmäßigen Wiederholung dessen, was überliefert werden soll, beispielsweise eines bestimmten Rituals zu einer bestimmten Jahreszeit. Eine wesentliche Form der Wiederholung ist nicht nur die tatsächliche Ausübung dessen, was tradiert wird, sondern auch die Fixierung in der Sprache, also die Einbettung in ein Symbolsystem. Sprache ist daher ein vorrangiges Medium der Überlieferung, welches auch jede nichtsprachliche Weitergabe von Wissen begleitet.

Folgen der Schriftkultur
Erst die schriftliche Fixierung von Ereignissen ermöglicht es, diese auch nach einigen Generationen noch mit der mündlichen Überlieferung abzugleichen.

Ist die mündliche Sprache das einzige Medium, in das sich das kulturelle Gedächtnis einschreibt, dann ist die Überlieferung stets von einer Verfälschung bedroht. Denn werden Sagen, Mythen und Abstammungslinien lediglich mündlich weiter gegeben (orale Tradition), dann können sich die erzählten Geschichten mit der Zeit unmerklich verändern oder bewusst verändert werden. So rechtfertigen in den meisten frühen Kulturen die Erzählungen über Abstammungslinien und Herrschergeschlecht die aktuellen sozialen Verhältnisse. Nun kann es aber vorkommen, dass beispielsweise durch den plötzlichen Tod des Herrschers eine andere Familie diesen Platz besetzt. In der Absicht diese neuen Verhältnisse zu rechtfertigen, können Kulturen, die allein auf eine mündliche Überlieferung angewiesen sind, die die Herrschaft rechtfertigenden Erzählungen den neuen Verhältnissen anpassen. Dies führt dann zu einer Stabilisierung der neuen Ordnung. Dieser Vorgang kann als „homöostatische Organisation der kulturellen Tradition“ bezeichnet werden.[50] Erst mit der Schrift steht einer Kultur ein Medium zur Verfügung, welches die Nachprüfbarkeit der überlieferten Inhalte ermöglicht. So ist beispielsweise in Streitfällen nachlesbar, welcher Familie die Abstammung vom Göttergeschlecht zugesprochen wird. Damit bringt die Schrift den größten Einschnitt innerhalb der kulturellen Entwicklung des Menschen, sie stellt eine Revolution dar, die - außer der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern - auch von folgenden Aufschreibesystemen wie Grammophon, Film und Computer nicht mehr erreicht wird.

Übergreifende Momente kulturellen Lebens

Tradition

Identität und Tradition

Die Identitätsbildung einer Gruppe ist stark mit der in ihr lebendigen Tradition verknüpft. So beanspruchen etwa die drei großen Traditionslinien der monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam auch die Identität der ihnen angehörenden Mitglieder zu bestimmen. Daher kann „Tradition […] definiert werden als eine auf Dauer gestellte kulturelle Konstruktion von Identität.“[51]

Verhältnis zu anderen Traditionen

Oft geht mit der eigenen Tradition ein Anspruch auf Wahrheit einher, weshalb andere Traditionen als unverständlich und seltsam empfunden werden. Während die eigene Tradition keiner Begründung bedarf, gilt die andere als nicht begründungsfähig. Bei einem solchen Zusammentreffen kann es entweder zur Abschottung gegen das Fremde kommen, zur Übernahme einzelner fremder Elemente (Synkretismus) oder aber auch zu ersten Ansätzen einer Traditionskritik, welche die eigenen Riten, Sitten, Gebräuche und Normen in Frage stellt. Eine einschneidendere Situation tritt ein, wenn im Dialog mit der anderen Tradition nach einer gemeinsamen Geltungsgrundlage gesucht wird. Da jede Tradition für sich das Alter ihrer Herkunft geltend macht, kann dies nicht als Maßstab dienen. Damit wird aber das erste Mal Tradition an sich zum Thema und Gegenstand der bewussten Auseinandersetzung. Damit kann Tradition in Zweifel gezogen werden, weil sie nur Tradition ist.

Traditionskritik

Die im Abendland historisch frühste Traditionskritik vollzieht sich in den Anfängen der griechischen Philosophie, wenn nämlich in den Platonischen Dialogen es den Verfechtern der Tradition nicht gelingt, ihre eigene Position philosophisch zu begründen. Auch in der Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert übernimmt die Philosophie die führende Rolle in der Traditionskritik, vor allem im Zeitalter der Aufklärung. Die Aufklärer kritisieren das mit Fehlern behaftete Überlieferungsgeschehen der heiligen Schriften und setzen ihm die ewig gültigen Gesetze der Vernunft entgegen. Im Naturrecht wird nach natürlichen Gesetzen gesucht, auf deren Grundlage das traditionelle Recht kritisiert werden kann. Mit der Französischen Revolution wird erstmals erkannt, dass Gesellschaften von Grund auf veränderbar, revolutionierbar, sind. In der Kunst tobt der Streit der Alten und der Neuen (frz. querelle des anciens et des modernes) welchem das Gegensatzpaar von Tradition und Moderne entspringt. Dieser Gegensatz machte allerdings auch dafür Blind, dass auch die moderne Gesellschaft eine Tradition der Zweckrationalität und Wertrationalität hat, ihre Festschreibung auf Wandel statt wie in traditionellen Gesellschaften auf Stabilität.

Traditionstheorien
Herder sieht als einer der ersten das Principium der Tradition.

