MdV

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Tagung der Volkskammer der DDR unter Leitung von Hans Jendretzky im Plenarsaal des Palastes der Republik in Ost-Berlin, November 1989.
Eingang zur Volkskammer an der Nordseite des Palastes der Republik (1990)

Die Volkskammer war das Parlament der Deutschen Demokratischen Republik (DDR).

Inhaltsverzeichnis

Entstehung und Funktion

Präsidium der ersten Vollsitzung der Volkskammer 1950 mit Volkskammerpräsident Johannes Diekmann
Briefmarke zur ersten Volkskammerwahl 1950
Egon Krenz in der Volkskammer, 1989

Die Provisorische Volkskammer wurde am 7. Oktober 1949 in Ost-Berlin aus dem Zweiten Deutschen Volksrat gebildet. Die erste Volkskammerwahl erfolgte, verspätet und nach einem anderen Wahlsystem als ursprünglich geplant, am 15. Oktober 1950. Die Wahlen 1950 beruhten wie seitdem alle Wahlen der DDR auf Einheitslisten der Nationalen Front. Die Wahlen fanden vielerorts nicht mehr geheim, sondern offen, ohne Benutzung der vorhandenen Wahlkabinen statt.[1] Nach offiziellen Angaben habe die Wahlbeteiligung 98% betragen und 99,7% für die Nationale Front gestimmt.[1] Aus Akten des Ministeriums für Staatssicherheit konnte nach dem Ende der DDR belegt werden, dass umfangreiche Wahlfälschungen vorgenommen worden waren.[1] Wahlmanipulationen waren auch bei späteren Wahlen zur Volkskammer die Regel. Die Abgeordneten waren in ihrem Abstimmungsverhalten an die politischen Vorgaben der SED gebunden. Bis 1958 bestand neben der Volkskammer die Länderkammer der DDR, die Gesetzentwürfe in die Volkskammer einbringen und aufschiebenden Widerspruch gegen Gesetzesbeschlüsse erheben konnte.

Die Volkskammer wählte 1949 Wilhelm Pieck (1876–1960) zum Präsidenten der DDR. Nach dessen Tod 1960 wurde die Funktion des Präsidenten durch den Staatsrat der DDR beziehungsweise dessen Vorsitzenden ersetzt, die von der Volkskammer gewählt wurden.

Die Volkskammer war nach dem Verständnis der sowjetischen Besatzungsmacht und der SED kein Parlament im bürgerlichen Sinne einer repräsentativen Demokratie, sondern sollte eine Volksvertretung neuen Typs darstellen. Sie sollte den postulierten Ansprüchen nach die im bürgerlichen Parlamentarismus nicht gegebene Einheit zwischen politischer Führung und Bevölkerung herstellen und Parteienegoismus, Parteinahme für das Kapital, persönliche Bereicherungssucht und Selbstblockade durch Gewaltenteilung ausschließen. Die einzige Abstimmung der Volkskammer, in der es öffentliche Konflikte gab, war 1972 die Einführung der Fristenlösung bei Schwangerschaftsabbrüchen, bei der einige Abgeordnete der CDU der DDR gegen das Gesetz stimmten. Faktisch war die Volkskammer weitgehend ohne Einfluss auf das politische Geschehen. Der seit 1968 in der Verfassung der DDR auch offiziell verankerte Führungsanspruch der SED verhinderte von Beginn an eine echte politische Einflussnahme des Gremiums.

Arbeitsweise und Zusammensetzung

Die Volkskammer tagte üblicherweise zwei- bis viermal im Jahr. Seit 1976 fanden ihre seltenen Sitzungen im kleinen Saal des neu gebauten Palastes der Republik statt. Sie verfügte über die folgenden Ausschüsse:

  • Ausschuss für Allgemeine Angelegenheiten (1950 bis 1963)
  • Ausschuss für Örtliche Volksvertretungen (1956 bis 1963)
  • Ausschuss für Wirtschafts- und Finanzfragen (1950 bis 1963)
  • Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten (1950 bis 1990)
  • Ausschuss für Arbeit und Gesundheitswesen (1950 bis 1958)
  • Ausschuss für Gesundheitswesen (ab 1958 bis 1990)
  • Ausschuss für Arbeit und Sozialpolitik (1958 bis 1990)
  • Ausschuss für Handel und Versorgung (1963 bis 1990)
  • Petitionsausschuss bzw. Ausschuss für die Eingaben der Bürger (1950 bis 1990)
  • Geschäftsordnungsausschuss (1950 bis 1990)
  • Gnadenausschuss (1950 bis 1963), Aufgabe danach vom Staatsrat der DDR übernommen
  • Haushalts- und Finanzausschuss (1950 bis 1990)
  • Mandatsprüfungsausschuss (1963 bis 1990)
  • Jugendausschuss (1950 bis 1990)
  • Justizausschuss (1950 bis 1963)
  • Ausschuss für Nationale Verteidigung (1963 bis 1990)
  • Ausschuss für Land- und Forstwirtschaft (1950 bis 1990)
  • Ausschuss für Volksbildung und Kultur (1954–1958)
  • Ausschuss für Kultur (1958 bis 1990)
  • Ausschuss für Volksbildung (1958 bis 1990)
  • Rechtsausschuss (1950 bis 1963)
  • Wahlprüfungsausschuss (1950 bis 1963)
  • Verfassungsausschuss bzw. Verfassungs- und Rechtsausschuss (1950 bis 1990)

