Antideutsche

Antideutsche

Antideutsche sind eine aus verschiedenen Teilen der radikalen Linken hervorgegangene Strömung. Antideutsche wenden sich nach eigener Überzeugung gegen einen spezifisch deutschen Nationalismus, der im Zuge der so genannten deutschen Wiedervereinigung erstarkt sei. Weitere antideutsche Positionen sind Proisraelismus und Gegnerschaft zum Antizionismus, Antiamerikanismus und Antiimperialismus. Diese führten und führen zu heftigen Kontroversen innerhalb des linken Lagers.

Inhaltsverzeichnis

Begriffsgeschichte

Markus Mohr und Sebastian Haunss gehen bei der Analyse der Begriffsgeschichte des Wortes „antideutsch“ auf „mehr oder minder explizit antideutsch motivierte Ideen und Gedanken“ zurück. So habe 1844 Karl Marx in seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie den „Krieg den deutschen Zuständen! Allerdings!“ gefordert. Antideutsche Ideen habe auch Sebastian Haffner in den 1930er Jahren in seinen Büchern Germany: Jekyll & Hyde und Geschichte eines Deutschen entwickelt. Robert Vansittart, 1. Baron Vansittart habe allen Deutschen eine „pathologische Aggressivität“ unterstellt und sie als „die Störenfriede der Zivilisation seit Tacitus“ bezeichnet.[1]

In der Neuen Linken taucht erstmals auf der Titelseite des linksradikalen Untergrundblattes 883 aus Berlin in der 27. Ausgabe vom 14. August 1969 die Formulierung „Anti-deutsche Agitation“ auf. Es „scheint dieser Begriff offenbar von der militant-antikommunistisch eingestellten Frontstadtbevölkerung den protestwilligen Studenten entgegen gehalten worden zu sein“, so Mohr und Haunss.[2]

Der Begriff Antideutsche ist vor 1989 noch eine ziemlich diffuse Fremdbezeichnung für die innerdeutsche antipatriotische Bewegung wie auch für die Politik der Alliierten gegenüber Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Seine heutige Prägung erfuhr der Begriff erst sehr viel später, indem er als Selbstbezeichnung von einer spezifischen theoretischen Strömung innerhalb der Linken wieder aufgegriffen wurde.

Historische Entwicklung

Entstehung der antideutschen Strömung

Die heute in der radikalen Linken diskutierten Inhalte des Begriffes antideutsch sind erst zu Beginn des Jahres 1989 in einem Kreis namens Radikale Linke markant geworden. Gebildet hat sich dieser Kreis im „Umfeld von in der Grünen Partei pleite gegangenen linken Grünen, Trotzkisten, Mitgliedern des Kommunistischen Bundes, der Zeitschrift konkret und anderen linksradikalen Gruppierungen […]. Aus diesem Kreis, an dem auch Autonome der unterschiedlichsten Couleur beteiligt waren, wurde nach dem Fall der Mauer wesentlich eine Kampagne unter dem Motto ‚Nie wieder Deutschland‘ vorangetrieben.“[3] Als wesentlichster organisatorischer Vorgänger der Antideutschen gilt dabei der Kommunistische Bund.[4] Hintergrund war der Zusammenbruch des Realsozialismus Ende der 1980er Jahre und die darauf folgende deutsche Wiedervereinigung. Die Befürchtung eines Wiedererstarkens des deutschen Nationalismus sahen nicht nur die Antideutschen und traditionellen Antiimperialisten in den frühen 90er Jahren durch zahlreiche Fälle von Gewalt gegen Nichtdeutsche bestätigt, so u. a. durch den Pogrom von Rostock-Lichtenhagen und den Mordanschlag auf die Solinger Familie Genç. Neben diesen Ausbrüchen xenophob und nationalistisch motivierter Gewalt in der deutschen Bevölkerung wurde auf der politischen Linken die Zunahme staatlicher Repression gegen Migranten kritisiert, so etwa die im Zuge der Neuregelung des Ayslrechtes 1993 beschlossene Abschaffung des zuvor grundgesetzlich garantierten individuellen Rechts auf Asyl und Einschränkung der Asylgewährung durch eine Zweidrittelmehrheit aus CDU, CSU, FDP und SPD im Bundestag (→ Asylkompromiss).