Neben Ansätzen bei Giambattista Vico liefert eine erste Traditionstheorie Gottfried Herder 1784 in seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“:

Hier also liegt das Principium zur Geschichte der Menschheit, ohne welches es keine solche Geschichte gäbe. Empfinge der Mensch alles aus sich und entwickelte es abgetrennt von äußern Gegenständen, so wäre zwar eine Geschichte des Menschen, aber nicht der Menschen, nicht ihres ganzen Geschlechts möglich. Da nun aber unser spezifische Charakter eben darin liegt, daß wir, beinah ohne Instinkt geboren, nur durch eine lebenslange Übung zur Menschheit gebildet werden, und sowohl die Perfektibilität als die Korruptibilität unsres Geschlechts hierauf beruhet, so wird eben damit auch die Geschichte der Menschheit notwendig ein Ganzes, d. i. eine Kette der Geselligkeit und bildenden Tradition vom ersten bis zum letzten Gliede.[52]

Durch Tradition und Kultur vollzieht sich also eine Überformung des Menschen, die Herder eine „zweite Genesis des Menschen“ nennt und mit Lessing eine „Erziehung des Menschengeschlechts“. Indem Herder die Kette der Tradition zurückreichen lässt bis zu ihren Anfängen wertet diese zugleich auf:

Wollen wir diese zweite Genesis des Menschen, die sein ganzes Leben durchgeht, von der Bearbeitung des Ackers Kultur oder vom Bilde des Lichts Aufklärung nennen, so stehet uns der Name frei; die Kette der Kultur und Aufklärung reicht aber sodann bis ans Ende der Erde. Auch der Kalifornier und Feuerländer lernte Bogen und Pfeile machen und sie gebrauchen; er hat Sprache und Begriffe, Übungen und Künste, die er lernte, wie wir sie lernen; sofern ward er also wirklich kultiviert und aufgekläret, wiewohl im niedrigsten Grade. Der Unterschied zwischen aufgeklärten und unaufgeklärten, zwischen kultivierten und unkultivierten Völkern ist also nicht spezifisch, sondern nur gradweise. [53]

Für Herder ist der Traditionsbegriff also nicht auf die treue Wahrung einer Ursprungsweisheit angelegt, sondern auf die allmähliche Anreicherung wertvollen Wissens, dass über die gesamte Geschichte der Menschheit nach und nach das Unmenschliche ausscheidet. Dass allerdings Traditionsbildung auch auf irrationalen Ängsten und gewaltsamen Zwängen beruhen kann, darauf hat Sigmund Freud in seiner Studie „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ hingewiesen. Freuds inhaltliche Rekonstruktion des Überlieferungsgeschehens durch unbewusste Zwänge und archaische Ängste stieß zwar auf breite Ablehnung, trotz allem kommt ihm das Verdienst die Gründe für Tradition und Überlieferung nicht nur unter dem optimistischen Gesichtspunkt einer fortschreitenden Verbesserung zu sehen und so den Blick auf pathologische Momente der Tradierung zu öffnen.

Als die institutionalisierten Geistes- und Geschichtswissenschaften im 20. Jahrhundert den Anschein aufkamen ließen, man könnte sich der Vergangenheit gänzlich objektiv und theoriefrei nähern, hat Hans-Georg Gadamer darauf hingewiesen, wie prägend auch für uns Heutige noch der Bezug zur Tradition ist: Inhalte der Überlieferung können durch wissenschaftliche Methoden niemals restlos verobjektiviert und zum bloßen Gegenstand einer der Tradition enthobenen Erkenntnis werden. Gadamer prägt dafür den Begriff des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins, dass über die Tradition reflektiert und sich zugleich seiner Bestimmtheit durch die Tradition bewusst ist.[54]

Sprache

Ein wesentliches Ordnungssystem, durch welches sich Bewältigungs- und Kommunikationsprozesse vollziehen, ist die Sprache. Sprache ist ein symbolisches Medium, das kein einzelner Mensch aus sich heraus selbst erfindet, sondern welches ihm überliefert wird. Der Mensch kann sich daher immer nur zur Sprache als einem immer schon Gegebenen verhalten. Als ein Zeichensystem schafft Sprache einen Raum der Öffentlichkeit, aus dem der Mensch beim Sprechen schöpft und in den hinein er stets zurückspricht. Sprache darf, wenn ihre kulturelle Bedeutung verstanden werden soll, nicht nur als Mittel der Kommunikation angesehen werden, sondern sie strukturiert grundsätzlich das menschliche Verstehen der Welt.

Wenn die Bedeutung der Sprache für den Menschen als kulturelles Wesen verstanden werden soll, dann kann es nicht darum gehen, einzelne konkrete Sprachen auf ihre Eigenart hin zu untersuchen, sondern es muss verstanden werden was überhaupt Sprache als Sprache ausmacht. Dabei konnten sich biologistische Sprachtheorien nicht durchsetzen, wie etwa in der Antike die von Demokrit (460-371 v.Chr.) vertretene Auffassung, dass Sprache aus Lauten rein emotionalen Charakter hervorginge, oder die an Charles Darwin (1809–1882) anschließende Sprachforschung, welche Sprache auf evolutionstheoretische Notwendigkeiten zurückführen möchte. Auch die ausgefeiltere von Otto Jespersen (1860-1943) vorgeschlagene Holistische Sprachgenesetheorie ist für die kulturwissenschaftliche Sprachauffassung bedeutungslos geblieben.[55] Diesen Sprachtheorien ist gemeinsam, dass sie Sprache lediglich im Hinblick auf ihren affektiven und emotionalen Zug betrachten. Damit wird aber der propositionale Gehalt von einfachen Aussagen wie »Der Himmel ist blau« übergangen, denn diese Aussage fordert weder zu einer unmittelbaren Handlung auf, noch hat sie einen emotionalen Gegenstand, sondern sie weist symbolisch auf etwas hin, das womöglich im Gesamtzusammenhang einer Kultur von Bedeutung ist.

Sprache als Zeichensystem
Ferdinand de Saussure

Es war der Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure, der eine Zeichentheorie der Sprache entwickelte, die Semiotik, von griechisch semeion für Zeichen, und der vorschlug, diese für das allgemeine Studium der Kultur zu verwenden. Nach Saussure sind sprachliche Zeichen durch zwei Eigenschaften ausgezeichnet:

  • sie sind beliebig, d. h. das, worauf das Zeichen zeigt, ist nur durch Verabredung und Konvention festgelegt
  • Zeichen sind linear, d. h. das bezeichnende Wort läuft in der Zeit ab und kann daher nicht auf einmal ausgesagt werden.

