Mariaberg (Gammertingen)

Mariaberg (Gammertingen)
Mariaberg
Koordinaten: 48° 17′ N, 9° 13′ O48.2766666666679.2133333333333712Koordinaten: 48° 16′ 36″ N, 9° 12′ 48″ O
Höhe: 712 m ü. NN
Einwohner: 500
Postleitzahl: 72501
Vorwahl: 07124

Mariaberg ist ein Stadtteil von Gammertingen und bildet zusammen mit dem weiteren Ortsteil Bronnen (etwa einen Kilometer südlich an Mariaberg angrenzend) eine Gammertinger Verwaltungseinheit mit gemeinsamem Ortschaftsrat. Der Ortsteil Mariaberg liegt knapp vier Kilometer nördlich der Gammertinger Kernstadt im Landkreis Sigmaringen in Baden-Württemberg. Das Dorf hat rund 500 Einwohner. Es ist Hauptsitz einer Einrichtung der Jugend- und Behindertenhilfe im Diakonischen Werk, vormalig als Mariaberger Heime bekannt, seit Mitte 2008 umbenannt in Mariaberg e.V.. Dessen Hauptverwaltung ist im ehemaligen Benediktinerinnen-Kloster Mariaberg, auf das der Name des Stadtteils zurückgeht, in exponierter Lage der Ortschaft untergebracht.

Inhaltsverzeichnis

Geographie

Mariaberg ist der nördlichste Ort im Landkreis Sigmaringen und grenzt im Norden unmittelbar an den Landkreis Reutlingen und im Westen an den Zollernalbkreis. Er befindet sich auf der Schwäbischen Alb in der Region Bodensee-Oberschwaben. Der Ort liegt auf einer Anhöhe (bis ca. 780 m ü. NN ansteigend) über dem etwa 680 m ü. NN liegenden Tal der Lauchert an der Bundesstraße 313, auf halber Strecke zwischen den jeweils etwa 30 Kilometer entfernten Kreisstädten Sigmaringen (im Süden) und Reutlingen (im Norden).

Geschichte

Kloster Mariaberg, von Nordosten aus gesehen; Lithographie von 1823
Mariaberg als Heilanstalt, das ehemalige Kloster links oben im Bild, Südostansicht, Ansichtskarte von 1919

Namensgeber dieses Stadtteils ist das bis zur Säkularisierung von 1802 durch das damalige Herzogtum Württemberg etwa 600 Jahre von Nonnen bewirtschaftete Kloster. Es wurde wahrscheinlich von den Grafen von Gammertingen gegründet und stand später samt dem ihm gehörenden Bronnen unter der Vogtei der Herrschaft Gammertingen.[1] Zunächst waren es Augustinerinnen, dann ab Ende des 13. Jahrhunderts bis 1802 Benediktinerinnen, die darin lebten, wobei die letzte Ordensschwester allerdings erst 1837 das Kloster verließ, das daraufhin zehn Jahre leer stand. Am 1. Mai 1847 bezog der Uracher Oberamtsarzt Carl Heinrich Rösch (Lebensdaten: 1807−1866) mit einer Gruppe von als geistig behindert geltenden jungen Menschen und Betreuungspersonal das vormalige Kloster und gründete die „Heil- und Pflegeanstalt Mariaberg“.

Neben seiner empirischen Forschung – beispielsweise zur Verbreitung des Alkoholismus im Königreich Württemberg – und seinem bahnbrechenden Einsatz für eine humanistische Behindertenhilfe war Rösch ein überzeugter Liberaler und Unterstützer der demokratischen Bewegung, die zur bürgerlichen Märzrevolution von 1848 in den Fürstentümern des Deutschen Bundes führte. Nach der Niederschlagung dieser Revolution sah er sich zur Emigration in die USA veranlasst, wo er sich letztlich in Texas niederließ. Die von ihm aufgebaute Behinderteneinrichtung in Mariaberg blieb jedoch bestehen und wurde von seinen Nachfolgern ausgebaut.

Das zentrale ehemalige Klostergebäude ist heute der Verwaltungssitz der ursprünglich von Rösch gegründeten, 1966 in Mariaberger Heime umbenannten Einrichtung für ambulante und stationäre Hilfen für Menschen mit unterschiedlichen geistigen, körperlichen oder psychischen Behinderungen aller Altersgruppen. Nach 1945 wurde die Einrichtung Mitglied des Diakonischen Werkes Württemberg.