Die sich herausbildende antideutsche Strömung konzentrierte ihre Aufmerksamkeit ursprünglich stark auf die mögliche Gefährdung Polens und Frankreichs durch deutsches Großmachtstreben. Das Deutsche Reich, so wurde befürchtet, könne wieder auferstehen, Polen gegenüber territoriale Ansprüche erheben und in Frankreich Volksgruppenpolitik betreiben, die auf eine Abspaltung der Bretonen, Elsässer und anderer regionaler Sprachgruppen ziele.

Während solche Befürchtungen von weiten Teilen der antiimperialistischen und autonomen Linken geteilt wurden, sorgte die Befürwortung des zweiten Golfkriegs von 1991 gegen den Irak erstmals für massive Zerwürfnisse. Eine Hauptrolle spielte hierbei die Hamburger Zeitschrift konkret, deren Herausgeber Hermann L. Gremliza sich aus Gründen der Israelsolidarität für den von der Regierung Kohl finanziell unterstützten Krieg aussprach. Noch weiter ging der antideutsche Vordenker Wolfgang Pohrt, der in Ausgabe 03/91 von Gremlizas Zeitschrift für den Verteidigungsfall Israels den Einsatz israelischer Kernwaffen gegen Bagdad empfahl, autonomen Anhängern der Parole „Kein Blut für Öl“ völkisches Denken vorwarf und sie mit der Hitlerjugend oder dem Werwolf verglich.[5]

Den Krieg gegen Jugoslawien im Frühjahr 1999 lehnten die Antideutschen mehrheitlich ebenso ab wie der größte Teil der Linken. Die Antideutschen beurteilten ihn als Wiederholung der Konstellation des Zweiten Weltkrieges, in dem Jugoslawien Opfer deutscher Aggression geworden war. Daraus leiteten sie die Forderung nach „bedingungsloser“ Solidarität mit dem Regime von Slobodan Milošević ab, während viele andere linke und pazifistische Strömungen auch die Taten der serbischen Seite kritisierten. Dies führte zum Bruch zwischen Antideutschen und den sogenannten Antinationalen.[6]

Gleichzeitig passte die massive Kriegsbeteiligung der früheren Westalliierten nicht zu dem von den Antideutschen gezeichneten Bild. Diese erklärten das Verhalten der USA damit, diese hätten sich nicht aus freien Stücken für den Krieg entschieden, sondern seien von Deutschland in diesen hineingetrieben worden. Zu dieser Argumentation gehörte auch eine entsprechend hoch angesetzte Einschätzung der weltpolitischen Machtstellung Deutschlands. So schrieb die Jungle World, die USA seien die einzig verbliebene Macht, die in der Lage sei, „Deutschland die Stirn zu bieten“.

Nach der Al-Aqsa-Intifada

Nach Beginn der zweiten Intifada in Israel/Palästina kam es zu einer schroffen Polarisierung zwischen den eher traditionellen Linken auf der einen und den nunmehr als eigenständige Strömung erkennbaren Antideutschen auf der anderen Seite. Seitdem steht die vorbehaltlose Solidarität mit dem Staat Israel und die scharfe Kritik an antizionistischen Haltungen im Vordergrund des antideutschen Selbstverständnisses. Die Anschläge vom 11. September 2001 führten darüber hinaus zu einer vehementen Zurückweisung von einzelnen Theorie-Elementen des Antiimperialismus[7] sowie antiamerikanischer Tendenzen innerhalb der Linken.

