Mehrkindfamilie

Mehrkindfamilie

Der Begriff Mehrkindfamilie bezeichnet eine Familie mit mindestens drei Kindern. Somit besteht bei genau drei Kindern eine Überschneidung zum Begriff der Kleinfamilie. Es wird auch, oft erst ab dem vierten Kind, der (nicht einheitlich definierte) Begriff kinderreiche Familie verwendet. Eine kinderreiche Familie ist eine der möglichen Formen einer Großfamilie. Der Begriff kinderreich wird auch deshalb vermieden, weil die Annahme, „reich sein an Kindern“ bedeute (betriebswirtschaftlich, d.h. vom einzelnen Familienhaushalt aus gesehen) „reich sein durch Kinder“, von vielen als Zynismus empfunden wird, obwohl die Annahme in volkswirtschaftlicher Sicht zutrifft.

Mehrkindfamilien sind aufgrund der Kinderzahl – erhöhte finanziellen Ausgaben für Kinder und erhöhte Opportunitätskosten bei Reduzierung der elterlichen Berufstätigkeit – besonders auf familienbezogene Transferleistungen (wie z. B. Kindergeld) oder auch Infrastrukturleistungen (wie z. B. Kinderbetreuung) angewiesen, je nachdem, in wie weit die Eltern erwerbstätig sind oder sein wollen.

Inhaltsverzeichnis

Wirtschaftliche Situation von Mehrkindfamilien

Mehrkindfamilien sind in vielen Staaten, so in Deutschland[1], Österreich[2] und Polen[3] besonders vom Armutsrisiko betroffen. So lebten etwa im Jahr 2000 in Deutschland 42% der Kinder aus Haushalten mit drei oder mehr Kindern in Armut.[4]. Auch sind Kinder aus Mehrkindfamilien besonders häufig von multipler Deprivation betroffen. Die AWO stufte im Jahr 2000 33% der Kinder in Familien mit drei und mehr Kindern (aber nur 14% der Kinder in kleineren Familien) als multipel depriviert ein.[5]

Hauptartikel: AWO-Studie

Der am 1. Januar 2005 eingeführte Kinderzuschlag kann Familien gewährt werden, deren Elterneinkommen nicht zur Deckung des gesamten Familienbedarfs ausreicht, und kommt laut Aussage des Siebten Familienberichts vor allem Mehrkindfamilien zugute.[6]

Einzelne finanzielle Ermäßigungen richten (oder richteten) sich ausschließlich oder vorrangig auf kinderreiche Familien. So wurde das 1955 eingeführte Kindergeld zunächst nur Familien mit drei oder mehr Kindern gewährt,[7], ebenso der 1955 bis 1999 bestehende Wuermeling für kostenreduzierte Bahnfahrkarten. Andererseits gelten Familienermäßigungen in Museen, Zoo oder Schwimmbädern oft für nur bis zu drei Kinder.

In Frankreich werden Mehrkindfamilien besonders gefördert, beispielsweise durch das Familiensplitting; 75 % der französischen Mütter mit zwei Kindern und selbst 51 % der Mütter mit drei oder mehr Kindern sind erwerbstätig.[8] Die französische Familienpolitik verringert insbesondere die Armutsraten von Mehrkindfamilien, Familien mit Migrationshintergrund und Familien mit Kindern unter drei Jahren.[9]

Kinderreichtum als Entwicklungsrisiko?

Einfluss der Geschwisterzahl
auf die erreichte Punktzahl in der LAU
Geschwisterzahl Mittelwert Anzahl der Fälle
keine 72,9 1.566
1 71,5 4.266
2 67,7 2.010
3 62,8 684
4 57,0 268
5 56,9 115
6 49,6 44
7 und mehr 49,0 58

Die Herkunft aus einer kinderreichen Familie wird in der Psychologie oft als Risikofaktor für die kindliche Entwicklung betrachtet.[10] Jedoch gibt es auch Fälle, wo eine große Geschwisterzahl als Schutzfaktor wirken kann. Dies wurde zum Beispiel bei vietnamesischen Boat People in den USA festgestellt, dass deren Kinder umso leistungsfähiger waren je mehr Geschwister sie hatten. Um das zu verstehen, muss man die Rolle verstehen, die die Familie in der vietnamesischen Kultur spielt. Die vietnamesische Kultur ist kollektivistisch. Das heißt die Wünsche des Individuums sind weniger wichtig, als die Bedürfnisse der Familie als Gruppe. Von älteren Geschwistern wird erwartet, dass sie ihren jüngeren Geschwistern bei den Hausaufgaben helfen. Davon profitieren die Kinder gewaltig. Sie lernten von ihren Geschwistern nicht nur Fakten, sondern auch akademische Strategien und Werthaltungen. Oft waren auch jüngere, noch nicht schulpflichtige Kinder, anwesend. Auch sie schienen spielerisch zu lernen, indem die ihre Geschwister beobachteten.