Bei der Untersuchung vorhandener Sprachen unterscheidet Saussure zwischen der synchronischen (zeitgleichen) und diachronischen (in der Zeit sich verändernden) Betrachtungsweise. Für Saussure ist die erste Form die wichtigere. Das heißt, er arbeitete nicht sprachhistorisch, sondern versuchte anhand einer gegebenen Sprache deren innere Struktur freizulegen, weshalb man Saussure auch als Gründer des Strukturalismus bezeichnet. Saussure kommt zu dem Urteil, dass Sprache nicht dadurch funktioniert, dass ein Laut oder eine damit bezeichnete Vorstellung an sich gegeben ist. Vielmehr bilden sich einzelne verständliche Laute (Phoneme) nur in Abgrenzung zu anderen aus: „In der Sprache gibt es nur Verschiedenheiten.“[56] Dass phonetische Laute nicht einfach gegeben sind, zeigt sich beispielsweise daran, dass Japaner und Chinesen den Unterschied zwischen »L« und »R« nicht hören, da sich diese Differenz kulturell nicht ausgeprägt hat. Es wird also nicht ein Wort wie ein Anker an einen Gegenstand gekettet, den es von nun ab bezeichnet, sondern aus dem durch Verschiedenheiten aufgebauten Geflecht der Laute können mehrere Laute zu einem neuen und von den anderen unterscheidbaren Gebilde zusammengesetzt werden. Dieses Wort kann dann innerhalb der Menge der Vorstellungen, die sich ebenfalls durch Abgrenzung zueinander ausbilden, eine solche Vorstellung bezeichnen.

Indem Saussure vorschlägt, dieses Modell der Sprache auf alles kulturell Hervorgebrachte anzuwenden, öffnet er den Blick dafür, Kultur als einen Zusammenhang von Zeichen und Symbolen aufzufassen:

„Man kann also sagen, dass völlig beliebige Zeichen besser als andere das Ideal des semeologischen Verfahrens verwirklichen; deshalb ist auch die Sprache, das reichhaltigste und verbreitetste Ausdruckssystem, zugleich das charakteristischste von allen; in diesem Sinne kann die Sprachwissenschaft Musterbeispiel und Hauptvertreter der ganzen Semeologie werden, obwohl die Sprache nur ein System unter anderen ist.“[57]

Mit der ikonischen Wende (von gr. Ikon, Zeichen; engl. iconic turn) wird seither Kultur hauptsächlich unter dem Aspekt der Zeichentheorie aufgefasst, wobei nun nicht mehr nur abstrakte Zeichen, sondern auch an Anschauungen angelehnte Bilder als Zeichen aufgefasst werden. Dies hebt die scharfe Grenze zwischen Text und Bild auf und Kultur zeigt sich als Zeichenuniversum von Verweisungen und Bezügen, das die Lebenswelt des Menschen ausmacht. Juri Michailowitsch Lotman spricht daher auch von der „Semiosphäre“ in Analogie zur Biosphäre.[58] Wenn in modernen Kulturtheorien von „Text“ oder „Diskurs“ die Rede ist, beschränken sich diese beiden Begriffe auch nicht mehr auf die schriftliche Aufzeichnung, sondern werden für Symbolismen jeder Art verwendet[59]: Körper, Dinge, Kleidung, Lebensstil, Gesten, all dies sind Teile des Zeichenuniversums Kultur.

Im Anschluss an Saussure hat Jacques Derrida mit seinem Begriff der Différance eine literaturwissenschaftliche Methode geprägt, die einen Text nicht durch eindeutige Aussagen geprägt auffasst, sondern als ein Geflecht, in dem sich erst durch Differenzen Bedeutungen ausbilden. Die Dekonstruktion versucht den Nebenbedeutungen nachzugehen und die an den »Rändern« eines Textes abgeblendeten und so unthematisch bleibenden Bezüge wieder ins Bewusstsein zu rufen. Für Derrida stellt die Kultur somit einen Text dar, in dem es zu lesen gilt.[60]

Nichtpropositionale Sprachlichkeit

Martin Heidegger hat darauf hingewiesen, dass sprachliche Äußerungen nicht schlichtweg als propositionale Aussagen im Sinne von »A ist B« verstanden werden können. Die Struktur der Sprache ist stets so vielfältig verästelt, dass sich einzelne Begriffe niemals klar umgrenzen lassen, sondern erst durch ihre Nebenbedeutungen und Beiklänge ein Verstehen erst möglich machen. In einer Aussage der Form »A ist B« wird beispielsweise A als B aufgefasst. Heidegger bezeichnet diese Verkettung von A und B durch das »Als« mit dem Titel „apophantisches Als“. Es ist diese Form, nach der in der philosophischen Tradition die meisten sprachlichen Aussagen aufgefasst wurden. Dem entgegen weist Heidegger darauf hin, dass die Bedeutung von A und B nicht bloß an deren Rändern abreißt, sondern immer nur in einem größeren Gesamtzusammenhang zu verstehen ist. Auch eine Aussage des Schemas »A ist B« kann nur vor einem größeren Verständnishorizont verstanden und eingeordnet werden.[61] Eine Form der Sprachlichkeit, die sich nicht in Aussagen des Schemas »A ist B« ergeht, sondern die den ganzen Reichtum einer kulturgeschichtlich gewachsenen Sprache hervortreten lässt, stellt für Heidegger die Dichtung dar. In der Dichtung treten einzelne Bedeutungsmomente besonders hervor, andere werden hingegen bewusst abgeschattet. Damit verengt die Dichtung sich nicht zu eindeutigen Feststellungen, sondern lässt Raum für das Ungesagt, Unbewusste und Unthematische unseres kulturell geprägten Welt- und Selbstbezugs, das so durch sie erst zur Sprache kommt.