Positionen

Vertreter der Positionen

Folgende Positionen werden zwar nicht von allen antideutschen Gruppen in gleichem Maße geteilt, haben aber durch bekanntere antideutsche Gruppen wie Bahamas oder ISF einen starken Bekanntheitsgrad erlangt und werden oft allgemein mit „antideutschen Positionen“ gleichgesetzt. Besonders radikale Vertreter der Antideutschen gruppieren sich um die Berliner Zeitschrift Bahamas und die Freiburger Initiative Sozialistisches Forum.[8] Gemäßigtere antideutsche Positionen, die aus Debatten in der antinationalen Bewegung und Teilen der undogmatischen Linken hervorgehen, orientieren sich unter anderem lose an Zeitschriften wie der Phase 2. Die Wochenzeitung Jungle World, das Internetportal Indymedia und die Monatszeitung konkret lassen neben Antideutschen auch Nicht-Antideutsche bzw. Kritiker der Antideutschen zu Wort kommen. Dies führte zu deutlicher Kritik von Antideutschen und es wurde z. B. von der Bahamas mindestens ein Abschalten von Indymedia gefordert.[9] Gelegentlich schreiben Antideutsche auch für Medien wie Die Welt.[10]

Antisemitismus, Israel und Deutschland

Antideutsche sehen das Dasein von Juden in aller Welt und insbesondere im Staat Israel von verschiedenen Seiten bedroht – sowohl durch das Fortbestehen einer Ideologie der Volksgemeinschaft in den westlichen Ländern und insbesondere in Deutschland („Postfaschismus“) als auch durch die Ignoranz der europäischen Regierungen gegenüber dem erstarkenden Antisemitismus in der EU und in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Besonders der virulente Antisemitismus in vielen islamischen Ländern sei ein nicht zu unterschätzender Angriff auf das Existenzrecht Israels und Bestandteil einer „Antisemitischen Internationale“.

Der deutsche Faschismus sei dabei das ideologische Vorbild dieser „islamfaschistischen“ Bewegungen, die, in angeblicher Ähnlichkeit zu den Nationalsozialisten, von dem Gedanken einer weltweiten jüdisch-amerikanischen Verschwörung wie auch von einer völkisch-nationalen Blut-und-Boden-Ideologie geprägt seien.[11] Der Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 und zahlreiche Anschläge auf Synagogen und jüdische Menschen weltweit seien Alarmzeichen für den unverändert starken antisemitischen Vernichtungswillen in allen Teilen der Welt.

Bedingungslose Solidarität mit Israel

Aus dieser Analyse folgt für Antideutsche die Forderung nach bedingungsloser Solidarität mit Israel, welches als Staat der Holocaust-Überlebenden eine notwendige Zuflucht für verfolgte Juden aller Länder bilde. Diese grundsätzliche „Israel-Solidarität“ beinhaltet bei vielen Antideutschen auch die volle Unterstützung für die konkreten politischen und militärischen Maßnahmen der jeweiligen israelischen Regierungen. Israel habe als Opfer beständiger Aggression durch palästinensische Organisationen das Recht, sich mit Maßnahmen wie Kontrollen, Sicherungsanlagen und gezielten Tötungen zu verteidigen. Ein sich in fortwährendem Bedrohungszustand befindendes Israel dafür zu kritisieren, dass es seine Selbstverteidigung aktiv, und sofern notwendig auch präventiv, betreibt, laufe darauf hinaus, seine Vernichtung in Kauf zu nehmen. Solidarität, die über Lippenbekenntnisse hinausgehen wolle, könne daher nur bedingungslos sein.

Um eine pauschale Affirmation jedweden Handelns der israelischen Politik zu vermeiden, befürworten einige prominente Vordenker der antideutschen Linken eine nähere Bestimmung der Solidarität mit Israel. So entwickelte Stephan Grigat den „zionistischen kategorischen Imperativ“ als Maßstab für die Solidarisierung, die nur solche Aktionen umfasse, die dazu beitragen, „die Möglichkeiten reagierender und präventiver Selbstverteidigung“ des Staates Israel aufrechtzuerhalten.[12]