Diese Studien-Ergebnisse stehen im Gegensatz zu Ergebnissen von Studien, die in europäischen Gemeinschaften durchgeführt wurden. In europäischen Gemeinschaften sind in der Regel Kinder aus kleinen Familien am leistungsstärksten.[11] Wie die Hamburger Lernausgangslagenuntersuchung LAU feststellte, erbringen Kinder aus kinderreichen Familien schlechtere schulische Leistungen als Kinder aus kleinen Familien. Bei der Interpretation dieser Ergebnisse ist allerdings zu beachten, dass die Zahl der Geschwister sehr stark von der ethnischen Herkunft der Familie geprägt ist: Mehr als die Hälfte der Kinder mit mehr als fünf Geschwistern sind ausländischer Herkunft. Hier verbergen sich also hinter dem Einfluss der Familiengröße auch Leistungsrückstände, die eher auf die besondere soziokulturelle Situation von Migrantenkindern zurückzuführen sind. Der Zusammenhang zwischen Geschwisterzahl und Kompetenzen der Kinder lässt sich nicht einfach auf mangelhafte Bildung kinderreicher Eltern zurückführen. Vielmehr ist er auf allen elterlichen Bildungsniveaus wirksam - in den unteren allerdings weit stärker als in den oberen. Es handelt sich also nicht um eine Scheinkorrelation. Gleichzeitig wirkt sich die Herkunft aus einer großen Familie bei der Herkunft aus einem ungebildeten Elternhaus besonders negativ aus. In Familien, in denen die Mütter entweder über keinen Schulabschluss verfügen (r = -0,15) oder den Hauptschulabschluss besitzen (r = -0,18), spiegeln sich die Belastungen, die mit einer zunehmenden Kinderzahl verbunden sind, deutlicher in den Testleistungen wider als in den übrigen (Realschule: r = -0,09; Fachhochschulreife: r = -0,02; Abitur: r = -0,07). Das kommt wahrscheinlich, da in den gebildeten Haushalten Ressourcen (wie zum Beispiel Geld etc) bestehen, mit denen die negativen Auswirkungen der großen Kinderzahl aufgefangen werden können, in den ungebildeten aber nicht.[12]

Kinderreichtum und Religion

Familien mit mehr als zwei Kindern kommen unter religiösen Leuten besonders häufig vor.[13] Verschiedentlich wurde der Zusammenhang zwischen Religiosität und Kinderzahl dadurch erklärt, dass Arme/Ungebildete besonders religiös seien und dass sie besonders viele Kinder bekämen. Wie eine Untersuchung von Blume, Ramsel und Graupner zeigt, ist aber gerade unter Reichen und Gebildeten die Religiosität ausschlaggebend für die Kinderzahl.[14] Dies lässt sich nach Ansicht der Forscher gut mit der biographischen Fertilitätstheorie von Herwig Birg erklären. Birg verweist darauf, dass dem Menschen mit dem technischen, wirtschaftlichen, schließlich auch sozialen und politischen Fortschritt ein immer wachsendes „biographisches Universum“ mit immer mehr Wahlmöglichkeiten entstehe. Besonders viele Wahlmöglichkeiten hätten die Wohlhabenden und Gebildeten:

Wer in einem entwickelten Land lebt, wohlhabend, gebildet und frei ist, verfügt über ein enormes „biographisches Universum“ an Möglichkeiten. Wer sich diese Chancen und Freiheiten nicht (mehr) durch religiöse Observanz einschränken lassen will, wird sich häufig ebenso gegen entsprechende Optionsverluste durch eine größere Kinderschar entscheiden.[15]

Die meisten Religionen sind ihrem Wesen nach pronatalistisch. So lässt es sich erklären, dass die Paare auf diese Möglichkeiten verzichten, um eine große Familie zu gründen, wie es ihre Religionen fordern.

