Magna Mater

Magna Mater

Mit Magna Mater, lateinisch, oder Große Mutter, werden die sogenannten Muttergottheiten der Jungsteinzeit (10.000 bis 2.000 v. Chr.) bezeichnet, die es in vielen Kulturkreisen gab und die als Ur- oder Allmutter im Hinblick auf die weibliche Fruchtbarkeit interpretiert worden sind. Sie sind zumeist in kleinen Statuetten mit einer Überbetonung ihrer Brüste und Hüften dargestellt. Umstritten ist, ob die Große Göttin der Jungsteinzeit Ausdruck einer sehr viel älteren Verehrung einer Muttergöttin als Urmutter oder Mutter Erde ist oder aber ihre Verehrung erst infolge der Sesshaftwerdung der Menschen in der Jungsteinzeit entstanden ist. Der Name Magna Mater geht auf die römische Bezeichnung der Mater Deum Magna Ideae im Kybele- und Attiskult zurück, nachdem der Meteorit aus dem anatolischen Pessinus 204/205 v. Chr. nach Rom überführt worden war.

„Göttin“ auf dem Leopardenthron, Darstellung aus Çatalhöyük (Türkei), 8. Jahrtausend v. Chr.
Sleeping Lady von Malta, 4. Jahrtausend v. Chr.
Weibliche Statuette von Samarra, 7. Jahrtausend v. Chr.
Venus vom Hohlen Fels, ca. 38.000 v. Chr.

Inhaltsverzeichnis

Verehrung in der Jungsteinzeit

Harald Haarmann bringt die Verehrung einer Magna Mater mit der sogenannten neolithischen Revolution in Verbindung, als die Menschen sich erstmals der Landwirtschaft zuwandten und oft auch seßhaft wurden. Das war in Kleinasien etwa 10.000 v. Chr., und erreichte ab etwa 6.500 v. Chr. Südosteuropa und in den folgenden Jahrtausenden das übrige Europa. Dabei soll den Frauen die Anpflanzung und Ernte oblegen haben, während die Männer weiterhin der Jagd nachgingen.[1] Infolgedessen soll sich die Idee einer weiblichen Gottheit ausgebreitet haben. Ehmer nimmt an, dass der von der Landwirtschaft vorgegebene Lebensrhythmus auch die Vorstellung von der Erde als autarkes Wesen förderte, die mit ihren Kräften, die sich im Werden von Fauna und Flora, aber auch des Menschen, zeigten, als Große Mutter (Magna Mater) oder Urmutter allen Seins verehrt wurde.[2] Hieraus soll sich laut Ehmer infolge einer Übertragung dieser fruchtbringenden Eigenschaften auf das Weibliche der Kult einer Magna Mater entwickelt haben, der sinnbildlich für den „fruchtbaren Mutterschoß stand, aus dem alles Leben erneut hervorgeht.“[3] Schriftliche Zeugnisse aus dieser Zeit fehlen, wenn auch die auf dem Balkan gefundenen Vinča-Zeichen, die möglicherweise aus dem 6. Jahrtausend v. Chr. stammen, von Haarmann als Weiheinschriften interpretiert werden, die jedoch bislang nicht entziffert werden konnten.[4] In dem Bereich zwischen dem Balkan, der Donau und bis zur heutigen Ukraine, der von Gimbutas als Alteuropa bezeichnet wurde, wurden Tausende von weiblichen Statuetten aus dieser Zeit gefunden, die durch Brüste, Schamdreieck und teilweise überbreite Hüften gekennzeichnet sind. Männliche Darstellungen befanden sich nur vereinzelt darunter (in Vinča waren es 581 weibliche und 17 männliche Figuren, in einer jüngeren Schicht aus dem 4. vorchristlichen Jahrtausend waren über 90 % der 83 Figuren weiblich, in Sitagroi in Nordgriechenland waren alle 250 Figuren weiblich).[5] Insgesamt wird aus der Jungsteinzeit von über 20.000 Statuetten berichtet. Solche Figuren wurden auch in Anatolien unter anderem in der jungsteinzeitlichen Großsiedlung Çatalhöyük gefunden, wo sie bis ins 8. vorchristliche Jahrtausend datiert werden.[6]

Megalithkultur

Diese Funde werden in Europa von einigen Forschern auch mit einer angeblichen Megalithkultur zwischen 4.500 und 1.500 v. Chr. verbunden, deren steinerne Bauwerke angeblich als Tempel der Großen Göttin gedeutet werden. Auf Malta, wo mehrere megalithische Tempel entdeckt wurden, wurden in den Tempelanlagen von Tarxien,Ħaġar Qim und im Hypogäum von Ħal-Saflieni androgyne und weibliche Statuetten, darunter die Venus von Malta (nicht zu verwechseln mit der russischen Venus von Mal'ta in Oblast Irkutsk), die Sleeping Lady und die fat lady gefunden. Ehmer interpretiert sie als kleine Darstellungen der Muttergottheit[7]