Mariaberg gilt als älteste Komplexeinrichtung der Behindertenhilfe in Deutschland, die von Beginn an einen über eine bloße Verwahranstalt hinausgehenden Ansatz hatte. Dieser Ansatz beinhaltete bereits bei der Gründung im 19. Jahrhundert einen damals revolutionären Anspruch der Behindertenbetreuung und -Förderung auf medizinisch-wissenschaftlicher Grundlage – mit Angeboten der Beschulung, der Beschäftigung und des Wohnens.

Bei alledem blieb Mariaberg im Lauf der Geschichte von historisch verhängnisvollen Entwicklungen nicht ausgespart. Besonders gravierend war hierbei die im Rahmen des so genannten „Euthanasie“-Programms Aktion T4 des NS-Regimes 1940 durchgeführte Deportation von 61 Männern und Frauen in die etwa 25 Kilometer östlich gelegene Anstalt Grafeneck, wo sie zusammen mit insgesamt etwa 10.000 weiteren Behinderten ermordet wurden. In zwei Transporten wurden die Mariaberger mit den so genannten Grauen Bussen abgeholt.[2] Zur Erinnerung an diese Opfer des Nationalsozialismus wurde 1990 eine Gedenkstätte als Mahnmal mit fünf abgestuften, in Richtung Grafeneck kleiner werdenden Steinsäulen neben der Mariaberger Klosterkirche errichtet. Die drei Gedenktafeln vor dem ansteigenden (Feuer und Asche symbolisierenden) Wall aus Lavakies zählen unter der Überschrift „Wenn die Menschen schweigen, so werden die Steine schreien (Lukas, Kap. 19, 40)“ die Namen und jeweiligen Geburtsjahre der ermordeten Mariaberger Opfer auf, bevor der Text mit den Worten endet: „Ihr Tod verpflichtet uns, allem Denken und Tun zu widerstehen, das menschliches Leben in lebenswert und lebensunwert einteilen will. – „Und vergib uns unsere Schuld“ (Matthäus 6,23)“ Seit 1991 wird im Zusammenhang mit der bundesweiten Ökumenischen Friedensdekade durch Mariaberg und das Lebenshaus Schwäbische Alb eine Mahnwache am Mahnmal organisiert.[3]

Klosterkirche

Die barocke Klosterkirche Mariabergs steht ebenso wie die Klostergebäude unter Denkmalschutz. Neben Barockaltären sind in der Klosterkirche Fresken und Skulpturen zu sehen, darunter eine Pietà aus dem 14. Jahrhundert.[4] Durch eine sensible Renovierung blieb der authentische Charakter des Innenraums erhalten. Mit ihren hochgeschwungenen Bögen und ihrer klaren Akustik bildet die Mariaberger Klosterkirche den passenden Rahmen für Konzerte,[5] die in Zusammenarbeit mit dem Gammertinger Schlosskonzert e.V. mehrmals im Jahr angeboten werden.[6]

Gegenwart: Mariaberg e.V.

Mariaberg ist Hauptsitz der diakonischen Einrichtung für Jugend- und Behindertenhilfe Mariaberg e.V. (bis 2008 Mariaberger Heime e.V.).

Es gibt eine nahezu eigenständige Ortsinfrastruktur mit verschiedenen zur Einrichtung gehörenden handwerklichen und hauswirtschaftlichen Betrieben, in denen mehrere Fachwerkerausbildungen und Berufsvorbereitungsmaßnahmen für Lernbehinderte oder anderweitig sozial benachteiligte und verhaltensauffällige Jugendliche durchgeführt werden.

Des Weiteren befinden sich in Mariaberg eine Werkstatt für behinderte Menschen, in der vor allem Kabeltrommeln produziert werden, drei Sonder-/Förderschulen für unterschiedliche Klientel, eine Schule für Heilerziehungspflege (vgl. Gotthilf-Vöhringer-Schule), verschiedene betreute Wohngruppen, ein Fachkrankenhaus für Kinder- und Jugendpsychiatrie und weitere medizinische, diagnostische und therapeutische Praxen (Physio- und Ergotherapie, Logopädie, Allgemeinmedizin, Gynäkologie, Zahnmedizin). In Stuttgart (Kooperation mit der Stiftung Liebenau) und Albstadt-Ebingen betreibt Mariaberg Tageskliniken mit teilstationären und ambulanten Angeboten für psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche.