Kinderreichtum und Sozialschicht

Eine Untersuchung in Baden-Württemberg erbrachte folgendes Ergebnis: Kinderreichtum kommt unter Paaren ohne schulische und berufliche Ausbildung besonders häufig vor, Paare mit einer mittleren Ausbildung sind unterdurchschnittlich oft kinderreich und Paare mit der höchsten Ausbildung durchschnittlich oft. Dreikindfamilien sind unter Akademikern relativ häufig. Mütter und Väter von Dreikindfamilien haben dabei deutlich bessere schulische und berufliche Abschlüsse als Mütter und Väter von vier und mehr Kindern. Eine abgeschlossene Schulausbildung fehlt bei 3% der Frauen mit zwei Kindern, 6 % der Frauen mit drei Kindern und bei 15 % der Frauen mit vier oder mehr Kindern, keine abgeschlossene Berufsausbildung besitzen 20% der Frauen mit zwei Kindern, 28 % der Frauen mit drei Kindern und sogar 45 % der Frauen mit vier oder mehr Kindern. Auch Väter von vielen Kindern haben besonders häufig keine schulische und berufliche Ausbildung. 2% der Väter von zwei Kindern, 5% der Väter von drei Kindern und 11% der Väter von vier und mehr Kindern haben keinen Schulabschluss. 12% der Väter von zwei Kindern, 15% der Väter von drei Kindern und 28% der Väter von vier Kindern sind ohne Berufsabschluss. Andererseits aber kommt Kinderreichtum auch bei Vätern besonders häufig vor, die Selbständige, Freiberufler oder in Führungspositionen tätig sind und ist unter Arbeitern selten. Die Ressource „schulische und berufliche Ausbildung“ ist bei kinderreichen Eltern deutlich unterschiedlicher verteilt als bei Eltern mit einem oder zwei Kindern.[16]

Nach dem Mikrozensus 2008 haben Mütter mit niedriger Bildung die größten Familien, so haben 39% aller Mütter mit niedriger Bildung drei oder mehr Kinder, dies trifft jedoch nur auf 21 Prozent der Mütter mit mittlerer Bildung und 19 Prozent der Mütter mit hoher Bildung zu (in diese Statistik wurden nur Frauen einbezogen, die überhaupt Kinder hatten. Kinderlose werden nicht betrachtet).[17]

Gründe gegen die Gründung einer großen Familie

Bei einer Studie der Robert-Bosch-Stiftung konnten Eltern Gründe gegen weitere Kinder angeben. Mehrfachantworten waren möglich. Als häufigster Grund gegen weitere Kinder wurde die Tatsache genannt, dass entweder ihr eigener Arbeitsplatz oder der des Partners nicht sicher sei (63% waren dieser Meinung). 51% gaben an, keine weiteren Kinder zu wollen, da sie sich zu viele Gedanken darüber machten, welche Zukunft diese erwarte. 50% sagten, dass sie keine Kinder wollten, da sie ihren jetzigen Lebensstandard beibehalten wollten. 39% gaben an, dass sie mit einem weiteren Kind ihr Leben nicht mehr so genießen könnten wie vorher. 39% befürchteten, dass ein Kind zu hohe Kosten verursachen würde. 37% befürchteten ihre Freizeitinteressen aufgeben zu müssen. 29% gaben an, sie selbst oder der Partner sei zu alt. 28% sagte, ein weiteres Kind wäre nicht mit ihrer Berufstätigkeit vereinbar, 26% beklagten, dass der Partner dagegen sei und 20% befürchteten, dass zu wenig Zeit für die Partnerschaft bliebe. 12% äußerten, ein weiteres Kind würde sie zu sehr an den Partner binden. 10% gaben an, dass ihr Gesundheitszustand kein weiteres Kind erlaube und 7% wollten kein weiteres Kind, weil ihre Partnerschaft nicht funktionierte, wie sie es sich vorstellten.[18]

Spielraum für eine pronatalitische Politik

Die Studie der Robert-Bosch-Stiftung ging auch der Frage nach, inwiefern eine pronatalistische Politik in Deutschland Erfolg haben könnte. Es zeigte sich, dass Kinderreiche sich von der Politik vor allem mehr Geld wünschten. 90% der Kinderreichen wünschten sich materielle Hilfen. Leute, die nur ein Kind haben, wünschten sich dagegen häufiger als Kinderreiche eine familienfreundlichere Infrastruktur. Betreuungsmöglichkeiten werden von Kinderreichen seltener als von anderen gewünscht:

