Luftkrankheit

Luftkrankheit

Reise- oder Bewegungskrankheit (fachsprachlich Kinetose von griechisch κινειν / kinein = bewegen) nennt man die körperlichen Reaktionen wie Blässe, Schwindel, Kopfschmerz, Übelkeit und Erbrechen, die durch ungewohnte Bewegungen etwa in einem Verkehrsmittel oder in einem Wolkenkratzer ohne ausreichende Schwingungstilgung ausgelöst werden können. Seekrankheit, Luftkrankheit, Raumkrankheit, oder die Landkrankheit von Seeleuten auf Landgang sind bekannte Varianten. Passive Bewegung in Reisebussen, Autos, Zügen mit Neigetechnik, Flugzeugen, Achterbahnen kann ebenso gut die Symptome hervorrufen. Charakteristisch ist, dass die Lenker des jeweiligen Fahrzeugs so gut wie nie von Reisekrankheit geplagt sind. Auch in Fahr- und Flugsimulatoren und Erlebniskinos kann es zum Auftreten derselben Symptome kommen. Diese Form der Kinetose wird als Simulator Sickness (Simulatorkrankheit) bezeichnet. Relativ neu sind Erkrankungsfälle unter Computerspielern. Die Symptome verschwinden in den allermeisten Fällen, sobald die Bewegung aufhört, spätestens nach zwei bis drei Tagen, auch ohne Behandlung.

Inhaltsverzeichnis

Symptome

Im Vorstadium empfindet der Betroffene leichtes Unwohlsein, leichtes Frösteln, kalten Schweiß und ein leicht drückendes Gefühl in der Magengegend. Er wirkt müde bis schläfrig und desinteressiert, reagiert langsamer, spricht weniger, ist etwas blass im Gesicht. Im Blut steigen die Stresshormone. Bei zunehmender Reisekrankheit entstehen kalter Schweißausbruch, Gähnen, Müdigkeit, Schläfrigkeit, Abgeschlagenheit, geistige Leere, Arbeitsunlust, Desinteresse bis hin zur Lethargie, Kopfschmerzen, Schwindel, Zwangsschlucken, Brechreiz, Sodbrennen und Erbrechen (Reverse Peristaltik). Sowohl Rötung als auch Blässe und kalter Schweiß im Gesicht (infolge des gesteigerten Tonus der parasympathischen Anteile des vegetativen Nervensystems) können folgen. Erbrechen bringt nur kurze Erleichterung. Die Magen-Darm-Funktionen sind reduziert. Blutuntersuchungen zeigen, dass Stresshormone und ADH ausgeschüttet werden. Die wellenförmig an- und abschwellenden Beschwerden können tagelang anhalten. Schwere Seekrankheit ist begleitet von extremem Unwohlsein, Erbrechen bis zur völligen Magenleere (und bei längerem Anhalten des Erbrechens Dehydrierung), schwerer Depression und dem Gefühl, am liebsten sterben zu wollen. In besonders schweren Fällen müssen Patienten sogar festgebunden werden, damit sie nicht über Bord springen. In seltenen Fällen kann Reisekrankheit bei Menschen mit Herz-Kreislauf-Beschwerden zum Tod führen.

Anfälligkeit

Jeder Mensch kann in jeder Phase seines Lebens von Reisekrankheit betroffen sein. Auch Seeleute, die ein Leben lang unbehelligt zur See gefahren sind, können plötzlich seekrank werden. Die alltägliche Erfahrung zeigt, dass Intensität, Frequenz, und Dauer der passiven Bewegung für die Entwicklung der Reisekrankheit wesentlich sind. Studien zufolge variiert die Reaktion außerdem mit der Hauptbewegungsachse (vertikale Bewegungen werden schlechter vertragen als horizontale) und der Position der Versuchspersonen (sitzend, liegend etc.). Obwohl die individuelle Neigung zur Reisekrankheit sehr unterschiedlich ausfällt, lassen sich durch entsprechend harte Versuchsbedingungen bei jedem Menschen mit gesundem Gleichgewichtsorgan Symptome auslösen. Interessant ist die Vermutung von Shepard[1], dass unempfindliche Menschen eine geringere Ausprägung des α2-Adrenozeptors aufweisen. Die Anfälligkeit ist stark altersabhängig: Kinder unter zwei Jahren sind kaum empfindlich, im Alter von 12 wird ein Maximum erreicht, danach sinkt die Neigung zur Reisekrankheit wieder ab. Frauen sind Erfahrungen der NASA zufolge nicht empfindlicher als Männer. Psychologische Faktoren wie die Introversion und Streßtoleranz der Versuchspersonen wirkten sich relativ schwach aus.