Für Kinder mit Behinderung und Kinder mit Entwicklungsverzögerungen oder -störungen existieren Angebote der Frühförderung in Mariaberg, Sigmaringen und Albstadt-Ebingen. Die Mariaberger Tochtergesellschaft Ausbildung & Service gGmbH betreibt mehrere Kindergärten (Integrative Ganztageseinrichtungen) in Mariaberg und der Region (Bad Saulgau, Trochtelfingen und seinem Stadtteil Hausen an der Lauchert, Meßkirch, Stetten a.k.M.). Im Gesundheits- und Familienzentrum Mariabergs befindet sich zudem eine Kinderkrippe und ein Familienforum mit Beratungs- und Kursangeboten für Eltern.

Im Zuge der Umsetzung der UN-Konvention zur Inklusion von Menschen mit Behinderung werden von gesetzlicher Seite von den Einrichtungen der Behindertenhilfe ambulante und gemeindeintegrierte Angebote verlangt. Mariaberg bietet solche Wohnformen in der Behinderten- sowie Jugendhilfe in acht Gemeinden der Region an (Stand Oktober 2009) und plant weitere Wohnmöglichkeiten zu erschließen, um die Teilhabe von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft zu ermöglichen.

Der Mariaberg e.V. ist einer der größten Arbeitgeber der näheren Region (rund 1300 Mitarbeiter) und eine bedeutende soziale und sozialpsychiatrische Einrichtung im Landkreis Sigmaringen, deren Aktivitäten sich mit unterschiedlichen Angeboten auf das weitere Kreisgebiet und teilweise auch auf die Nachbarlandkreise erstreckt.

Die Zahl der in Mariaberg selbst tätigen oder stationär betreuten Menschen geht deutlich über die registrierten vor Ort wohnenden Einwohner hinaus. Nach eigenen Angaben zählen zu den von Mariaberg direkt stationär, teilstationär oder ambulant betreuten Klientel etwa 2400 Personen. Indirekt werden die verschiedenen Beratungs- und Serviceleistungen von einer weiteren nicht näher bestimmbaren Anzahl von Menschen, Institutionen und Gruppen wahrgenommen.

Anmerkungen

  1. Landesarchivdirektion Baden-Württemberg (Hrsg.): Das Land Baden-Württemberg: amtliche Beschreibung nach Kreisen und Gemeinden, Band 7: Regierungsbezirk Tübingen. Verlag W. Kohlhammer, 1978. S. 797. ISBN 3170048074
  2. Gedenken an Euthanasie-Opfer. In: Südkurier vom 25. September 2010
  3. Mahnwache. Gegen Gewalt und Euthanasie. In: Südkurier vom 8. November 2008
  4. Geschichte zum Anfassen. Am 11. September ist Tag des Denkmals. In: INFO Der Südfinder, Ausgabe Sigmaringen-Bad Saulgau vom 7. September 2011
  5. Kunstgeschichte. Böhm führt durch die Barockkirche. In: Schwäbische Zeitung vom 13. Juni 2009
  6. Barocke Kunst. Mariaberg bietet Kirchenführung an. In: Schwäbische Zeitung vom 27. Mai 2010

Literatur

  • Diego Häussel, Erwin Hirschle: Gammertingen heute: Mit den Stadtteilen Bronnen, Feldhausen, Harthausen, Kettenacker und Mariaberg. hrsg. von der Stadt Gammertingen. Geiger-Verlag, 1994. ISBN 389264974X
  • Karl Rudolf Eder (Herausgeber): „150 Jahre Mariaberger Heime - Beiträge zur Geschichte geistig behinderter Menschen“. Gammertingen: Mariaberger Heime 1997. - 120 S.
  • Gottfried Klemm: „Dr. Karl Heinrich Rösch (1807-1866). Arzt - Demokrat - Auswanderer“ (Beitrag über den Gründer der Mariaberger Heime); In: Suevica 8 (1999/2000). Stuttgart 2000 [2001], S. 217-224 ISBN 3-88099-395-5
  • Wilhelm Wittmann, Karl Wacker: „Mariaberg als Kloster und Anstalt - Gedenkschrift zur 90-Jahr-Feier der Heil- und Pflegeanstalt Mariaberg“. Selbstverlag, 1937.
  • Johann Daniel Georg von Memminger (Hrsg.): Beschreibung des Oberamts Reutlingen. Cotta, Stuttgart und Tübingen 1824. Reprint Bissinger, Magstadt, ISBN 3-7644-0001-3. Volltext in Wikisource
  • Rüdiger Böhm: Klosterkirche Mariaberg (Ein Bildband von Rüdiger Böhm mit Photos von Reiner Löbe). Selbstverlag. Herausgeber: Mariaberg e.V. ISBN 978-3-00-028147-1. Druck: Acker GmbH Gammertingen 2009

Weblinks


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