Offenbar versuchen Paare mit einem Kind am ehesten, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen. Die Entscheidung für ein erstes bzw. zweites Kind könnte sich also durch einen Ausbau der Betreuungsangebote fördern lassen. Für Familien mit zwei oder mehr Kindern scheint dagegen das Vorhandensein von Betreuungsmöglichkeiten nicht mehr von herausragender Wichtigkeit zu sein; wohl deshalb, weil einer der beiden Partner – meistens die Mutter – gar nicht oder eher teilzeitbeschäftigt ist.[19]

Der Wunsch nach flexibleren Arbeitszeiten hingegen war bei allen Befragten stark ausgeprägt.[20] Laut der Studie könnten pronatalistische Maßnahmen durchaus erfolgreich sein.:

Für die Politik erfreulich ist die Einschätzung von 80 Prozent der Frauen mit (weiterem) Kinderwunsch, daß eine Umsetzung der von ihnen bevorzugten familienpolitischen Maßnahmen es für sie leichter machen würde, so viele Kinder zu bekommen, wie sie möchten. 78 Prozent würden sich »wahrscheinlich für ein (weiteres) Kind entscheiden«, wären die von ihnen bevorzugten Leistungen eingeführt.[21]

Bedeutung für die Bevölkerungsentwicklung

Die Zahl der Mehrkindfamilien ist ein wichtiger Faktor für das globalen Bevölkerungswachstum sowie für den Bevölkerungsrückgang in den einzelnen Staaten. Bei der Suche nach den Gründen für eine niedrige Fertilitätsrate in einem Land ist also nicht nur der Anteil (lebenslang) Kinderloser zu beobachten (dieser ist z.B. in Deutschland nicht höher als in den USA [22] ), sondern auch der Anteil der Familien mit drei und mehr Kindern.

In Deutschland gilt der Rückgang der Mehrkindfamilie als wichtigste Ursache für den Rückgang der Geburtenrate.[23][7] Deutschland weist einen stärkeren Rückgang von Familien mit mehr als zwei Kindern auf als andere Länder.[24]

Statistische Anzahl Haushalte nach Kinderanzahl in Deutschland: Grossfamilien Verteilung inDeutschland 04.jpg

In fast allen Industrieländern liegt der Anteil von Familien mit drei oder mehr minderjährigen Kindern im Haushalt über 3% (in Irland z.B. bei 14%, in den USA bei 7% und in Frankreich bei 6%) [25]. Nur in Italien und Spanien liegt dieser Anteil ebenfalls bei 3%.

Diskriminierung von Mehrkindfamilien

Die „strukturelle Rücksichtslosigkeit gegenüber der Familie“, die Franz-Xaver Kaufmann schon zu Beginn der 1990er Jahre kritisiert hat, [26] wirkt sich im verstärktem Maße auf kinderreiche Familien aus - wenngleich die Erfahrungen, die kinderreiche Eltern machen, nicht generell negativ sind. Das Bild, das die von Kaufmann befragten Eltern zeichnen, ist durchaus durchwachsen. Von einer allgemeinen und allumfassenden Diskriminierung im Alltag kann jedoch nicht die Rede sein; gelegentlich werden allerdings diskriminierende Äußerungen von Passanten oder in der Nachbarschaft erwähnt, die auf ein gewisses Unverständnis und auf Unkenntnis des Kinderreichtums hinweisen. Kinderfeindlichkeit manifestiert sich im verstärkten Maße gegenüber Kinderreichen, manchmal auch in Form sexuell gefärbter Anspielungen. [27]

In einer „Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung europäischer Antidiskriminierungsrichtlinien“ vom 7. März 2005 bemängelt der „Deutsche Familienverband“ das Fehlen von Bestimmungen über die „Benachteiligung wegen der Erziehung von Kindern bei den in § 1 des Antidiskriminierungsgesetzes aufgelisteten Gründen für eine Benachteiligung“ und fordert „eine entsprechende Berücksichtigung in Artikel 3 des Gesetzentwurfs“.[28]

