Massaker von Setif

Massaker von Setif
Die Lage der heutigen Provinz Sétif innerhalb Algeriens

Als Massaker von Sétif ist die blutige Niederschlagung von Unruhen ab 8. Mai 1945 in Sétif, Guelma und Kherrata durch französische Truppen und Milizen in die Geschichte eingegangen.

Inhaltsverzeichnis

Ereignisse

Am 1. Mai 1945 hatte die 1939 aufgelöste Partei des algerischen Volkes (PPA) in Sétif für die Freilassung ihres Führers Messali Hadj demonstriert – die polizeiliche Repression dieser Kundgebung hatte zu einigen Toten geführt. Am 8. Mai, aus Anlass der offiziellen Feiern des Kriegsendes in Europa, demonstrierte die PPA wieder. Eine Menge von etwa 10.000 Algeriern marschierte auf das Europäerviertel zu. Die Demonstranten, angeführt von moslemischen Pfadfindern und Frauen, forderten „Gleichheit, Unabhängigkeit und Algerien den Arabern“. Etwa 20 Gendarmen versuchten, den Demonstranten ihre Fahnen zu entreißen – bei dieser Gelegenheit wurde erstmals die grün-weiße algerische Fahne mit rotem Stern und Halbmond geschwungen. Die Gendarmen erlagen aber der Übermacht. Die empörte Menge machte nun Jagd auf die Europäer, 28 von ihnen wurden an diesem Tag getötet, 48 verletzt. Der Aufruhr verbreitete sich rasch. Während etwa einer Woche wurden vor allem isoliert lebende Europäer attackiert und getötet. Über 100 französische Siedler fielen der Erhebung zum Opfer.

Die französische Antwort war totale Repression. Unter dem wohlwollenden Auge der Behörden organisierten sich die Kolonialfranzosen in Selbstverteidigungsmilizen, die sich daran machten, Rache zu üben. Laut einem zeitgenössischen Polizeibericht rühmte sich ein Franzose, 83 Algerier („merles“ = Amseln) erschossen zu haben. Armee und Marine bombardierten und beschossen zudem Dörfer, Militärgerichte traten in Aktion und fällten 151 Todesurteile (28 davon wurden vollstreckt). Die „Befriedungsoperation“ endete offiziell am 22. Mai 1945. Die Zahl der Opfer der brutalen Repression wird verschieden hoch angesetzt. Das offizielle Algerien spricht heute von 45.000 Toten, zuweilen auch von mehr. Nach der Historikerin Annie Rey-Goldzeiguer (Reims) ist, solange keine unparteiischen Untersuchungen vorliegen, die zuverlässigste Angabe bezüglich der Opferzahlen die, dass den Verlusten auf französischer Seite ein Hundertfaches an Opfern auf algerischer Seite gegenüberstehe und dass die Erinnerung an dieses Massaker auf beiden Seiten eine ganze Generation geprägt habe.[1]

Zeugenaussagen über die Geschehnisse der folgenden Massaker

  • Es kamen Mörsergeschütze zum Einsatz, die vor Dörfern auffuhren und aus sicherer Distanz auf die dort lebenden Menschen, die in wilder Flucht in die nahen Berge zu entkommen versuchten, das Feuer eröffneten.
  • Zahlreiche Leichname konnten nicht landesüblich bestattet werden. Sie wurden in Massengräber verscharrt oder in die Schluchten von Kherrata geworfen. Die Milizionäre errichteten Scheiterhaufen, um die Leichname zu "entsorgen". Der Zeuge Saci Benhamla, der nur ein paar hundert Meter entfernt von den Scheiterhaufen in Héliopolis wohnte, beschrieb den unerträglichen Geruch von verbrennendem Menschenfleisch, der in jenen Tagen über der Stadt lag.
  • In Kef-El-Boumba ein Augenzeuge: «Ich habe mit angesehen, die Franzosen stießen fünf Personen mit gefesselten Händen zu Boden, überschütteten sie mit Benzin und verbrannten sie bei lebendigem Leibe.»
  • Die französische Armee organisierte Zeremonien der Unterwerfung: alle Einheimischen mussten sich vor der französischen Fahne auf den Boden werfen und im Chor wiederholen: «Wir sind "Hunde" und Ferhat Abbas ist ein Hund». Mehrere Hundert Algerier wurden selbst nach diesen planvollen Demütigungen herausgegriffen und ermordet.[2]

Erinnerungskultur in der algerischen und französischen Gegenwart 2005

Am 8. Mai 2005 anlässlich eines Erinnerungsmarsches mit tausenden Teilnehmern in Sétif rief Algeriens Staatspräsident Abd al-Asis Bouteflika Frankreich auf, 60 Jahre nach den Ereignissen endlich das Massaker einzugestehen. Zum dann tatsächlich erstmals erfolgten Eingeständnis des französischen Botschafters Hubert Colin de Verdière, dass es sich bei diesem Massaker um eine »unentschuldbare Tragödie« gehandelt habe, sagte Bouteflika: »Das algerische Volk wartet noch immer darauf, dass Frankreich der Erklärung des französischen Botschafters überzeugendere Gesten folgen lässt.« 

Zu jenen, die am 9. Mai 1945 von der französischen Weltkriegsfront zurückkehrten, gehörte auch der Hauptmann Ahmed Ben Bella. Was er und andere Rückkehrer zu Hause dann erlebten, wurde mit zum Ausgangspunkt für den bewaffneten Befreiungskampf, der Ben Bella zum ersten Präsidenten des Landes machen sollte. So besteht in heutiger Geschichtsschreibung sowohl auf französischer wie auf algerischer Seite Einigkeit darin, den 8. Mai 1945 nach einigen gescheiterten vorausgegangenen Versuchen als endgültigen Ausgangspunkt für den 1954 ausbrechenden Algerienkrieg anzusehen.[3]

Quellen

  1. Die Massaker von Sétif und Guelma, publiziert am 12. Juni 2004
  2. Vgl. Webseite der "Ligue des Droits de l'Homme" (Liga für Menschenrechte) Section de Toulon
  3. Mohamed Harbi: Die Anfänge des Algerienkrieges, 2005

Literatur

  • Boucif Mekhaled: "Chroniques d'un massacre : 8 mai 1945 ; Sétif, Guelma, Kherrata". Syros, Paris 1995. 247 S. (Schriftenreihe: Au nom de la mémoire) ISBN 2-8414-6200-5
  • Bernhard Schmid: Algerien - Frontstaat im globalen Krieg? Neoliberalismus, soziale Bewegungen und islamistische Ideologie in einem nordafrikanischen Land. ISBN 3-89771-019-6
  • Bernhard Schmid (2006): Das koloniale Algerien. Münster. ISBN 3-89771-027-7
  • Jean-Louis Planche: "Sétif 1945. Histoire d'un massacre annoncé". Perrin, 2006. 2-262-02433-2

Siehe auch


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