Auch wies Heidegger Sprachtheorien zurück, welche die Sprache lediglich als ein Mittel zur Kommunikation auffassen, so dass mit ihr Aussagen wie »A ist B« mitgeteilt werden können. Diese funktionalistisch geprägte Auffassung sieht Sprache lediglich als Hilfsmittel zur gemeinsamen Bewältigung von praktischen Bedürfnissen. Für Heidegger gingen solche Sprachtheorien zurück auf die mit der Neuzeit einsetzende ökonomisch-technische Verwertbarmachung der Welt. Sprache wird dann als Werkzeug zur Kommunikation aufgefasst, dass sich durch logische Strukturierung verbessern ließe[62], wie dies Gottlob Frege, Bertrand Russell und Rudolf Carnap im Projekt der Einheitssprache anstrebten. Gegen einen so verengten Sprachbegriff machte Heidegger die Dichtung stark und weist darauf hin, dass im dichterischen Besingen der Welt keine praktische Haltung vorherrscht (vgl. z. B. Hölderlins Hymne „Der Ister“). Zum anderen sah es Heidegger als verfehlt an, davon auszugehen, dass Sprache innerhalb einer Welt eine einzelne Aussage mitteilt. Vielmehr ist die Sprache die Welt, in welcher der Mensch lebt, da alles Wissen, Denken und Begreifen sich in sprachlichen Strukturen vollzieht. Heidegger prägte hierfür den Ausdruck, die Sprache sei „das Haus des Seins“.[63]

Siehe auch: Sprachgebrauch

Handlung

Ausbildung von Institutionen

Kultur besteht nicht nur aus sprachlich festgeschriebenen Strukturen des Verstehens und der Objektivität, sondern auch aus geschichtlich handelnden und leidenden Menschen. Nicht alles Tun des Menschen ist aber schon kulturelle Praxis. Damit diese entsteht bedarf es einer Gruppe von Menschen, die gemeinsam und regelmäßig für sie bedeutsame Handlungen ausführt. Verfestigen sich das Tun auf diese Art zu Ereignissen, die regelmäßig wiederholt werden oder Orten an denen die Praxen gemeinsam durchgeführt werden, spricht man auch von Institutionen. Institutionen sind Orte des menschlichen Handelns beispielsweise in Form von Arbeit, Herrschaft, Recht, Technik, Religion, Wissenschaft und Kunst. In Institutionen vollzieht sich die Differenzierung dieser Praxen, zugleich entwickeln sie unabhängig von anderen Institutionen ihre eigenen Werte.

Kultur als Praxis und Kultur als Bedeutungszusammenhang

Wird Kultur unter dem Gesichtspunkt der praktischen Handlungen und des Kulturgeschehens betrachtet, so stellt dies auch ein gewisses Gegengewicht dar zu Auffassungen, welche Kultur in erster Linie (oder ausschließlich; Kulturalismus) als Sinnsystem von symbolischen Codes verstehen und in ihr einen lesbaren Text sehen.[64] So ist Kultur nicht nur ein Gewebe von Bedeutungen, sondern diese bedürfen einer Ausübung, um sich zu erhalten und fortzusetzen. Dabei können jedoch auch gerade durch die Ausübung neue Sinnzusammenhänge entstehen oder alte sich abschleifen, als unpassend oder unbedeutend empfunden werden. Im Zurückgreifen auf kulturelle Symbole, Sinn- und Handlungszusammenhänge, die in der Ausübung jedoch nie gänzlich verwirklicht werden können, ergibt sich ein Wechselspiel das die Kultur in lebendiger Bewegtheit hält: Auch aus dem Zufälligen und Ungewollten entsteht Neues.

Geltung

Dinge, die für das Denken und Handeln des Menschen in irgendeiner Form den Anspruch auf eine Bedeutung erheben, kommt eine gewisse Geltung zu. Im zwischenmenschlichen Umgang können solche Ansprüche und Herausforderungen an den Einzelnen oder an Gruppen angenommen oder abgelehnt werden. Ansichten, Gesetze, Bedeutungen können daher umstritten sein. Die Frage, welche sich diesem Sachverhalt widmet ist die der Geltung von

  • symbolischen,
  • praktischen,
  • kognitiven,
  • narrativen und
  • ästhetischen

Geltungsansprüchen.

Identität

Menschen begegnen sich meist als Individuen anhand ihrer Geschlechtlichkeit, Leiblichkeit, psychischen Triebstrukturen und biographischer Einzigartigkeit. Diese Merkmale können für den Einzelnen oder für die Gruppe identitätsbildend wirken und werfen im Falle von Gruppen die Fragen von Zugehörigkeit und Mitgliedschaft auf. Damit geben soziale Gruppen im kulturellen Leben dem Menschen eine Antwort auf die Frage, wer er im Vergleich zu den übrigen ist, sie bestimmen seine Identität. Durch Gruppenbildung und der Form des Handelns in ihr bilden sich Gemeinschaften oder Gesellschaften, die sich gegen andere Gruppen abschließen, Mitglieder aufnehmen oder ausschließen. Diese Vorgänge bestimmen unabhängig von den konkreten Inhalten die Identität der Gruppe und des Einzelnen.

Zeit

Menschliche Kultur erhält sich dadurch, dass sie weitergegeben wird. Dieser Moment der Tradition steht in engem Zusammenhang mit der geschichtlichen Entwicklung von Kulturen. Geschichte kann einerseits rückblickend anhand verschiedener Kriterien in Epochen unterteilt werden, andererseits ist jeder Kultur ein historisch gewachsener Zeitgeist innewohnend.

Raum

Raumwahrnehmung
Raumwahrnehmung ist nicht neutral-mathematisch: Große Hallen wirken beeindruckend, Kellergewölbe gemütlich oder auch drückend. Welche Empfindung Räume hervorrufen, ist dabei auch kulturell geprägt, d. h. nicht evolutionär festgelegt.