Bereich Wohnen

Begründung: „Besonders deutlich wird die Vernachlässigung der Belange von Familien beim Zugang zu Wohnraum. Die Probleme bei der Suche nach einer Mietwohnung gehören vor allem für kinderreiche Familien zu den schmerzhaftesten Benachteiligungserfahrungen im Alltag. Diese Familien werden durch das Antidiskriminierungsgesetz in seiner jetzigen Form weder berücksichtigt noch unterstützt. Denn wenn sie als Mieter gegenüber Wohnungsinteressenten ohne Kinder den Kürzeren ziehen, handelt es sich beim Ablehnungsgrund in den meisten Fällen weder um die ethnische Herkunft, das Geschlecht oder die Religion noch um eine Behinderung, das Alter oder die sexuelle Identität. Sie werden schlicht abgelehnt, weil der Vermieter oder die Nachbarn lebhafte Kinder nicht im Haus tolerieren wollen.“[28]

Bereich Arbeit

Zudem befürchtet der „Deutsche Familienverband“, dass durch das Antidiskriminierungsgesetz Mehrkindfamilien sogar Schaden zugefügt werden könne, und zwar durch den in § 3 hergestellten Kausalzusammenhang: „Gerade mit Blick auf das Arbeitsrecht und den Arbeitsmarkt wird deutlich, dass die in § 3 vorgenommene abgeleitete Berücksichtigung der Benachteiligung von Müttern den tatsächlichen Sachverhalt umdreht: Mütter sind nicht deshalb am Arbeitsmarkt benachteiligt, weil sie Frauen sind. Sondern Frauen sind benachteiligt, weil sie Mütter sind oder Mütter werden könnten. Die Benachteiligung von Erziehenden am Arbeitsmarkt hängt nicht vom Geschlecht ab, sondern von der Tatsache, dass sie eine Verantwortung für Kinder übernommen haben.“[28]

Bereich Sozialtransfers

Im Zusammenhang mit dem Fall Rosa Rees prägte das Bundesverfassungsgericht in seinem „Trümmerfrauen-Urteil“ vom 7. Juli 1992 den Begriff „Transfer-Ausbeutung“. Rosa Rees hatte nach dem Zweiten Weltkrieg neun Kinder großgezogen und erhielt dafür 1986 monatlich 260 DM an Altersrente. Ihre neun Kinder zahlten gleichzeitig zusammen über 8.000 DM pro Monat an die Rentenversicherung. Den Grund für diese Diskrepanz erklärt Jürgen Borchert [29] folgendermaßen: „So benachteiligt das Rentensystem vor allem kinderreiche Mütter mit entsprechend kurzen Erwerbsbiografien, denn sie erhalten besonders geringe Renten.“ Ähnliche Effekte gibt es auch in anderen Sparten der Sozialversicherung, und zwar in der Pflegeversicherung und selbst in der Krankenversicherung. „Weil nämlich die Gesundheitskosten eines Rentners vom Eintritt in den Ruhestand bis zum Tode schon heute statistisch rund das Achtfache der Kosten eines Kindes von der Geburt bis zum 20. Lebensjahr betragen, findet trotz der ‚Familienhilfe‘ (das heißt der so genannten beitragsfreien Mitversicherung), ganz entgegen der öffentlichen Meinung, schließlich auch in der Gesetzlichen Krankenversicherung eine ‚Transferausbeutung der Familien‘ statt.“, so Borchert.

Diskriminierung durch Maßnahmen des Staates

Eine Diskriminierung von Mehrkindfamilien liegt auch dann vor, wenn Fördermaßnahmen davon abhängig gemacht werden, dass beide Eltern erwerbstätig sind, da diese Bedingung bei zunehmender Familiengröße immer schwieriger einzuhalten ist. Zudem ist es oft so, dass erst die Entlastung der Eltern einen Wiedereinstieg in die Erwerbstätigkeit ermöglicht (sie also bedingungslos gewährt werden müsste).

Beispiel: Die Hortregelung in Niederösterreich

Eine Voraussetzung für die Gewährung der Hortförderung in Niederösterreich ist es, dass beide Elternteile erwerbstätig sind. Bei Mehrkindfamilien mit Kindern vom Vorschulalter bis zur Sekundarstufe ist das aber praktisch unmöglich. Also kommt die Möglichkeit, Kinder in einem Hort betreuen zu lassen, vor allem Eltern mit einem Kind, maximal zwei Kindern zugute. [30]