Erd- und Fruchtbarkeitsgöttin

Haarmann nimmt an, dass die Große Göttin als Lebenspenderin, Herrin der Vegetation und Schutzpatronin des Ackerbaus und Hüterin der tierischen und menschlichen Fruchtbarkeit, auch im Hinblick auf die Sexualität, verehrt wurde. Sie galt als allmächtig und stand über dem irdischen Leben. Aus ihrer Bedeutung leitet Haarman ab, dass jungsteinzeitlichen Gesellschaften auch matrifokal organisiert waren, in denen die Kinder bei der Mutter leben und Erbfolge sowie Familienbindungen matrilinear ausgestaltet sind, sich also nach der Abstammung mütterlicherseits richten. Andere gehen weiter und folgen hieraus die Existenz rein matriarchalisch organisierter Gesellschaften. Diese Deutungen sind aber bislang wissenschaftlich sehr umstritten.[8]

Vorläuferin vieler weiblicher Gottheiten

Haarmann versucht, viele antike Göttinnen von der "Magna Mater" abzuleiten, wie zum Beispiel die Verehrung der Aphrodite auf Zypern vor ca. 5000 Jahren[9]. Auch die sumerischen, babylonischen und phönizischen Göttinnen wie Inanna, Ištar und Astarte sollen laut Haarmann auf eine ältere Magna Mater zurückgehen. So werden von einigen Archäologen die am Ostufer des Tigris im Irak gefundenen Frauenstatuetten von Samarra aus der Zeit 6.500–6.000 v. Chr. als Vorläuferinnen der sumerischen Göttinnen und Darstellungen der Großen Mutter angesehen.[10] Gerda Weiler will auch im Alten Testament Anzeichen für eine frühe Verehrung einer Großen Göttin finden.[11] In Kleinasien findet sich die Verehrung der Großen Göttin als Kybele, die unter dem Namen Mater Deum Magna Ideae (Große Göttermutter vom Berge Idea) 205 v. Chr. nach Rom kam und sich von hier aus im ganzen römischen Reich ausbreitete. Von dieser römischen Namensgebung leitet sich auch der heute übliche Namen der Urmutter als Magna Mater ab. Auf Magna Mater sollen sämtliche Erdgöttinnen der Alten Ägäis wie zum Beispiel Rhea, Gaia, Demeter und Persephone zurückgehen.[12] Haarmann nimmt an, dass infolge der von Gimbutas postulierten indogermanischer Siedlungsschübe zwischen 4500 und 3000 v. Chr. das indoeuropäische polytheistische Pantheon mit vorherrschenden männlichen Gottheiten die Vorstellung einer Muttergottheit überlagerte, in dem weibliche Gottheiten zwar an Seiten der männlichen Götter stehen, ohne aber die männliche Dominanz in Zweifel zu stellen.[13]

Mutter Erde in der jüngeren Altsteinzeit

Die Magna Mater wird als typische Erscheinung der neolithischen Revolution eingeordnet, die mit der durch die Einführung landwirtschaftlicher Formen einhergehende Sesshaftwerdung verbunden sei. Für die früheren Jäger- und Sammlergesellschaften habe für eine solche Differenzierung kein Spielraum bestanden.[14] Andere knüpfen an die etwa 100-200 Funde von sogenannten Venusstatuetten aus der Zeit des Jungpaläolithikums zwischen 40.000 und 20.000 vor heute nördlich der Pyrenäen, im südlichen Mitteleuropa, Italien und dem südlichen Osteuropa,[15] wie die Venus von Willendorf, etwa 25.000 Jahre alt oder -als neuester Fund - die Venus vom Hohlen Fels am Fuß der Schwäbischen Alb im Jahr 2008, deren Alter auf bis zu 40.000 Jahren geschätzt wird. Man hat diese Zeugnisse einer allgemeinen Verehrung der Mutter Erde als Muttergöttin zugeordnet,[16]

Magna Mater in der Moderne

Die Vorstellung von einer Ur- oder Allmutter, die den Göttinnen entspricht, die man der Erscheinung der Magna Mater oder Großen Göttin zurechnet, wurde in der Neuzeit wieder aufgegriffen, um einerseits in Carl Gustav Jungs Analytischer Psychologie den Mutterarchetyp zu bezeichnen, anderseits, um ganzheitliche Ansätze zur Beschreibung und Erfassung der Erde als ein eigenes Wesen zu beschreiben, wie in der Gaia-Hypothese. Auch die griechische Göttin Gaia gilt als Erscheinung der Großen Mutter.[17]