Räume werden nicht einfach wie der mathematische euklidische Raum als dreidimensionale Strukturen wahrgenommen und erst anschließend und unter Umständen mit Bedeutung versehen oder Interpretationen unterworfen: Es macht stets einen Unterschied, ob man fünf Meter gerade aus schaut, oder fünf Meter unter sich. Der Blick fünf Meter nach unten mag wiederum dem norddeutschen Küstenbewohner unbehaglicher sein, als dem Alpenbewohner. Die Raumwahrnehmung ist also niemals eine neutral-mathematische, sondern unterliegt kulturellen Prägungen.

Orientierung

So werden in erster Linie Verhältnisse im Raum entdeckt welche eine physische Orientierung in ihm ermöglichen: Wege, Hindernisse, Sitzmöglichkeiten und Gefahren. Die Orientierung im städtischen Raum erfordert es das Geflecht von Straßen, Kreuzungen und Ampeln zu verstehen und anhand von Häusern bekannter Größe die Entfernungen richtig einschätzen zu können, während indigene Völker sich im Urwald ganz ohne Straßen und Wege zurechtfinden sondern Bäume, Flussläufe und ähnliches nutzen. Beides mal strukturieren kulturell erlernte Fähigkeiten und Sehgewohnheiten die Raumwahrnehmung. Auch das Haus ist ein Raum, der durch eine sinnhafte Struktur bestimmt ist, wie Heidegger es beschreibt: Gebrauchsgegenstände haben ihren »Platz«, sie gehören in eine »Gegend« anderer zu ähnlich nützlichen Gegenstände. Die Dinge sind nicht im dreidimensionalen Raum einfach »oben« oder »unten«, sondern »an der Decke« oder »auf dem Boden«. Gesehen werden nicht zuerst unbedeutende Objekte im physikalischen Raum, sondern etwas liegt »am falschen Platz« oder »steht im Weg«, dort »wo es nicht hingehört«.[65] Diese Bestimmungen sind aber keine absoluten, sondern hängen von der Kultur und dem Umfeld ab, in welchem der Mensch herangewachsen ist.

Atmosphäre

Bereits bei Goethe findet sich die Unterscheidung zwischen neutralen Raum und bedeutungsgeladenem Ort:

„Immer war mir das Feld und der Wald und der Fels und die Gärten
Nur ein Raum, und du machst sie, Geliebte, zum Ort.“

Goethe: Vier Jahreszeiten

Auch solche atmosphärische Qualitäten bestimmen die Wahrnehmung des Raumes. Gernot Böhme untersucht, wie repräsentative Zimmer oder Säle mit Gegenständen ausgestattet werden, die eigentlich keinen Gebrauchswert haben, bzw. deren Wert genau darin liegt, Atmosphäre zu erzeugen.[66] Luc Ciompi konnte zeigen, inwieweit das, was als atmosphärisch angenehm empfunden ist, kulturabhängig ist. Während sich etwa Italiener in hohen, kühlen und dunklen Zimmern wohlfühlen, bevorzugen Nordländern niedrige, helle und warme Räume, was sich auf die unterschiedlichen klimatischen Bedingungen zurückführen lässt und die von Kindheit her vertraute Wohnatmosphäre.[67]

Der gemeinsame Raum
Das Holocaust-Mahnmal in Berlin: Ort des Gedenkens für die ermordeten Juden Europas unter der Herrschaft der Nationalsozialisten.

Kulturelles Leben findet in Räumen statt. Diese Räume sind nicht einfach der dreidimensionale Raum der Physik, der die Kulturgüter wie ein Behälter umschließt. Vielmehr ist Kultur selbst Raumbildend, d. h. sie schafft sich symbolische und figurative Räume. Diese Räume sind in erster Linie nicht durch ihre Eigenschaft als Behältnis bestimmt, sondern durch einen sinnhaften Zusammenhang, so bildet beispielsweise der Herd des Hauses einen Ort der Versammlung, an den die Mitglieder bäuerlicher Hausgemeinschaften nach getanem Tageswerk zusammen kommen. Der Tempel oder die Kirche sind Orte, an welchen das Heilige dem Leben des Menschen ein Maß gibt und andere Gesetze und Verhaltensweisen gelten, als in der profanen Sphäre der Küche. Auch politisch werden Grenzziehungen propagiert, die sich nicht an geographischen, sondern kulturellen Räumen orientieren, bzw. diese vorschreiben, wenn etwa George W. Bush Amerika und Europa zur „Westlichen Welt“ zusammenfasst und ihnen die „Achse des Bösen“ entgegenstellt.[68]

Kulturelle Räume können feste Anordnungen an einem ausgezeichnetem Platz sein, wie etwa bei einem Kloster oder aber als bewegte Anordnungen auftreten, wenn beispielsweise Mobilfunkteilnehmer raum-zeitliche Abstände überbrücken.

Frühes Entstehen kulturellen Raums: Heilige Orte

Eine der frühsten Einteilungen der Welt scheidet profane und heilige Orte. Heilige Orte sind jene, an denen das Göttliche durch besondere Ereignisse zur Erscheinung kommt. Für den mythisch denkenden Menschen bleiben Götter oder Geister an diesen Ort gebunden, es ist jener Stein oder jene Eiche, in der sich das Heilige manifestiert. Damit ergibt sich eine Einteilung des Lebensraums, die nicht mehr allein wie beim Tier an physiologischen Bedürfnissen orientiert ist (Wasser, Nahrung), sondern sich an einem symbolischen Gehalt fest macht.