Beispiel: Der Streit um das Elterngeld und das Kindergeld in Deutschland

In einer Anhörung vor dem „Ausschuss für Familie, Senioren Frauen und Jugend (Ausschussdrucksache 16(13)81g)“ stellt Christian Seiler die These auf, dass das Elterngeld verfassungswidrig sei, da der Staat auf unzulässige, gegen Art. 6 GG verstoßende Weise Eltern einen Anreiz zur Erwerbstätigkeit gebe: „[D]ie im Elterngeld angelegte Diskriminierung der Einverdienerfamilie [benachteiligt] kinderreiche Familien faktisch in besonderem Maße, weil sie häufig nicht auf die ausschließliche Familientätigkeit eines Elternteils verzichten können und dies angesichts ihrer familienfreundlichen Einstellung womöglich auch nicht wollen. Die besondere erwerbsbezogene Rationalität des Elterngeldes schließt mithin kinderreiche Familien typischerweise gerade wegen ihrer Entscheidung für Familie von dieser Maßnahme der ‚Familienförderung‘ aus.“ [31]

Gegen Seilers Argumentation ist anzuführen, dass durch die Elterngeld-Regelung erstmals Männern ein Anreiz gegeben wird, zeitweise aus dem Erwerbsleben auszuscheiden, ein Risiko, das für Arbeitgeber in Deutschland früher vernachlässigbar war (vor 2007 schieden nur maximal 2% aller Männer wegen Vaterschaft aus dem Berufsleben aus). [32] [33] Diese Maßnahme erweist sich also als wirksames Instrument gegen die Diskriminierung von Frauen als (potenziellen) Müttern auf dem Arbeitsmarkt.

Familienministerin Ursula von der Leyen fordert eine deutliche Erhöhung des Kindergeldes für das dritte Kind und alle folgenden Kinder einer Familie. Der Weg, bislang Kinderlose dazu zu animieren, ein (zweites) Kind zu bekommen, indem man die Opportunitätskosten verringere, die ein Kind verursache, habe sich als unergiebig erwiesen. Der Staat habe bislang nicht genügend auf Hemmungen reagiert, ein drittes oder viertes Kind zu bekommen, obwohl die Bereitschaft hierzu bei einigen Paaren durchaus vorhanden sei. Ein erster Schritt, diese Bereitschaft zu fördern, müsse die genannte Kindergelderhöhung (204 Euro für das dritte Kind, 229 Euro für alle weiteren Kinder) sein. [34]