Mindestens 50 % der Militärpiloten werden während der Ausbildung luftkrank; anderes fliegendes Personal auch später im Berufsleben. Flugsimulatoren verursachen Symptome bei 10-60 % der Flugschüler, im militärischen Kontext bis zu 88 %. Nur ein kleiner Prozentsatz (3-11 %) bricht die Ausbildung deshalb ab. Auf Schiffen schwankt die Inzidenz der Erkrankung je nach Situation zwischen 1 und 100 %. Härteste Bedingungen herrschen z.B. in fensterlosen Freifallrettungsbooten. Auf großen Wasserfahrzeugen sind Personen an Bug und Heck stärker betroffen. Virtuelle Realität konnte einer Studie [2] zufolge in 61 % der Teilnehmer Reisekrankheit hervorrufen. Raumkrankheit wird übereinstimmend in russischen und amerikanischen Weltraumprogrammen bei 30 - 67 % der Astro- bzw. Kosmonauten beobachtet; seltener nur bei den jeweiligen Piloten. Passagiere in Pkw sollen zu ca. 20 % betroffen sein; die Datenlage ist hier jedoch schwach.

Ursachen

Der herrschenden Meinung zufolge entsteht die Reisekrankheit, wenn die Sinnesorgane widersprüchliche Informationen zur räumlichen Lage und Bewegung des Körpers liefern. Andauernde Widersprüche zwischen der so erfahrenen Bewegung und Lage des eigenen Körpers sollen ein Fehlersignal im Hirnstamm auslösen. Offenbar kann das Gehirn sich adaptieren, denn nach zwei bis drei Tagen lassen die Symptome bei den meisten Menschen nach. Die afferenten Bahnen kommen dabei von den Augen, vom Innenohr, und von den Mechanorezeptoren in Muskeln und Gelenken. Widersprüche gibt es entweder zwischen dem Seheindruck und dem Lagesinn des Innenohrs (visuell-vestibularer Konflikt), oder innerhalb des Innenohrs zwischen den Bogengängen und den Beschleunigungssensoren (Kanal-Otolith-Konflikt). Die Seekrankheit auf einem Schiff würde in die erste Kategorie fallen; die zweite Art von Konflikten soll etwa in Achterbahnen oder Kampfflugzeugen zum Tragen kommen. Beispielsweise würde während einer kontinuierlichen passiven Rotation um eine Achse parallel zur Erdoberfläche die Endolymphe in den Bogengängen nach wenigen Sekunden mitrotieren und kein Signal mehr erzeugen, während die Statolithen unverändert beschleunigt werden.

Diese von Guedry[3] und Reason [4] 1970 entwickelte und seither vielfach geprüfte Hypothese erklärt auch ungewöhnliche Varianten wie etwa die Symptome, die schon durch bloßes Ansehen des Videos einer Achterbahnfahrt entstehen können, oder solche, die an die Schwerelosigkeit gewöhnte Astronauten nach der Rückkehr auf die Erde entwickeln. Unklar ist, ob die körperliche Reaktion auf den neural mismatch (etwa: neuraler Versatz) einen biologischen Zweck erfüllt, oder ob das Erbrechen - eigentlich ein Schutzreflex gegen Vergiftung - irrtümlich ausgelöst wird.

Langsame Rotationen (< 0,4 Hz) verursachen wesentlich stärkere Beschwerden als solche > 1 Hz. Viele Studien haben versucht, einzelne Stimuli exakt auszuwerten. So soll auf Schiffen z.B. die Beschleunigung, deren Vorhersehbarkeit, die Periode der Bewegung, Wellenhöhe, Wellenlänge im Verhältnis zur Schiffslänge und das daraus erzeugte Rollen und Stampfen des Schiffes in einen Algorithmus zur Berechnung der Symptomhäufigkeit eingehen [5].

Die Lage des hypothetischen "Fehlerzentrums" im Gehirn, welches die Sinneseindrücke vergleicht und die vegetative Reizung verursacht, ist unklar. Theorien favorisieren die Vestibulariskerne im Mittelhirn und den Flocculus in Kleinhirn. Sicher ist jedoch nur, dass die gesamte Reaktion ohne Beteiligung des Großhirns abläuft. Auch die Chemorezeptoren in der Area postrema, die bei einer Vergiftungsreaktion das Brechzentrum reizen, sind Tierversuchen zufolge bei der Reisekrankheit nicht beteiligt.

Von dem Wiener Allergologen Reinhart Jarisch stammt die Hypothese, dass das biogene Amin Histamin bei der Reisekrankheit eine Rolle spielt[6]. Jarisch propagiert für Betroffene die vorbeugende Einnahme von Vitamin C. Wissenschaftliche Studien hat er dazu bislang nicht vorgelegt.

Vorbeugung

Neuartige Schiffsrümpfe können durch geeignete Formgebung die kritischen 0,1-0,3 Hz Stampfbewegungen verringern. Große Schiffe sind zudem weniger anfällig als kleine. Schiffsstabilisatoren sind ebenfalls nützlich. In Schiffen und Flugzeugen sollte den Passagieren möglichst die Sicht auf den unbeweglichen Horizont ermöglicht werden. Bei ersten Anzeichen scheint es günstig zu sein, sich hinzulegen und die Augen zu schließen. Wenn möglich, sollte der Betroffene das Steuer übernehmen. Tätigkeiten mit konzentriertem Sehen, wie Lesen oder Fernsehen, sollten vermieden werden. Professionelle Pilotenausbildungen beinhalten manchmal systematische Desensitivierungsprogramme mit Stimuli in steigender Intensität.

