Montage der Attraktionen

Montage der Attraktionen

Unter Attraktionsmontage oder Montage der Attraktionen versteht man ein in den 1920er-Jahren von Sergej Eisenstein entwickeltes Konzept für seine Theater- und Filmarbeit, das durch Aggressivität und sinnliche Stimulation den Zuschauer von bürgerlich geprägten ästhetischen Vorstellungen in der Kunstrezeption befreien sollte. Das Konzept der Attraktionsmontage wurde in der Stalin-Ära seit den frühen 1930er-Jahren aus ideologischen Gründen als formalistisch abgelehnt.

Die Russische Revolution von 1917 führte in der entstehenden Sowjetunion zu neuen Entwicklungen in Kunst und Ästhetik, die den Kunstbegriff der bürgerlichen Gesellschaft in Frage stellten und auf eine sozialistisch geprägte Kultur abzielten, in der das sich entwickelnde Kollektiv in den Mittelpunkt des Interesses geriet. In der Filmkunst führte dies zur Etablierung des Genres des Revolutionsfilms.

Eisenstein veröffentlichte 1923 seine Schrift Montage der Attraktionen, in der er anhand seiner Inszenierung von Ostrowskis Theaterstück Eine Dummheit macht auch der Gescheiteste für das Moskauer Arbeitertheater der Proletkultur sein ästhetisches Konzept darlegte. Durch die Montage in der Darstellung, die geballt kombinierte Aneinanderreihung immer neuer sensationeller Darbietungen und aggressiver, auf den Schockeffekt zielender Sinnesreizungen des Zuschauers sollte dieser sich von überkommenen Kunstvorstellungen befreien können und im Sinne einer revolutionären Entwicklung zum sozialistischen Menschen veränderbar werden können. Eisenstein zog für diese Vorstellung Impulse aus dem Grand-Guignol-Theater, der Zirkuswelt, dem Varieté und anderen Formen populärer Unterhaltungskultur. In seiner Theaterinszenierung nutzte Eisenstein als Überraschungseffekte Fechtkämpfe, Drahtseilakte, Couplets, Tanzvorführungen und die Einbindung von Filmsequenzen.

In seiner Schrift Montage der Filmattraktionen setzte Eisenstein 1924 sein Konzept anhand seines Films Streik auch für die Filmkunst um. Losgelöst von räumlichen und zeitlichen Zusammenhängen sollte der Film durch Mittel des Schnitts den stimulierenden Effekt beim Zuschauer auslösen. Assoziationsketten sollten dabei helfen, vom affektiven Erfassen des Gezeigten zum intellektuellen Verständnis der dargestellten Zusammenhänge hinzuführen. Zum Beispiel schnitt Eisenstein in Streik Bilder aus einem Schlachthof gegen die Szenen, in denen die Streikenden von den Kapitalisten ermordet werden. Der Zuschauer sollte also durch den Schockeffekt der ungewöhnlich montierten Bilder zuerst emotional gereizt und dann zu einem Verständnis gesellschaftlicher Zusammenhänge hingeleitet werden, das die Kapitalisten mit Viehschlachtern gleichsetzt.

Eisenstein stellte in seiner Konzeption die Macht der proletarischen Massen in den Vordergrund und verzichtete auf die filmische Aufarbeitung von Einzelschicksalen, um den Zuschauer in seiner politischen Bewusstwerdung nicht durch die mögliche Identifizierung mit einzelnen Protagonisten abzulenken.

Literatur

  • Tom Gunning: Das Kino der Attraktionen. Der frühe Film, seine Zuschauer und die Avantgarde. in: Meteor. Texte zum Laufbild 4. 1996.
  • Sergej Eisenstein: Das dynamische Quadrat. Schriften zum Film. Köln 1988.
  • David Bordwell: The Cinema of Eisenstein. Cambridge, Mass./London 1993.
  • Oksana Bulgakowa: Sergej Eisenstein. Eine Biographie. Berlin 1998.
  • Christine Engel (Hrsg.): Geschichte des sowjetischen und russischen Films. Stuttgart/Weimar 1999.

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Нужно решить контрольную?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Attraktionsmontage — Unter Attraktionsmontage oder Montage der Attraktionen versteht man ein in den 1920er Jahren von Sergej Eisenstein entwickeltes Konzept für seine Theater und Filmarbeit, das durch Aggressivität und sinnliche Stimulation den Zuschauer von… …   Deutsch Wikipedia

  • Kino nach dem Ersten Weltkrieg: Stummfilm —   Im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts verlagerte die amerikanische Filmindustrie ihre Produktionstätten von der Ost an die Westküste. 1908 hatten sich die führenden amerikanischen Filmproduzenten und Importeure wie Edison Company, Biograph… …   Universal-Lexikon

  • Filmgeschichte — Die Filmgeschichte zeichnet die Entwicklung des Films nach, der neben der Musik, der Literatur und der bildenden Kunst eine eigenständige Kunstform darstellt. Die Filmgeschichte erstreckt sich von den frühesten technischen Errungenschaften über… …   Deutsch Wikipedia

  • Medientheoretiker — Dieser Artikel oder Abschnitt bedarf einer Überarbeitung. Näheres ist auf der Diskussionsseite angegeben. Hilf mit, ihn zu verbessern, und entferne anschließend diese Markierung. Als Medientheorie werden spezifische oder generalisierte… …   Deutsch Wikipedia

  • Filmwissenschaft — Die Filmwissenschaft ist eine Kunst und Kulturwissenschaft, die sich allen Aspekten der Filmkunst (Spielfilm, Dokumentarfilm, Experimentalfilm) in Kino und Fernsehen widmet. Ziel ist es dabei, durch Analysen ein besseres Verständnis für die… …   Deutsch Wikipedia

  • Filmwissenschaftler — Die Filmwissenschaft ist eine Kunst und Kulturwissenschaft, die sich allen Aspekten der Filmkunst (Spielfilm, Dokumentarfilm) in Kino und Fernsehen widmet. Ziel ist es dabei, durch Analysen ein besseres Verständnis für die Entwicklung und… …   Deutsch Wikipedia

  • Medientheorie — Als Medientheorie werden spezifische oder generalisierte Forschungsansätze verstanden, die das Wesen und die Wirkungsweise von Einzelmedien oder der Massenmedien generell zu erklären versuchen. Es werden darin häufig Rückbezüge genommen auf die… …   Deutsch Wikipedia

  • Virtualisierung (Krieg) — Virtualisierung im Bereich Krieg bezeichnet eine besondere Form der modernen Austragung von Kriegen, bei der der Mensch zunehmend aus der physischen Kriegsführung zurück tritt und diese ferngesteuerten Maschinen überlässt, aber auch eine… …   Deutsch Wikipedia

  • Trick (Zirkus) — Ein Trick im Zirkus oder im Varieté ist ein schnell ablaufendes Kunststück eines Artisten (Akrobatik, Tierdressur, Zauberkunst etc.), dessen Erfolg oder Misserfolg sofort ersichtlich ist und daher zum Applaus führen soll. Es gibt angekündigte… …   Deutsch Wikipedia

  • Essayfilm — Der Essayfilm (von frz.: essai = Versuch) ist eine experimentelle Filmform zwischen den Filmgattungen Spielfilm und Dokumentarfilm,[1] in welcher der Regisseur mit betont subjektiver Betrachtungsweise aus den Zwängen der Erzählmuster ausbricht.… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”