Sozialer Raum

Verschiedene Orte können ethnisch-, klassen- oder geschlechterspezifisch zu neuen Orten zusammengefügt werden. Hierdurch kann es zu Abgrenzungen zwischen Ein- und Ausgeschlossenen kommen, auch können bestimmte räumliche Anordnungen soziale Ungleichheiten widerspiegeln oder festschreiben. Während VIP-Räume bewusst „wichtige“ von den „weniger wichtigen“ Menschen trennen, vollziehen sich räumlich-soziale Abgrenzungen meist über längere Zeit. So werden Häuser, Wohnungen und Stadtteile nach dem entsprechenden Einkommen gewählt und hierdurch Klassenverhältnisse reproduziert, die sich dann auch physisch in den Raum einschreiben. Dieses Einschreiben in den Raum fasst Pierre Bourdieu in die Worte, dass der Habitus das Habitat ausmacht.[69] Damit spiegelt der städtische Raum die sozialen und geschlechterspezifischen Verhältnisse: Arbeiterjugendliche halten sich häufiger auf öffentlichen Plätzen und Straßenecken auf[70], Jungen mehr als Mädchen.[71]

Während ein entsprechendes Vermögen die Aneignung und bauliche Umgestaltung von öffentlichem Raum nach den eigenen Bedürfnissen ermöglicht, ist dies den unteren sozialen Schichten einer Gesellschaft nicht ohne weiteres möglich. Auch Kinder und Jugendlich können sich nicht materiell eigene Räume schaffen und sind daher darauf angewiesen diese durch ihre leibhaftige Anwesenheit zu besetzen: Die geduldete Raucherecke hinter der Turnhalle bildet gegenüber dem autoritären Raum des Schulgeländes einen Rückzugsort für die Schüler. Dieser Ort schreibt sich aber nicht physisch ein, sondern entsteht allein durch das häufige Aufsuchen und die Anwesenheit der Schüler. Hier wird besonders deutlich, dass kultureller Raum nicht einfach gegeben ist, sondern dadurch hergestellt wird, dass im Handeln individuell und kollektiv darauf Bezug genommen wird.[72]

Auch die globale kapitalistische Wirtschaftsweise schafft einen neuen sozialen Raum, der sich nun erstmals über den ganzen Erdball ausdehnt. Dieser Raum, dessen Verbindungslinien durch Flugzeuge, Schnellstraßen und Zugstrecken zusammengehalten wird, kann jedoch nicht von allen genutzt werden. So haben etwa nur fünf Prozent der Weltbevölkerung je in einem Flugzeug gesessen, zudem verbindet der Flugverkehr nur die „Reichtumsinseln“ des Planeten.[73] Peter Sloterdijk hat sich diesem „Innenraum“ des Planeten gewidmet, zu dem nur der Zugang erhält, der genügend zahlen kann.[74]

Geschlechterspezifische Räume

Geschlechterspezifisch abgetrennte Räume sind in modernen westlichen Gesellschaften seltener geworden und beschränken sich auf Umkleidekabinen, Saunen und Toiletten. Die Herbertstraße im Hamburger Rotlichtviertel markiert aber weiterhin einen geschlechterspezifischen Raum, zu dem Frauen und Jugendlichen der Zutritt verwehrt wird.

Kulturkritik

Jean-Jacques Rousseau ist einer der bedeutendsten Kulturkritiker.
Hauptartikel: Kulturkritik

In der Kulturkritik werden die einzelnen Kulturleistungen des Menschen kritisch befragt auf ihre ungewollten, zerstörerischen, unmoralischen und unsinnigen Folgen. Dies kann sich zu einer Gesamtschau der Menschheitsgeschichte ausweiten, die dann insgesamt als Verfallsgeschichte erscheint. Die Kernaussage vieler kulturkritischer Ansätze besteht dabei darin, dass sie in Bezug auf das menschliche (Zusammen)leben einen natürlich gegebenen Zustand annehmen, einen Naturzustand, welcher der Wesensverfassung des Menschen entspricht. Dieser Urzustand wird dann mit fortschreitender kultureller Entwicklung durch Künstlichkeiten verstellt und verzerrt. Er wird überlagert von künstlichen sozialen Beziehungen und Herrschaftsformen (Jean-Jacques Rousseau) oder führt durch die Erfindung neuer Produktionsverhältnisse zur Entfremdung des Menschen von sich selbst, wie Karl Marx meint. Friedrich Nietzsche sieht in der vorsokratischen Antike noch ein Zeitalter, in welchem der Wille zur Macht ungehemmt gelebt wurde, während mit dem „wissenschaftlich“ denkenden Sokrates und der Moral des Christentums ein Zerfall einsetzt, der im Zeitalter der laschen Dekadenz seinen Höhepunkt erreicht. Martin Heidegger sieht ebenfalls bei den Vorsokratikern noch ein offenes und reflexives Verhältnis des Menschen zu philosophischen Anschauungen und Überlegungen, während in der Philosophie von Platon und Aristoteles erstmals diese Erkenntnisse absolut gesetzt werden und so das Denken der Menschen auf Jahrhunderte in Kategorien zwängen, aus denen es sich selbst nicht ohne weiteres befreien kann. Der moralkritische Ansatz Sigmund Freuds nimmt in Bezug auf die seelischen Verfassung des Menschen feststehende natürliche Bedürfnisse an, welche ihm durch künstliche moralische Vorschriften verwehrt werden und so den Menschen zu zwanghaften Ausgleichshandlungen drängen.

Viele kulturkritische Werke spielten eine bedeutende Rolle dabei, zu verstehen, was Kultur überhaupt erst ausmacht. Erst durch das kritische Abstandnehmen und eventuelle Verurteilen der bestehenden Verhältnisse zeigt sich heute die Kultur nicht als unveränderlich Vorhandenes, sondern als ein Geschehen, das auch hätte anders verlaufen können. Sie lassen Kultur erkennen als die Kontingenz des Gewordenen.