Kapitalismus

Obwohl sich Antideutsche selbst als Gegner des Kapitalismus und meist als Kommunisten bezeichnen, kritisieren sie einige Formen des Antikapitalismus als Ausdruck eines versteckten strukturellen Antisemitismus. Damit wird insbesondere gegen die globalisierungskritische Bewegung, darunter Attac, Stellung bezogen. Die von dieser Bewegung vertretene Forderung nach einer Regulierung der Finanzmärkte (z. B. durch die Tobin-Steuer) argumentiert nach Meinung vieler Antideutscher mit einer problematischen Unterscheidung zwischen „schaffendem“ und „raffendem“ Kapital, die wesentlich von den Nationalsozialisten geprägt wurde und implizit – auch dort, wo sie nicht entsprechend ausformuliert werde – auf das Stereotyp des „Geldjuden“ verweise. Ebenfalls wird die Kritik von sozialen Organisationen an sozialen Kürzungen im Zusammenhang der Agenda 2010 von Antideutschen abgelehnt und als antisemitisch und völkisch deklariert. Regional kam es teils auch zu Versuchen von Antideutschen, entsprechende Proteste gegen Sozialabbau, z. B. durch das Zerstören von Plakaten, zu verhindern.[13]

Seit den späten 90ern gibt es eine Positionsverschiebung insbesondere bei der antideutschen Zeitschrift Bahamas. Es werden Sympathien für das neoliberale Gesellschaftsmodell bekundet, insbesondere wird gelobt, dass es dort (laut Sicht der Bahamas) keine Befürwortung des Gemeinnutzes vor dem Eigennutz gebe. Der deutsch-französische „rheinische Kapitalismus“ wird hingegen als, aus Bahamas-Sicht, „kollektivistisch“ abgelehnt.[14]

Kritik und Kontroverse

Aufgrund ihrer Positionen, die teilweise in diametralem Gegensatz zur traditionellen Linken stehen, sind die Antideutschen Gegenstand beständiger heftiger Kontroversen. Zudem sind auch innerhalb der Strömung Zerwürfnisse und Spaltungen keine Seltenheit, wobei diese i. d. R. unter häufigem Einsatz von Antisemitismusvorwürfen[15] ausgetragen werden.

Die im Folgenden referierte oder zitierte Kritik stammt überwiegend von Vertretern der radikalen Linken. Dies liegt in erster Linie daran, dass es sich bei der Kontroverse um antideutsche Positionen ganz überwiegend um eine innerlinke Auseinandersetzung handelt. Einige der genannten Autoren waren für die Entstehung einzelner antideutscher Politikkonzepte selbst prägend. Die meisten Stellungnahmen entstammen dem von Gerhard Hanloser herausgegebenen Sammelband Sie warn die Antideutschesten der deutschen Linken (siehe Literatur).

Kern der Kritik ist, dass man eine Wendung der Antideutschen nach rechts bzw. eine „Rückkehr in die bürgerliche Wertegemeinschaft“ unter Aufgabe aller linken Essentials feststellt.

Israel als Projektionsfläche

Scharfe Kritik an „solidarisierungswütigen Israel-Freunden“ übt der israelische Soziologe Moshe Zuckermann. In einem Beitrag Was heißt: Solidarität mit Israel? kritisiert er den ideologischen Blick auf Israel seitens der Antideutschen. Diese missbrauchten Israel als „pure Projektionsfläche für eigene Befindlichkeiten“. Ihre „bedingungslose Solidarität“ sei eine Farce, „die die reale Tragödie in eine Narrenposse verwandelt“.

Stattdessen fordert er, die israelische Gesellschaft in ihrer geschichtlichen, politischen, sozialen und gesellschaftlichen Komplexität und Heterogenität wahrzunehmen. „Ideologisch durchwirkte Abstraktionen“ seien kontraproduktiv. „Besonders unappetitlich“ seien sie, so Zuckermann über das Israel-Bild der Antideutschen, wenn sie aus Deutschland kämen und die Juden beträfen.[16]

Relativierung der Geschichte

Wolf Wetzel und Ulrich Enderwitz kritisieren die Gleichsetzung der geschichtlichen Konstellation von 1945 mit der heutigen internationalen Situation. Die Befreier von 1945 könnten heute nicht die gleichen antifaschistischen Positionen geltend machen. Antideutschen wird vorgeworfen, mit dieser Relativierung der Geschichte einen „imperialistischen“ Krieg gegen den Irak einerseits zu legitimieren und andererseits Widersprüche des postfaschistischen deutschen Subjekts auf ein Ersatzobjekt zu projizieren.