Die Volkskammer hatte bis 1963 400 Sitze, danach 500. Bis zur 5. Wahlperiode (1967 bis 1971) gehörten 66 Berliner Vertreter der Volkskammer mit beratender Stimme an, danach waren diese normale Abgeordnete. Seit Ende 1958 nahmen an den Sitzungen und an der Ausschussarbeit 100, später 200 Nachfolgekandidaten teil. Diese hatten kein Stimmrecht in den Abstimmungen, waren den regulären Abgeordneten aber sonst weitgehend gleichgestellt.

Folgende Fraktionen waren 1950 bis April 1990 in der Volkskammer vertreten: SED-Fraktion, CDU-Fraktion, LDPD-Fraktion, NDPD-Fraktion, DBD-Fraktion, FDGB-Fraktion, FDJ-Fraktion, DFD-Fraktion, Kulturbund-Fraktion, VdgB/Konsumgenossenschaften-Fraktion (nur 1950 bis 1963 und ab 1986) sowie VVN-Fraktion (1950 bis 1954).

Volkskammerabgeordnete nach Partei bzw. Massenorganisation (1981–1986)
Name der
Fraktion
Kürzel der
Fraktion
Anzahl der
Abgeordneten
Pseudografische Darstellung
der Anzahl der Abgeordneten
Sozialistische Einheitspartei Deutschlands SED 127 ••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••
Christlich-Demokratische Union CDU 52 ••••••••••••••••••••••••••
Liberal-Demokratische Partei Deutschlands LDPD 52 ••••••••••••••••••••••••••
Demokratische Bauernpartei Deutschlands DBD 52 ••••••••••••••••••••••••••
Nationaldemokratische Partei Deutschlands NDPD 52 ••••••••••••••••••••••••••
Freier Deutscher Gewerkschaftsbund FDGB 68 ••••••••••••••••••••••••••••••••••
Freie Deutsche Jugend FDJ 40 ••••••••••••••••••••
Demokratischer Frauenbund Deutschlands DFD 35 ••••••••••••••••••
Kulturbund KB 22 •••••••••••

Der Anteil Frauen an den Abgeordneten betrug 1950 23,0 Prozent (mit Berliner Vertretern), 1986 32,2 Prozent. Die Mehrheit der SED in der Volkskammer seit 1950 wurde durch die Fraktionen der Massenorganisationen (FDGB, DFD, FDJ, KB) gesichert, deren Fraktionsmitglieder in der Regel zugleich Mitglieder der SED waren.

Prominente Abgeordnete waren neben allen wichtigen SED-Parteifunktionären und Vorsitzenden der anderen Parteien unter anderem prominente Leistungssportler wie Heike Drechsler oder Täve Schur und Arbeiteraktivisten sowie Veteranen der sozialistischen Bewegung bzw. des DDR-Aufbaus wie Rosa Thälmann, Kurt Krenz, Käthe Kern und Wilhelmine Schirmer-Pröscher.

Wahltermine

Banner für die ersten Volkswahlen (August 1950)

Die Volkskammerwahlen fanden an den folgenden Terminen statt:

  • 1. Wahlperiode: 15. Oktober 1950
  • 2. Wahlperiode: 17. Oktober 1954
  • 3. Wahlperiode: 16. November 1958
  • 4. Wahlperiode: 20. Oktober 1963
  • 5. Wahlperiode: 2. Juli 1967
  • 6. Wahlperiode: 14. November 1971
  • 7. Wahlperiode: 17. Oktober 1976
  • 8. Wahlperiode: 14. Juni 1981
  • 9. Wahlperiode: 8. Juni 1986
  • 10. Wahlperiode: 18. März 1990

Präsidenten der Volkskammer

Nr. Name Beginn der Amtszeit Ende der Amtszeit Partei
1 Johannes Dieckmann 7. Oktober 1949 22. Februar 1969 LDPD
2 Gerald Götting 12. Mai 1969 29. Oktober 1976 CDU
3 Horst Sindermann 29. Oktober 1976 13. November 1989 SED
4 Günther Maleuda 13. November 1989 5. April 1990 DBD
5 Sabine Bergmann-Pohl 5. April 1990 2. Oktober 1990 CDU

Die frei gewählte Volkskammer 1990

Demonstrant vor der Volkskammer, Januar 1990.