Literatur

Kulturphilosophie

Sammelbände Kulturtheorien

  • Hubertus Busche: Was ist Kultur? Die vier historischen Grundbedeutungen, in: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie, 2000/1, 69-90
  • Martin Ludwig Hofmann, Tobias F. Korta, Sibylle Niekisch (Hrsg): Culture Club: Klassiker der Kulturtheorie. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004, ISBN 978-3-518-29268-6
  • Martin Ludwig Hofmann, Tobias F. Korta, Sibylle Niekisch (Hrsg): Culture Club II: Klassiker der Kulturtheorie. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006, ISBN 978-3-518-29398-0
  • Stephan Moebius, Dirk Quadflieg (Hrsg.): Kultur. Theorien der Gegenwart. VS-Verlag, Wiesbaden 2006, ISBN 3-531-14519-3
  • Gerhart Schröder, Helga Breuninger (Hrsg.): Kulturtheorien der Gegenwart. Ansätze und Positionen. Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-593-36866-8

Wichtige Studien

Siehe auch

Weblinks

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 Commons: Kultur – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
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 Wikiquote: Kultur – Zitate
Wikinews Wikinews: Kultur – in den Nachrichten
Wiktionary Wiktionary: Kultur – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Alfred L. Kroeber und Clyde Kluckhohn trugen 1960 160 Definitionen von Kultur zusammen. Vgl. Prof. Dr. Frank Heidemann: Vorlesung 1, Grundlagen 1: Ethnologie als Wissenschaft vom kulturell Fremden, Ludwig-Maximilian-Universität München.
  2. Der Große Duden. Etymologie. Dudenverlag, Mannheim 1963, Artikel Kultur.
  3. Der Große Duden. Etymologie. Dudenverlag, Mannheim 1963, Artikel Kolonie.
  4. Nat. hist XII, 75, u.ö.
  5. Tusc. II, 5, 13.
  6. Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. § 83 Von dem letzten Zwecke der Natur als eines teleologischen Systems. Akademie-Ausgabe Bd. 10, S. 387.
  7. Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. (1784). Akademie-Ausgabe Band 8, S. 26.
  8. Edward Burnett Tylor (1873): Die Anfänge der Cultur. Leipzig, abgedruckt in: C.A. Schmitz Kultur, Frankfurt am Main 1963, S. 32.
  9. Albert Schweitzer: Kultur und Ethik, S. 35.
  10. Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. (1784). Akademie-Ausgabe, Bd. 8, S. 26.
  11. Vgl. Wilhelm von Humboldt: Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. (1830–1835) Ges. Werke 7, S. 30.
  12. Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Einleitung, Abschnitt 12.
  13. Helmuth Plessner: Die Verspätete Nation. in: Gesammelte Schriften VI, Frankfurt am Main, S. 84.
  14. Vgl. Niklas Luhman: Kultur als historischer Begriff. in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenschaftssoziologie der modernen Gesellschaft. Band 4, Frankfurt am Main 1985, S. 31-54.
  15. Böhme, Matusek, Müller: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann und was sie will. Reinbek 2000, S. 131f.
  16. Böhme, Matusek, Müller: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann und was sie will. Reinbek 2000, S. 143f.
  17. Vgl. Hinrich Fink-Eitel, Georg Lohmann (Hrsg.): Zur Philosophie der Gefühle, Frankfurt am Main 1993, S. 33.
  18. Byung-Chul Han: Heideggers Herz. Zum Begriff der Stimmung bei Martin Heidegger. München 1996, I. Einleitung: Beschneidung des Herzens.
  19. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main 1991.
  20. Vgl. Burkhard Liebsch: Kultur im Zeichen des Anderen oder Die Gastlichkeit menschlicher Lebensformen. in: Friedrich Jaeger, Burkhard Liebsch (Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften., Stuttgart 2004, S. 1-23.
  21. Vgl. Burkhard Liebsch: Kultur im Zeichen des Anderen oder Die Gastlichkeit menschlicher Lebensformen. in: Friedrich Jaeger, Burkhard Liebsch (Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften., Stuttgart 2004, S. 3.
  22. Wenngleich sich die mathematische Naturbeschreibung innerhalb ihrer gegebenen Logik schrittweise der Natur anzunähern vermag. Ernst Cassirer hat diesen veränderte Auffassung von Natur kenntlich gemacht als den Übergang von der Substanz zur Funktion in der Abhandlung Substanzbegriff und Funktionsbegriff von 1910.
  23. Vgl. Burkhard Liebsch: Kultur im Zeichen des Anderen oder Die Gastlichkeit menschlicher Lebensformen. in: Friedrich Jaeger, Burkhard Liebsch (Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften., Stuttgart 2004, S. 7.
  24. David McFarland: Biologie des Verhaltens. Evolution, Physiologie, Psychobiologie. Heidelberg, Berlin: Spektrum Akademischer Verlag, 1999, S. 457
  25. So der Zürcher Anthropologe Peter Schmid: „Für uns ist natürlich der biologische Kulturbegriff maßgeblich. Das sind Innovationen, die weitergegeben werden, also Erfindungen, die dann in einer Gruppe weitergegeben werden. Und das finden wir nicht nur bei Menschen, sondern wir können das auch bei Affen feststellen.“ im Deutschlandfunk.
  26. http://edoc.hu-berlin.de/miscellanies/klimawandel-28044/44/PDF/44.pdf ; S. 8-10
  27. http://www.kultur-macht-europa.eu/fileadmin/user_upload/PDF-Dokumente/Kongress_Interkultur/PDF-Dokumente/KlimaKultur_Text_PK_27.05.08.pdf
  28. Vgl. Burkhard Liebsch: Kultur im Zeichen des Anderen oder Die Gastlichkeit menschlicher Lebensformen, in: Friedrich Jaeger/Burkhard Liebsch (Hgg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Stuttgart 2004, S. 11 f.
  29. Vgl. Hans Jonas: Technik, Medizin, Ethik. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1987, S. 20, 29. Dem sich auch Liebsch 2004, S. 13 anschließt.
  30. Ebenso der Abschnitt Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug, in: Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. 1947 Amsterdam.
  31. Vgl. Oswald Schwemmer: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne. Berlin 1997, S. 221–242.
  32. Vgl. Friedrich Jaeger, Burkhard Liebsch (Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. S. X–XI.
  33. Vgl. Oswald Schwemmer: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne. Berlin 1997, S. 30.