Das Konzept des Islamfaschismus stößt auch bei Antirassisten auf Unmut, nicht zuletzt weil sich manche antideutsche Islamkritik inhaltlich den Positionen populistischer oder xenophober Bewegungen wie der Liste Pim Fortuyn oder des Vlaams Blok annähere. Die Redaktion der Bahamas hat der holländischen Gesellschaft vorgeworfen, den später ermordeten Pim Fortuyn aus einer multikulturellen Haltung heraus stigmatisiert zu haben, anstatt mit ihm zu diskutieren. Fortuyns „in vieler Hinsicht sehr unangenehm(e)“ Ansichten hat die Redaktion gegen Vorwürfe, faschistisch oder rassistisch zu sein, in Schutz genommen.[17] Allgemein wird am Begriff des „Islamfaschismus“ kritisiert, dass er problematisch sei, weil er zu einer unscharfen Definition des Faschismus führe. Auch wird das Fehlen von Kritik an anderen Religionen kritisiert.

Bejahung des Kapitalismus

Für Gerhard Hanloser entwickelte sich die antideutsche Bewegung aus einer „fehlgeschlagenen Selbstkritik“ von „oftmals nationalistischen und populistischen Linken“ – insbesondere der K-Gruppen – zu einem „affirmative turn“, der die „herrschenden Verhältnisse“ nicht mehr einer „radikalen Kritik“ unterziehe.[18] Er umschreibt diese Haltung mit einem ironischen Motto „Vereinzelt euch, seid stark, individualistisch und konsumistisch, damit auch ihr euch nicht zum deutschen Volksgenossen eignet“. Bahamas-Initiator Bernhard Schmid behauptet vor diesem Hintergrund einen neoliberalen Rechtsruck bei der Bahamas.[19][20]

Der Antisemitismusforscher Enderwitz sieht in aktuellen antideutschen Politikkonzepten den „unternommenen Versuch, unter dem Eindruck des weltweiten Bedrohungsszenariums Gesellschaftskritik durch die obsessive Bornierung auf Faschismus und Antisemitismus in eine Affirmation des Kapitalismus und seiner globalen, alias imperialistischen, Entfaltung umzufunktionieren“.[21]

Robert Kurz sieht die Grundlage der Bejahung der kapitalistischen Gesellschaft vor allem in der Verurteilung jeglicher sozialer Bewegungen insbesondere in Deutschland durch Abstempelung dieser Bewegungen als „Volksbewegungen“, was in antideutschen Kreisen oft als Synonym für Völkische Bewegungen gebraucht wird. Auch würden Antideutsche, so Kurz, eine unrealistische Forderung nach „vermittlungsloser Feindschaft“ zum Kapitalverhältnis vertreten.[22]

Kritikbegriff

Ilse Bindseil[23] kritisiert, dass die Antideutschen sich letztlich nicht mit den Konsequenzen von Auschwitz für die deutsche Gesellschaft und für die eigene Biographie beschäftigten. Sie sieht im moralischen Sektierertum der Antideutschen die „Suche nach Flucht in die Unschuld“ der Nach-68er, die erkennen mussten, dass der Bruch mit der Generation sie nicht vor den Zuständen der „postfaschistischen Gesellschaft“ schütze. Statt der Komplexität von Themen wie Auschwitz gerecht zu werden, bestehe in diesem Teil der Gesellschaft der Hang zu unterkomplexen Reflexions- und Handlungsschemata, die letztlich vom Ausgangsproblem ablenkten und dieses nicht mehr transparent erscheinen ließen. „Das Böse musste her, damit der Riss in der Biographie gekittet werden konnte“ (Ilse Bindseil).