Literatur

  • Manfred Kurt Ehmer: Göttin Erde, Kult und Mythos der Mutter Erde. Zerling, Berlin 1994, ISBN 3-88468-058-7
  • Manfred Kurt Ehmer: Die Weisheit des Westens. Patmos, Düsseldorf 1998, ISBN 3-491-72395-7
  • Harald Haarmann: Die Madonna und ihre Töchter, Rekonstruktion einer kulturhistorischen Genealogie. Olms, Hildesheim Zürich New York 1996, ISBN 3-487-10163-7
  • Maria Xagorari-Gleißner: Meter Theon. Die Göttermutter bei den Griechen. Harrassowitz, Wiesbaden 2008, ISBN 978-3-447-05986-2

Einzelnachweise

  1. Harald Haarmann: Die Madonna und ihre Töchter, Rekonstruktion einer kulturhistorischen Genealogie. Olms, Hildesheim Zürich New York 1996, ISBN 3-487-10163-7, S. 20 ff.
  2. Manfred Kurt Ehmer: Göttin Erde, Kult und Mythos der Mutter Erde. Zerling, Berlin 1994, ISBN 3-88468-058-7, S. 24
  3. so Manfred Kurt Ehmer: Die Weisheit des Westens, 1998 Düsseldorf, Patmos, ISBN 3-491-72395-7, S. 46
  4. Harald Haarmann: Die Madonna und ihre Töchter, Rekonstruktion einer kulturhistorischen Genealogie. Olms, Hildesheim Zürich New York 1996, ISBN 3-487-10163-7, S. 17
    Harald Haarmann: Universalgeschichte der Schrift. Frankfurt/New York 1998, ISBN 3-88059-955-6, S. 73 ff.
  5. Harald Haarmann: Die Madonna und ihre Töchter, Rekonstruktion einer kulturhistorischen Genealogie. Olms, Hildesheim Zürich New York 1996, ISBN 3-487-10163-7, S. 18.
  6. Harald Haarmann: Die Madonna und ihre Töchter, Rekonstruktion einer kulturhistorischen Genealogie. Olms, Hildesheim Zürich New York 1996, ISBN 3-487-10163-7, S. 127ff.
    Manfred Kurt Ehmer: Göttin Erde, Kult und Mythos der Mutter Erde. Zerling, Berlin 1994, ISBN 3-88468-058-7, S. 24 f.
  7. Manfred Kurt Ehmer: Die Weisheit des Westens, 1998 Düsseldorf, Patmos, ISBN 3-491-72395-7, S. 46
  8. Harald Haarmann: Die Madonna und ihre Töchter, Rekonstruktion einer kulturhistorischen Genealogie. Olms, Hildesheim Zürich New York 1996, ISBN 3-487-10163-7, S. 22.
  9. Harald Haarmann: Die Madonna und ihre Töchter, Rekonstruktion einer kulturhistorischen Genealogie. Olms, Hildesheim Zürich New York 1996, ISBN 3-487-10163-7, S. 88 ff.
  10. Seite des Louvre, geladen 9. Januar 2010: The World of the Sumerian City-States, Female Statuette (Englisch)
  11. Gerda Weiler: Das Matriarchat im Alten Israel, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1989, ISBN 3-17-010773-9
  12. Manfred Kurt Ehmer: Die Weisheit des Westens. Patmos, Düsseldorf 1998, ISBN 3-491-72395-7, S. 46
    Projekt Hypersoil Universität Münster: Gaia und Demeter in der griechischen Antike
  13. Harald Haarmann: Die Madonna und ihre Töchter, Rekonstruktion einer kulturhistorischen Genealogie. Olms, Hildesheim Zürich New York 1996, ISBN 3-487-10163-7, S. 43f.
  14. Harald Haarmann: Die Madonna und ihre Töchter, Rekonstruktion einer kulturhistorischen Genealogie. Olms, Hildesheim Zürich New York 1996, ISBN 3-487-10163-7, S. 21.
  15. Franz Sirocko (Hrsg.): Wetter, Klima, Menschheitsentwicklung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2009, ISBN 978-3-534-22237-7, S. 79, Karte Verbreitung der Fundstellen von Venusstatuetten 34.000 -24.000 BP
    Siegmar von Schnurbein (Hrsg.): Atlas der Vorgeschichte, 2009 Stuttgart, S. 28-29
  16. Manfred Kurt Ehmer: Göttin Erde, Kult und Mythos der Mutter Erde. Zerling, Berlin 1994, ISBN 3-88468-058-7, S. 22
    Franz Sirocko (Hrsg.): Wetter, Klima, Menschheitsentwicklung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2009, ISBN 978-3-534-22237-7, S. 183
    Siegmar von Schnurbein (Hrsg.): Atlas der Vorgeschichte, 2009 Stuttgart, S. 30; Projekt Hypersoil Universität Münster, Mutter Erde in der Altsteinzeit
  17. Projekt Hypersoil Universität Münster: Gaia und Demeter in der griechischen Antike
    Manfred Kurt Ehmer: Göttin Erde, Kult und Mythos der Mutter Erde. Zerling, Berlin 1994, ISBN 3-88468-058-7, S. 40 ff.

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