Lew Semjonowitsch Wygotski

Lew Semjonowitsch Wygotski

Lew Semjonowitsch Wygotski (russisch Лев Семёнович Выготский, weißrussisch Леў Выгоцкі - Leŭ Vyhocki, wiss. Transliteration Lev Semënovič Vygotskij; * 5. Novemberjul./ 17. November 1896greg. in Orscha, Weißrussland; † 11. Juni 1934 in Moskau) war ein Psychologe und gilt als der Begründer der kulturhistorischen Schule und der Tätigkeitstheorie. Des Weiteren lieferte er Beiträge zur Theorie des Bewusstseins, zur Behindertenpädagogik, zum Verhältnis von Sprachentwicklung und Denken und zur allgemeinen Entwicklungspsychologie des Kindes.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Lew Semjonowitsch Wygotski lebte bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr mit seiner Familie im weißrussischen Gomel. Nach seiner Gymnasialzeit studierte er an der Universität Moskau und konnte sich ein enzyklopädisches Wissen auf den Gebieten Soziologie, Psychologie, Philosophie, Linguistik, Kunst- und Literaturwissenschaft aneignen. Maßgeblich für sein Denken waren u.a. die Lektüre Spinozas, Feuerbach, William James und Freud [1]. Nach Abschluss des Studiums arbeitete er von 1918 - 1924 als Lehrer in seiner Heimatstadt [2].

1924 wechselte er an das Psychologische Institut der Moskauer Universität und verfasste systematische psychologische Arbeiten, die heute unter dem Begriff Tätigkeitstheorie bekannt sind. Ab 1930 wurde es für Wygotski zunehmend schwerer, seine Arbeiten zu veröffentlichen, denn mit seiner Bezugnahme auf Plechanow und Trotzki lag er nicht mehr auf der Linie des aus den innersowjetischen Machtkämpfen siegreich hervorgegangenen Stalinismus.

Nach seinem Tod infolge einer Tuberkulose machte sein wissenschaftlicher Nachlass den Eindruck eines work in progress: Wygotski hinterließ 80 unveröffentlichte Manuskripte. Er kam nie dazu, seine Theorien konsequent zu systematisieren, doch beeinflusste er die Forschungen von Alexander Lurija und Alexej Leontjew, mit denen er eng zusammenarbeitete und die in ihren Werken Wygotskis Ansätze weiterentwickelten.

Zentrale Themen

Wygotski begann sein wissenschaftliches Wirken im Bereich der Kunstpsychologie. Er verfolgte die Frage, wie es Kunstwerke schaffen, eine bestimmte psychische Reaktion (z. B. eine Emotion) hervorzurufen. Er fand, dass Kunstwerke bestimmte Motive enthalten, die in der entsprechenden Kultur einen festen Bezug zu einem gewissen Themenfeld haben (z. B. hat in abendländischer Kultur eine Hirtenszene eine starke Konnotation mit Frieden und Beschaulichkeit). Der dieser Kultur angehörige Betrachter (bzw. Zuschauer, Zuhörer etc.) entschlüsselt (meist unbewusst) nicht nur diesen Zusammenhang, sondern die gesamte kulturelle Geschichte dieses Motivs (also z. B. auch Geschichten, in denen ein Wolf in der Hirtenszene auftaucht, Hirten-Motive aus der Bibel etc.).

Diese Überlegungen beeinflussten seine weiteren psychologischen Forschungen über das menschliche Bewusstsein und das menschliche Denken, mit denen er den Grundstein der kulturhistorischen Schule der russischen Psychologie legte.

Wygotskis Grundidee war, dass höhere geistige Funktionen durch funktionale Verbindungen zwischen verschiedenen niederen geistigen Funktionen realisiert werden. Diese Verbindungen entstehen in einem kulturellen Kontext, nämlich der Kommunikation mit anderen Menschen. Da Kommunikation unter Verwendung kulturell gewachsener Zeichensysteme geschieht, fällt dem Zeichen die Organisation dieser Verbindungen zu. Zeichen und ihre Einbettung in den sozialen und kulturellen Zusammenhang, in dem ein Mensch aufwächst, sind laut Wygotski von zentraler Bedeutung für die kognitive Entwicklung des Menschen.

Bei der Entstehung dieser funktionalen Hirnsysteme organisiert das Zeichen zunächst das Verhältnis zwischen zwei Menschen (Mensch1 → Zeichen → Mensch2) und wird später zum Mittel der Selbstregulation (Mensch1 → Zeichen → Mensch1). Wygotski betonte das Primat des sozialen Prozesses vor dem der individuellen Entwicklung; er formulierte als "grundlegendes Gesetz der Entwicklung des Psychischen, dass alle höheren psychischen Funktionen in zweifacher Form auftauchen, zunächst interindividuell, dann intraindividuell."[3]

In seinem weiteren Wirken lieferte Wygotski auch viele Beiträge zur Pädologie (Lehre der Entwicklung und des Wachstum des Kindes) und Entwicklungspsychologie, insbesondere die Theorie der „Zone der nächsten Entwicklung“. Diese übten in jüngeren Jahren einen starken Einfluss auf neuere lehr-lern-theoretische Ansätze nordamerikanischer Prägung aus, die unter dem Begriff sozialer Konstruktivismus zusammengefasst werden. Im Gegensatz zum individuellen Konstruktivismus spielt dabei die soziale Interaktion zwischen Lernenden bzw. zwischen Lernenden und Lehrenden eine hervorgehobene Rolle, da alles menschliche Wissen als letztlich sozial konstruiertes Wissen verstanden wird.