Gerhard Hanloser bemängelt, hieran anknüpfend, eine „Kritische Kritik“, wie Karl Marx sie in Bezug auf Bruno Bauer als bloß theoretisierende, nicht aber praktische Kritik bekämpfte. Diese „Kritische Kritik“ sei letztlich, so Hanloser, nur eine „Selbstbespiegelung vermeintlich kritischer Geister“. Kritik verkomme so als „Habitus“ und setze sich mit „Denunziation“ und „Polemik“ gleich, wie sich auch im oft unsachlichen Stil antideutscher Publikationen widerspiegele.[24]

Denkmuster

Der Wertkritiker Robert Kurz kritisiert in seinem Buch Die antideutsche Ideologie sowie in mehreren seiner Aufsätze, dass die binäre Weltsicht, mit der Antideutsche nach seiner Auffassung die Welt erklären (meist nach dem Muster „barbarisch“ vs. „aufklärerisch“), vom binären Gut-Böse-Schema des von ihnen bekämpften Antiimperialismus strukturell kaum zu unterscheiden sei. So würde das Modell beispielsweise für die Erklärung des „Dritten Reiches“ versagen, da es übersehe, dass die „barbarische“ Bewegung des Nationalsozialismus in der Form der industriellen Massenvernichtung von Menschen ohne die Grundlage der Zivilisation und der technischen Rationalität nicht denkbar gewesen sei.

Gleichzeitig würden, so Kurz, Antideutsche sich selbst in jenen Denkstrukturen bewegen, die sie selbst bei anderen als „deutsch“ bezeichneten. Statt sich tatsächlich an das Individuum zu wenden und den Massenansatz folgerichtig abzulehnen, werde gerade von Antideutschen bevorzugt in Kategorien von Nationen, Rassen und Volksgemeinschaften gedacht.

Einschätzung des Verfassungsschutzes

Der Verfassungsschutzbericht 2006 meint, dass die Antideutschen aufgrund teilweise verschiedener ideologischer Ausprägungen des antideutschen Spektrums kein einheitlicher Block seien. Als Gemeinsamkeit nennt er das Bekenntnis zu „bedingungslose[r] Solidarität mit der Politik Israels und dem jüdischen Volk“. Dies schließe die „Befürwortung aller Maßnahmen ein, die geeignet erscheinen, den Bestand des Staates Israel als einzigen Schutzraum der Holocaustüberlebenden zu sichern. Da die USA als einziger ‚ehrlicher‘ Verbündeter Israels gesehen würden, wendeten sich Teile der Antideutschen gegen jede Form des Antiamerikanismus.“[25]

Der Verfassungsschutzbericht 2008 konstatiert:

Den Höhepunkt ihres Einflusses auf den traditionellen Linksextremismus hat die „antideutsche“ Strömung inzwischen überschritten. Ihr wird in der Szene kaum noch Aufmerksamkeit entgegengebracht.[26]

Im Bericht des Folgejahres werden Antideutsche nicht mehr erwähnt.[27]