  34. Ernst Cassirer: Philosophie der Symbolischen Formen. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Damrstadt 1964, Band 3, S. 207.
  35. a b Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Band III, Darmstadt 1982, S. 235.
  36. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Band I, S. 22.
  37. Oswald Schwemmer: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne. Berlin, 1997, S. 89ff.
  38. Vgl. Ernst Cassirers unterscheidung zwischen „Tierischer Reaktion“ und „Menschlicher Antwort“ in: Versuch über den Menschen. Felix Meiner Verlag, Hamburg 2007, S. 52ff.
  39. Vgl. Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Hamburg 2007, S. 123.
  40. Vgl. Oswald Schwemmer: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne. Berlin 1997, S. 50f.
  41. Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. 1910, Werksausgabe Band 6, Hamburg 2000, S. 161.
  42. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Band III, Darmstadt 1982, S. 149.
  43. Max Weber: Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. in: Gesammelte Aufsätze und Wissenschaftslehre. Tübingen 1968, S. 180.
  44. Weber 1968, S. 181.
  45. Clifford Geertz: Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main 1983, S. 9.
  46. Vgl. Roland Posner: Kultur als Zeichensystem. Zur semiotischen Explikation kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe. in: Aleida Assmann, Dietrich Harth (Hrsg.): Kultur als Lebenswelt und Monument. Fischer, Frankfurt am Main 1991.
  47. Vor allem durch die gleichnamige Aufsatzsammlung von Doris Bachmann-Medick: Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. UTB, Berlin 2004.
  48. Die Metapher führt, zur Privilegierung des sprachlichen Zugangs zu Bedeutungen […], der als Königsweg zur Entschlüsselung auch aller anderen Kristallisationformen kultureller Praxis erscheint. […] Die je spezifischen Bedeutungspotentiale der einzelnen Künste oder kulturellen Praxen werden nicht mehr wahrgenommen.“ Böhme, Matusek, Müller: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann und was sie will. Reinbek 2000, S. 136f.
  49. Michael Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002.
  50. Vgl. Jack Goody, Ian Watt: Konsequenzen der Literarität. in: Jack Goody, Ian Watt, Kathleen Gough: Entstehung und Folgen der Schriftkultur. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1986, S. 68.
  51. Aleida Assmann: Zeit und Tradition. Böhlau, Köln, 1999, S. 90.
  52. Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1, 1784, S. 335 bzw. 337.
  53. Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1, 1784, S. 338 bzw. 340.
  54. Vgl. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, zweiter Teil; Dazu auch die Studie von Bernd Auerochs: Gadamer über Tradition. in: Zeitschrift für philosophische Forschung 49, 1995, S. 294-311.
  55. Vgl. zur Kritik hieran: Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Felix Meiner Verlag, Hamburg 2007, S. 171-211.
  56. Ferdinand de Saussure: Grundlagen der allgemeinen Sprachwissenschaft, De Gruyter, Berlin 1967, S. 143.
  57. Ferdinand de Saussure: Grundlagen der allgemeinen Sprachwissenschaft, De Gruyer, Berlin 1967, S. 80.
  58. Yuri M. Lotman: Universe of the Mind. A Semiotic Theory of Culture. I.B. Tauris Publishers, London / New York 2001.
  59. Für einen Überblick zu dieser Ausweitung der Begriffe siehe Michael Krois: Kultur als Zeichensystem. in: Friedrich Jaeger, Burkhard Liebsch (Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Stuttgart 2004, S. 106-118.
  60. „Das, was ich Text nenne, ist alles, ist praktisch alles. Es ist alles, das heißt, es gibt einen Text, sobald es eine Spur gibt, eine differentielle Verweisung von einer Spur auf die andere. Und diese Verweise bleiben nie stehen. Es gibt keine Grenzen der differentiellen Verweisung einer Spur auf die andere.“ Derrida zitiert nach Peter Engelmann: Postmoderne und Dekonstruktion: Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Reclam, Stuttgart 2004, S. 20f.
  61. Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, Niemeyer, Tübingen 1927, §§31-34.
  62. Martin Heidegger: Holzwege. (GA 5), S. 311.
  63. Martin Heidegger: Holzwege. (GA 5), S. 310.
  64. Vgl. Karl H. Hörning: Kultur als Praxis. in: Friedrich Jaeger/Burkhard Liebsch (Hgg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Stuttgart 2004, S. 137-151.
  65. Als einer der ersten beschreibt dies Martin Heidegger: Sein und Zeit (GA 2) §§14-24, Niemeyer, Tübingen 1927.
  66. Vgl. die Studie von Gernot Böhme: Atmosphäre. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1995.
  67. Luc Ciompi: Außenwelt – Innenwelt. Zur Entstehung von Zeit, Raum und psychischen Strukturen. Sammlung Vandenhoeck, Göttingen 1988, S. 235f.
  68. Vgl. die Axis-of-Evil-Speech (Pressemitteilung des Weißen Hauses).
  69. Pierre Bourdieu: Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum. in: Martin Wentz (Hrsg.): Stadt-Räume. Die Zukunft des Städtischen. Campus, Frankfurt a.M. / New York 1991, S. 32.
  70. Vgl. Helmuth Becker, Michael May: Die lungern eh' nur da ›rum‹ – Raumbezogene Interessenorientierung von Unterschichtsjugendlichen und ihre Realisierung in öffentlichen Räumen. in: Walter Specht (Hrsg.): Die gefährliche Straße. Jugendkonflikte und Stadtteilarbeit. KT-Verlag, Bielefeld 1987, S. 41.
  71. Vgl. Deutsches Jugendinstitut: Was tun Kinder am Nachmittag? Ergebnisse einer empirischen Untersuchung zur mittleren Kindheit. Juventa, München 1992.
  72. Vgl. das ähnliche Beispiel von Martina Löw: Raum – Die topologischen Dimensionen der Kultur. in: Friedrich Jaeger, Burkhard Liebsch (Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Stuttgart 2004, S. 49-53.
  73. Vgl. Germanwatch in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung: Zur Lage der Welt 2004. Abschnitt 1.
  74. Peter Sloterdijk: Im Weltinnenraum des Kapitals. Zu einer philosophischen Geschichte der terrestrischen Globalisierung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005.

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