Wygotski war auch einer der frühesten und ausdrücklicher Befürworter einer integrativen Beschulung Behinderter. "Die soziale Erziehung stellt für die schwer zurückgebliebenen Kinder den einzig gangbaren und wissenschaftlich vertretbaren Weg dar. Mehr noch, sie allein ist fähig, die wegen eines biologischen Defektes nicht vorhandenen Funktionen herauszubilden. Nur die soziale Erziehung kann (...) das schwer zurückgebliebene Kind durch den Prozess der Menschwerdung führen." [4] und "Die Blindheit als psychologischer Fakt ist keineswegs ein Unglück. Sie wird erst als sozialer Fakt zu einem solchen." [5]

Zitate

"Alle höheren psychischen Funktionen, eingeschlossen das Sprechen und begriffliche Denken, haben einen sozialen Ursprung. Sie entstehen als Mittel zur gegenseitigen Hilfeleistung und werden schrittweise Teil des alltäglichen Verhaltens eines Menschen."[6]

"Ursprünglich ist das Sprechen des Kindes also rein sozial; es sozialisiert zu nennen wäre falsch, weil damit die Vorstellung von etwas ursprünglich nicht Sozialem verbunden ist, das erst im Prozess seiner Veränderung und Entwicklung sozial würde."[7]

"Die psychologische Forschung zeigt, dass die Kunst der wichtigste Knotenpunkt aller biologischen und sozialen Prozesse der Persönlichkeit in der Gesellschaft ist, dass sie ein Verfahren ist, den Menschen in den kritischen und schwierigsten Minuten seines Lebens mit der Welt ins Gleichgewicht zu setzen. (...) Da im Plan der Zukunft ja zweifellos nicht nur die Um- und Neugestaltung der ganzen Prozesse, sonder auch die 'Umschmelzung des Menschen' enthalten ist, wird sich mit Sicherheit auch die Rolle der Kunst verändern. (...) Ohne neue Kunst wird es auch keinen neuen Menschen geben." [8]

Veröffentlichungen

  • Psychologie der Kunst. Übersetzt von Helmuth Barth. Verlag der Kunst, Dresden 1976.
  • Denken und Sprechen. Herausgegeben von Johannes Helm und eingeleitet von Thomas Luckmann. Aus dem Russischen übersetzt von Gerhard Sewekow. Russische Originalausgabe 1934 u. deutschsprachige Ausgabe Akademie-Verlag, Berlin 1964 u. (gekürzt): Fischer, Frankfurt am Main 1977 ISBN 3-596-26350-6
  • Denken und Sprechen. Vollständige Neuübersetzung von Georg Rückriem und Joachim Lompscher, Beltz-Verlag, Weinheim 2002 ISBN 3407221258
  • Ausgewählte Schriften. Band 1: Arbeiten zu theoretischen und methodologischen Problemen der Psychologie. Pahl-Rugenstein, Köln 1985 ISBN 3760909736
  • Ausgewählte Schriften. Band 2. Pahl-Rugenstein, Köln 1987 ISBN 3760909744

Literatur

  • Peter Keiler: Lev Vygotskij - ein Leben für die Psychologie. Eine Einführung in sein Werk., Beltz-Verlag, Weinheim 2002 ISBN 3407221266
  • Gisbert Keseling: Sprache als Abbild und Werkzeug. Ansätze zu einer Sprachtheorie auf der Grundlage der kulturhistorischen Psychologie der Vygotskij-Schule. Pahl-Rugenstein, Köln 1979 ISBN 3760904823
  • Carlos Kölbl: Die Psychologie der kulturhistorischen Schule. Vygotskij, Lurija, Leont’ev, Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen 2006 ISBN 3525450303
  • Dimitris Papadopoulos: Lew S. Wygotski - Werk und Wirkung, Campus Verlag, Frankfurt am Main 1999 ISBN 3593363550

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Keiler, Peter: Lev Vygotskij - ein Leben für die Psychologie; Beltz Verlag, 2002, S. 18
  2. Keiler, Peter: Lev Vygotskij - ein Leben für die Psychologie; Beltz Verlag, 2002, S. 17
  3. Wolfgang Jantzen, Am Anfang war der Sinn: zur Naturgeschichte, Psychologie und Philosophie von Tätigkeit, Sinn und Dialog. Verlag des Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Marburg, 1994, ISBN 3-924684-44-8, S. 170
  4. Keiler, Peter: Lev Vygotskij - ein Leben für die Psychologie; Beltz Verlag, 2002, S. 244
  5. Wygotski, L.: Zur Psychologie und Pädagogik der kindlichen Defektivität. in: Die Sonderschule, 20. Heft 2, S. 69
  6. Lew S. Vygotskij: Denken bei Schizophrenie. S. 12.
  7. Lew S. Vygotskij: Denken und Sprechen, S. 94.
  8. Wygotski, L.: Psychologie der Kunst; VEB Verlag der Kunst, Dresden, 1976, S. 295

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