Einzelnachweise

  1. Markus Mohr, Sebastian Haunss: Die Autonomen und die anti-deutsche Frage oder: »Deutschland muss …«. In: Gerhard Hanloser (Hrsg.): „Sie warn die Antideutschesten der deutschen Linken“. Zu Geschichte, Kritik und Zukunft antideutscher Politik., S. 65.
  2. Markus Mohr, Sebastian Haunss: Die Autonomen und die anti-deutsche Frage oder: »Deutschland muss …«, S. 66.
  3. M. Mohr/S. Haunss: Die Autonomen und die anti-deutsche Frage oder: »Deutschland muss…«, S. 69.
  4. Patrick Hagen: Die Antideutschen und die Debatte über Israel 2004, 2.1. „Vorgänger und Vordenker“.
  5. M. Mohr/S. Haunss: Die Autonomen und die anti-deutsche Frage oder: »Deutschland muss…«, S. 71.
  6. Patrick Hagen: Die Antideutschen und die Debatte über Israel 2004, 3.4. „Der Kosovo-Krieg – antinational vs. antideutsch“.
  7. Jan Gerber: Von Lenin zu Al Qaida. Kleine Geschichte des Antiimperialismus, in: Prodomo, abgerufen am 2. September 2011.
  8. Patrick Hagen: Die Antideutschen und die Debatte über Israel 2004, Einleitung:
  9. Vgl. Indymedia (2003): „Indymedia abschalten!“
  10. Deutsche Welle (25. August 2006): Strange Bedfellows: Radical Leftists for Bush
  11. Die arabischen Radioprogramme der Nazis – Jeffrey Herf: „Nazi Propaganda for the Arab World“ (Buchbesprechung)
  12. Interview von Ralf Fischer mit Stephan Grigat vom Dezember 2004. Siehe auch: Stephan Grigat: „Projektion“ – „Überidentifikation“ – „Philozionismus“. Der Vorwurf des Philosemitismus an die antideutsche Linke
  13. Vgl. Indymedia (2004): Berlin AANO zerstört Poster gegen Sozialabbau
  14. Vgl. Gerhard Hanloser: Antikollektivismus. Der neue Geist „linker“ Sozialstaatskritik
  15. Beispiel: Alfred Schobert: Linke Bellizisten auf Gespensterjagd. Militärpolitische Normalisierung mit Antisemitismus- und Antiamerikanismus-Vorwürfen. In: graswurzelrevolution 266, Februar 2002.
  16. Moshe Zuckermann: Was heißt: Solidarität mit Israel? In: Gerhard Hanloser (Hrsg.): „Sie waren die Antideutschesten der deutschen Linken“. Zu Geschichte, Kritik und Zukunft antideutscher Politik.
  17. Redaktion Bahamas (12. November 2004): In memoriam Theo van Gogh
  18. Gerhard Hanloser (Hrsg.): „Sie warn die Antideutschesten der deutschen Linken“. Zu Geschichte, Kritik und Zukunft antideutscher Politik. Unrast, Münster 2004.
  19. Bernhard Schmid in: Gerhard Hanloser (Hrsg.): „Sie warn die Antideutschesten der deutschen Linken“. Zu Geschichte, Kritik und Zukunft antideutscher Politik. Unrast, Münster 2004.
  20. Vgl. auch Bernhard Schmid: Der Krieg und die Kritiker. Die Realität im Nahen Osten als Projektionsfläche für Antideutsche, Antiimperialisten, Antisemiten und andere. Unrast Verlag, Münster 2006, ISBN 978-3-89771-029-0.
  21. Ulrich Enderwitz: Konsum, Terror und Gesellschaftskritik. Eine Tour d’horizon
  22. Robert Kurz: Die antideutsche Ideologie. Vom Antifaschismus zum Krisenimperialismus: Kritik des neuesten linksdeutschen Sektenwesens in seinen theoretischen Propheten.
  23. Ilse Bindseil: Sektiererische Reflexion und korrektes Denken. Versuch einer philosophischen Identifikation (PDF)
  24. Gerhard Hanloser (Hrsg.): „Sie warn die Antideutschesten der deutschen Linken“. Zu Geschichte, Kritik und Zukunft antideutscher Politik, S. 8.
  25. Verfassungsschutzbericht 2006, S. 164 ff.
  26. Vgl. Verfassungsschutzbericht 2008, S. 157.
  27. Vgl. Verfassungsschutzbericht 2009

Literatur

Antideutsche Texte

Texte über die Antideutschen

  • Ulrich Enderwitz: Konsum, Terror und Gesellschaftskritik. Eine Tour d’horizon. Unrast, Münster 2005, ISBN 3-89771-437-X
  • Gerhard Hanloser (Hrsg.): „Sie warn die Antideutschesten der deutschen Linken“. Zu Geschichte, Kritik und Zukunft antideutscher Politik. Unrast, Münster 2004, ISBN 3-89771-432-9
  • Robert Kurz: Die antideutsche Ideologie. Vom Antifaschismus zum Krisenimperialismus: Kritik des neuesten linksdeutschen Sektenwesens in seinen theoretischen Propheten. Unrast, Münster 2003, ISBN 3-89771-426-4
  • Wolf Wetzel: Antideutsche Kriegsführung. Ein Lehrgang für AnfängerInnen und Fortgeschrittene In: Krieg ist Frieden. Über Bagdad, Srebrenica, Genua, Kabul nach …, Unrast, Münster 2002, ISBN 3-89771-419-1 (gekürzte Online-Fassung)

Weblinks


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