Einzelnachweise

  1. Siebter Familienbericht – Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit – Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik und Stellungnahme der Bundesregierung. 26. April 2006, abgerufen am 6. April 2008 (PDF).
  2. Daten & Fakten. In: Salzburger Nachrichten. 9. Februar 2004, abgerufen am 6. April 2008.
  3. Elzbieta Tarkowska (2005): Kinderarmut und soziale Ausgrenzung in Polen (Übersetzung aus dem englischen von Rudolph Müllan. In: Margherita Zander: Kinderarmut. Wiesbaden. VS Verlag für Sozialwissenschaften. ISBN 3-531-14450-2, S. 36
  4. Beate Hock, Gerda Holz, Werner Wüstendörfer (2000): Frühe Folgen - langfristige Konsequenzen? Armut und Benachteiligung im Vorschulalter. Frankfurt am Main: AWO-ISS, ISBN 3-88493-151-2, S. 46
  5. Beate Hock, Gerda Holz, Werner Wüstendörfer (2000): Frühe Folgen - langfristige Konsequenzen? Armut und Benachteiligung im Vorschulalter. Frankfurt am Main: AWO-ISS, ISBN 3-88493-151-2, S. 88, Abbildung 21
  6. Siebter Familienbericht (s.o.), S. XXXIII.
  7. a b Die Großfamilie stirbt in Deutschland aus. In: Welt Online. 22. Februar 2008, abgerufen am 6. April 2008.
  8. Der Planet der anderen Mütter. Frankreich: Die Frauen bekommen gern Kinder – weil sie trotzdem weiter berufstätig sein können und kein schlechtes Gewissen dabei haben müssen, Spiegel Special Jung im Kopf – Die Chancen der alternden Gesellschaft, 8/2006, Seiten 76–77.
  9. Siebter Familienbericht (s.o.), S. 44.
  10. Sabine Winkler und Marius Gelhausen (29. Januar 2007): Resilienz. technische Universität Darmstadt war am 11. April 2008 auch Online abrufbar
  11. Nathan Caplan et al. (1992): Indochinese Refugee Families and Academic Achievement, In: Scientific American, Ausgabe Februar 1992; S. 18-24
  12. Hamburger Bildungsserver: Aspekte der Lernausgangslage und der Lernentwicklung war am 11. April 2008 auch Online abrufbar
  13. Michael Blume, Carsten Ramsel, Sven Graupner: Religiosität als demographischer Faktor - Ein unterschätzter Zusammenhang?. Marburg Journal of Religion: Volume 11, No. 1 (June 2006), S. 18
  14. Michael Blume, Carsten Ramsel, Sven Graupner: Religiosität als demographischer Faktor - Ein unterschätzter Zusammenhang?. Marburg Journal of Religion: Volume 11, No. 1 (June 2006), S. 5ff.
  15. Michael Blume, Carsten Ramsel, Sven Graupner: Religiosität als demographischer Faktor - Ein unterschätzter Zusammenhang?. Marburg Journal of Religion: Volume 11, No. 1 (June 2006), S. 18
  16. Dr. Bernd Eggen, Harald Leschhorn: Kinderreichtum und Bildung. Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 7/2004 [1]
  17. Statistisches Bundesamt: "Mikrozensus 2008 - Neue Daten zur Kinderlosigkeit in Deutschland", S. 29 http://www.demografie.nrw.de/publikationen/10_Stat_Bundesamt-Mikrozensus_2008.pdf
  18. Charlotte Höhn, Andreas Ette, Kerstin Ruckdeschel: Kinderwünsche in Deutschland - Konsequenzen für eine nachhaltige Familienpolitik. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung; S. 32/33
  19. Charlotte Höhn, Andreas Ette, Kerstin Ruckdeschel: Kinderwünsche in Deutschland - Konsequenzen für eine nachhaltige Familienpolitik. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung; S. 46/47
  20. Charlotte Höhn, Andreas Ette, Kerstin Ruckdeschel: Kinderwünsche in Deutschland - Konsequenzen für eine nachhaltige Familienpolitik. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung; S. 47
  21. Charlotte Höhn, Andreas Ette, Kerstin Ruckdeschel: Kinderwünsche in Deutschland - Konsequenzen für eine nachhaltige Familienpolitik. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung; S. 63
  22. vgl. die Studie von Prof. Hans Bertram: Gutachten Nachhaltige Familienpolitik. Zukunftssicherung durch einen Dreiklang von Zeitpolitik, finanzieller Transferpolitik und Infrastrukturpolitik. http://www.bmfsfj.de/bmfsfj/generator/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/Bertram-Gutachten-Nachhaltige-Familienpolitik,property=pdf,bereich=,sprache=de,rwb=true.pdf . Abbildung 2 (S.12)
  23. Siebter Familienbericht (s.o.), S. 175.
  24. Siebter Familienbericht (s.o.), S. 19–20.
  25. René Pfister: Familienpolitik: Viele Kinder, kein Job. In: Der Spiegel. Heft 20/2008 vom 10. Mai 2008, S.29
  26. Franz-Xaver Kaufmann. Zukunft der Familie. 1995. S.169 ff.
  27. Kurt P. Bierschock: Kinderreiche Familien – ein Überblick. In: Das Online-Familienhandbuch. Abgerufen am 22. April 2008.
  28. a b c Stellungnahme des Deutschen Familienverbandes zum Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung europäischer Antidiskriminierungsrichtlinien. 7. März 2005, abgerufen am 4. Mai 2008.
  29. http://www.bpb.de/popup/popup_quellentext.html?guid=6QPZJX
  30. AKNÖ (Arbeitskammer Niederösterreich): Hortförderung diskriminiert Mehrkind- und MigrantInnenfamilien http://www.ots.at/presseaussendung.php?schluessel=OTS_20071002_OTS0221&ch=politik. Beitrag vom 2. Oktober 2007
  31. http://www.bundestag.de/ausschuesse/a13/anhoerungen/anhoerung02/Stellungnahmen_16_Sitzung/081g_16_13_Seiler_.pdf. S.10
  32. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Jörn Wunderlich, Klaus Ernst, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. – Drucksache 16/5003 – vom 26. April 2007 http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/051/1605149.pdf
  33. Heike Lipinski: Seit einem Jahr Elterngeld. Erste Zahlen zu Zufriedenheit und Inanspruchnahme, In: Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 4/2008 http://www.statistik.baden-wuerttemberg.de/Veroeffentl/Monatshefte/PDF/Beitrag08_04_06.pdf
  34. René Pfister: Viele Kinder, kein Job. In: Der Spiegel. Heft 20/2008 vom 10. Mai 2008. S.29

Siehe auch

Weblinks


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