Nach der 1989 durch Bürgerproteste ausgelösten politischen Wende in der DDR wurde am 18. März 1990 die einzige freie Volkskammerwahl abgehalten. Die Macht des Parlaments entsprach nun erstmals jener der Parlamente bürgerlicher Demokratien. Die Volkskammer schuf mit dem Ländereinführungsgesetz die neuen Bundesländer, die mit ihrer Gründung dann der Bundesrepublik beitraten. Die DDR war damit abgeschafft. Gleichzeitig schuf die Volkskammer eine "Mindest-Gesetzesausstattung" für die neuen Länder, die damit sofort mit ihrer Gründung über Landesrecht verfügten. Zwar war der Einigungsvertrag, der u. a. regelte, welche Bundesgesetze im Beitrittsgebiet nicht oder nur modifiziert gelten sollten, durch die Regierungen ausgehandelt worden, doch hatten die Regierungsfraktionen im Vorfeld eine Fülle von Bedingungen formuliert (etwa: Bestand der Bodenreform), die in den Vertrag einflossen.

Bei der konstituierenden Sitzung am 5. April wurde durch die Einfügung des Artikels 75a in die DDR-Verfassung das Präsidium der Volkskammer mit den Befugnissen des nicht mehr besetzten Staatsrats betraut. Die am selben Tag gewählte Präsidentin der Volkskammer, Sabine Bergmann-Pohl (CDU), erhielt die Befugnisse des Staatsratsvorsitzenden und war damit formal letztes Staatsoberhaupt der DDR.

Am 12. April 1990 wurde Lothar de Maizière (CDU) mit 265 Stimmen bei 108 Gegenstimmen und 9 Enthaltungen zum Ministerpräsidenten der DDR gewählt. Die Abgeordneten bestätigten danach en bloc auch das Kabinett de Maizières, die erste und letzte frei gewählte Regierung der DDR.

CDU/DA-Fraktion

Die Fraktion nannte sich offiziell „CDU/DA“ bis zum 5. August 1990, also dem Tag der Fusion der beiden Organisationen. Danach nannte sie sich „CDU-Fraktion“. Die Vorsitzenden waren:

SPD-Fraktion

Die Vorsitzende der Fraktion der SPD waren:

PDS-Fraktion

Der Vorsitzende der PDS-Fraktion war während der ganzen Legislaturperiode Gregor Gysi.

DSU-Fraktion

Die Fraktion der DSU hatte von März bis Oktober nur einen Vorsitzenden, Hansjoachim Walther.

Fraktion „Die Liberalen“

Die Fraktion „Die Liberalen“ war eine Fraktionsgemeinschaft von FDP, DFP, LDP und NDPD. Bei der Volkskammerwahl nahmen die ersten drei Parteien als Mitglieder der Listenverbindung Bund Freier Demokraten teil, die NDPD stellte eine eigene Liste. Nach der Bildung der Volkskammer schlossen sich die zwei Abgeordneten der NDPD der liberalen Fraktion an. Der Vorsitzende der Fraktion war bis Oktober Rainer Ortleb.

Fraktion Bündnis 90/Grüne

Bündnis 90 bildete eine Fraktionsgemeinschaft mit den Grünen, die keinen Fraktionsvorsitzenden, sondern mehrere Fraktionssprecher hatte. Die Sprecher der Fraktion waren:

DBD/DFD-Fraktion

Die Demokratische Bauernpartei Deutschlands und der Demokratische Frauenbund Deutschlands bildeten in der Volkskammer eine Fraktionsgemeinschaft, dessen Vorsitzender Günther Maleuda war. Am 29. August 1990 beschloss die Fraktion ihre Auflösung. Maleuda blieb fraktionslos, drei DBD-Abgeordnete schlossen sich der SPD, vier der CDU an, ein DBD-Abgeordneter und eine Abgeordnete des DFD wechselten zur Fraktion der Liberalen.

Sächsische Volkskammer (1919/20)

Nach dem Ersten Weltkrieg hieß auch das 1919 gewählte Parlament des Freistaates Sachsen Volkskammer. Mit der Verabschiedung der ersten demokratischen Verfassung Sachsens im Jahr 1920 kehrte man zur alten Bezeichnung Landtag zurück.

Literatur

  • Christopher Hausmann: Biographisches Handbuch der 10. Volkskammer der DDR (1990). Böhlau-Verlag, Köln, Weimar, Wien 2000. ISBN 3-412-02597-6
  • Werner J. Patzelt und Roland Schirmer (Hrsg.): Die Volkskammer der DDR. Sozialistischer Parlamentarismus in Theorie und Praxis. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2002. ISBN 3-531-13609-7
  • Peter Joachim Lapp: Die Volkskammer der DDR. Studien zur Sozialwissenschaft, Bd. 33, Westdeutscher Verlag, Opladen 1975. ISBN 3-531-11299-6
  • Gabriele Gast: Die politische Rolle der Frau in der DDR. Studien zur Sozialwissenschaft, Bd. 17, Bertelsmann Universitätsverlag, Düsseldorf 1973. ISBN 3-571-09219-8
  • Handbücher der Volkskammer der DDR 1957 bis 1986. Staatsverlag der DDR, Berlin.

Einzelnachweise

  1. a b c Hermann Weber: Die DDR 1945-1990, 4. Auflage, Oldenbourg 2006, S. 32

Siehe auch

Weblinks



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