Behandlung

Medikamente

Unter den verschreibungspflichtigen Medikamenten hat Scopolamin die schnellste Ansprechrate und die beste Wirksamkeit, erkauft durch Nebenwirkungen wie Müdigkeit, Sehstörungen und Mundtrockenheit. Es sind Tabletten, Injektionen, und langzeitwirksame transdermale Pflaster im Handel. Kinder und alte Menschen vertragen Scopolamin schlecht; eine wichtige Kontraindikation ist der grüne Star. Auch manche H1-Antihistaminika wie Dimenhydrinat oder Neuroleptika wie Promethazin haben im Gehirn anticholinerge Wirkungen und Nebenwirkungen, allerdings schwächer als Atropin und Scopolamin. Auch diese Arzneimittel sind für akut Erkrankte in Form von Injektionen verfügbar. Die Droge Amphetamin wurde im Zweiten Weltkrieg an die Soldaten ausgegeben; heute kann Ephedrin in ausgewählten und schweren Fällen eingesetzt werden. Andere Substanzen, die sonst gegen Übelkeit verabreicht werden, wie Metoclopramid und Ondansetron waren gegen die Reisekrankheit bisher nicht erfolgreich.

Rezeptfreie, allerdings apothekenpflichtige Medikamente enthalten meist Dimenhydrinat [7] Neben Tabletten gibt es auch antihistaminhaltige Kaugummis.

Andere Therapien

Ingwerknolle

Ingwer hat eine antiemetische Wirkung. Er wird in Form von kleinen Scheibchen von der rohen Wurzel gekaut, als Pulver oder in Tablettenform eingenommen. Mit der Medikation kann schon am Vortag begonnen werden. Er gilt als nebenwirkungsarm, sollte jedoch von Menschen mit gleichzeitigen Magengeschwüren und Gallensteinleiden nicht verwendet werden. In einer kleinen doppeltblinden Studie, die an 80 Seekadetten durchgeführt wurde, reduzierte Ingwer im Vergleich zu Placebo signifikant das Auftreten von Erbrechen.[8] 1982 erfolgte eine Studie mit Kandidaten auf einem Drehstuhl, mit einer Dosis von 940 mg, 20 bis 25 Minuten vor dem Test, mit erfolgreicher Reduktion von Übelkeit.

Elastische Akupressurbänder haben im Gegensatz zu manueller Akupressur in randomisierten, kontrollierten Studien keine Wirkung gezeigt.

Brillen, die einen künstlichen Horizont erzeugen, indem die Gläser zweiwandig sind und im Zwischenraum etwa zur Hälfte eine Flüssigkeit eingebracht ist[9], zeigen dem Träger die Richtung des Beschleunigungsvektors an. Magnetische Armbänder oder Kupferbänder werden ebenfalls angeboten mit dem Versprechen, Seekrankheit zu reduzieren. Zu keinem dieser Produkte gibt es nachprüfbare Wirkungsnachweise.

Literatur

  • Viktor Dahms: Kotzfibel. Eine Handreichung für den Segler. de exilio 1996. ISBN 3-930760-22-3
  • F. Schmäl, W. Stoll: Kinetosen, in: HNO 2000-48, S. 346–356, Springer-Verlag
  • Hans Scherer: Gleichgewichtssinn: Neues aus Forschung und Klinik, 2007, ISBN 3211754318
  • Benson A: Kapitel 35 "Motion sickness" (PDF), aus: Pandoff KB (Hrsg.): Medical Aspects of Harsh Environments, Bd. 2. United States Government Printing 2002. ISBN 0160511844

Einzelnachweise

  1. Shepard NT, Lockette W, Boismier T. Genetic predisposition to motion sickness. Proc Bárány Soc Meeting. Uppsala. 1994: 52.
  2. Regan EC, Price KR. The frequency of occurrence and severity of side effects of immersion virtual reality. Aviat Space Environ Med. 1994;65:527–530. PMID: 8074626
  3. Guedry FE. Conflicting sensory orientation cues as a factor in motion sickness. In: Fourth Symposium on the Role of the Vestibular Organs in Space Exploration. Washington DC: National Aeronautics and Space Administration; 1970: 45–52. NASA Report SP-187.[1]
  4. Reason JT. Motion sickness: A special case of sensory rearrangement. Adv Sci. 1970;26:386–393. PMID: 5310912
  5. Harald Melwisch: Seekrankheit mathematisch berechnet
  6. R. Jarisch: Histamin-Intoleranz, Histamin und Seekrankheit. Thieme Verlag Stuttgart, 2. Auflage 2004, ISBN 3-13-105382-8
  7. Stiftung Warentest: Mittel gegen Reisekrankheit (rezeptfrei in der Apotheke). 02.07.2004
  8. Grontved et al.:Ginger root against seasickness. A controlled trial on the open sea. Acta Otolaryngol. 1988;105:45–9. PMID 3277342
  9. http://www.pressetext.de/pte.mc?pte=010215064

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