Armenier-Gesetz (Frankreich)

Armenier-Gesetz (Frankreich)

Im Oktober 2006 wurde im französischen Parlament ein Gesetz verabschiedet, das die Leugnung des Völkermords an den Armeniern unter Strafe stellt (Negationismus). Um wirksam zu werden, bedarf das Gesetz noch der Zustimmung durch den Senat und der Unterzeichnung durch den französischen Staatspräsidenten. Am 4. Mai 2011 lehnte der Senat die Annahme des Gesetzes ab.[1]

Inhaltsverzeichnis

Geschichtlicher Hintergrund

Der Völkermord an den Armeniern (im Armenischen Aghet, Metz Jeghern, Jeghern, Darakrutiun, Aksor, Tschart, (Haya-)tseghaspanutiun) ereignete sich am Anfang des 20. Jahrhunderts, als im Zusammenhang mit den Bestrebungen, einen homogenen türkischen Nationalstaat zu schaffen, eine große Zahl von Armeniern in der heutigen Türkei durch das Osmanische Reich – den Vorgängerstaat der Türkei – systematisch getötet wurden. Im engeren Sinn versteht man unter diesem Begriff die systematischen Morde in den Jahren von 1915 bis 1917.

Inwieweit die Bezeichnung Völkermord für die damaligen Ereignisse angemessen ist bestreitet die offizielle Türkei. In der Türkei werden die ereignisse als Ereignisse im Zusammenhang mit den Kriegsereignissen eingestuft. Wenigstens seit dem Jahr 2005 gibt es politischen Druck auf die Türkei, die Massaker und Todesmärsche als Völkermord an dem Armenischen Volk anzuerkennen. Verschiedene Länder äußerten sich zu dem Thema. 15 Staaten, darunter Frankreich und die Schweiz, sprechen offiziell von einem Völkermord. Der Deutsche Bundestag diskutierte Mitte Juni 2005 über die Aufarbeitung der Ereignisse während des Ersten Weltkrieges, jedoch sprach man in Deutschland nicht im Text der Resolution, sondern nur in der Begründung von einem Völkermord. Das Osmanische Reich war während des Ersten Weltkrieges Verbündeter des Deutschen Reichs und unternahm nichts gegen die Morde und die Vertreibung aller Armenier aus ihren überkommenen Siedlungsgebieten in der Osttürkei.

Das Armenier-Gesetz in Frankreich

Informationen über das Gesetz

In Frankreich wurde am 12. Oktober 2006 von der Nationalversammlung einen Gesetzesentwurf angenommen. Laut dieses Entwurfs sollte die Leugnung des Genozids an den Armeniern mit einem Jahr Haftstrafe oder 45.000 Euro Bußgeld bestraft werden. Im Parlament (Nationalversammlung) stimmten 106 Abgeordnete für das Gesetz und 19 dagegen. Viele Abgeordnete, die dem Entwurf kritisch gegenüber stehen, nahmen an der Abstimmung überhaupt nicht teil oder enthielten sich ihrer Stimme. Insbesondere Mitglieder der konservativen Partei UMP, der auch Jacqes Chirac angehört, verweigerten so ihre Stimmabgabe. Die Abstimmung war offiziell und wurde von Zuschauern verfolgt. Sowohl von den in Frankreich lebenden Armeniern, als auch von der türkischen Regierung waren Vertreter anwesend. In der Türkei wurde die Sitzung außerdem live im Fernsehen übertragen. Als nächstes wurde der Gesetzesentwurf dem Senat vorgelegt; ob das Gesetz dann in Kraft tritt, entscheidet letztendlich der französische Staatspräsident.

Reaktionen und deren Auswirkungen nach der Annahme des Entwurfs

Die türkische Regierung weigert sich, die Vertreibung und Ermordung der Armenier im Osmanischen Reich als Völkermord anzuerkennen. Stattdessen spricht zum Beispiel die türkische Gemeinschaft in Deutschland von „höchst tragischen Ereignisse[n] […], denen Hunderttausende Armenier aber auch Türken und Kurden zum Opfer gefallen sind“. Die beeinflusste Mehrheit der türkischen Bevölkerung sieht das Armenier-Gesetz als „neuerliche Demütigung und Absage an eine zukünftige türkische EU-Mitgliedschaft“ an. Der türkische Parlamentspräsident Bülent Arinc sprach von einem „’beschämenden’ Beschluss und einer ’feindlichen Haltung’ gegenüber dem türkischen Volk. Das Gesetz sei ein ’schwerer Schlag für die Meinungs- und Gedankenfreiheit’ und für die Türkei ’unannehmbar’“.

Die Regierung der Türkei hatte daraufhin angekündigt, ein geplantes Rüstungsgeschäft abzusagen und französische Unternehmen beim Bau eines neuen Atomkraftwerks auszuschließen. Die diplomatische Zusammenarbeit auch im Rahmen der NATO wurde von der Türkei unterbrochen.[2] Offiziell will die Türkei nicht zum Boykott französischer Waren aufrufen.

Ähnliche Gesetze

Ähnliche Gesetze, die ebenfalls die Leugnung eines Völkermordes bestrafen, gibt es zum Beispiel in Deutschland. In Deutschland kann derjenige, der den Völkermord an etwa sechs Millionen Juden zur Zeit des Nationalsozialismus leugnet, wegen „Volksverhetzung (§ 130 StGB), Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener (§ 189 StGB) [und] Beleidigung (§ 185 in Verbindung mit § 194 Abs. 1 Satz 2 StGB)“6 angeklagt werden. Hauptartikel: Holocaustleugnung Deutschland

In der Schweiz ist das Leugnen des Völkermordes an den Armeniern ebenfalls verboten. Das Leugnen wird allerdings nur im Rahmen der Antirassismus-Gesetzgebung verfolgt – erfolgt das Leugnen aus Unkenntnis der historischen Fakten, ist es straffrei.[3]

In der Türkei gibt es ein Gesetz, das genau das Gegenteil des Armenier-Gesetzes in Frankreich aussagt. Laut jenem türkischen Gesetz droht bei Erwähnung des Völkermords an den Armeniern eine Gefängnisstrafe. Außerdem gab es unter türkischen Abgeordneten den Vorschlag, im Gegenzug zu Frankreich ein Gesetz ähnlich dem französischen Gesetzesvorschlag auszuarbeiten. Demnach soll Frankreich einen Völkermord in seiner früheren Kolonie Algerien begangen haben und die Leugnung dieses Völkermordes soll ebenfalls bestraft werden.

Diskussionen über das Gesetz

Es gibt verschiedene Diskussionen über den Sinn des Gesetzesvorschlags. Auf einige dieser Diskussionen wird in diesem Kapitel näher eingegangen.

Auswirkungen des Gesetzes auf die Armenier

Gegner des Gesetzes argumentieren, dass das französische Gesetz den Armeniern selbst eher schade, als dass es ihnen nütze. Durch ein einfaches Gesetz würde das Problem der Verständigung oder sogar Einigung zwischen Türken und Armeniern auf keinen Fall gelöst. Das gegenseitige Verständnis würde auf diese Weise nahezu unmöglich gemacht. Auch der armenische Patriarch Mesrop Mutafyan äußerte sich auf ähnliche Weise. Vor allem in Istanbul wurden Armenier und andere Minderheiten in letzter Zeit wieder in die Gesellschaft aufgenommen und es gab Gespräche zwischen der Türkei und dem Land Armenien über eine Einigung oder zumindest über ein vernünftiges Zusammenleben. Nun sei zu befürchten, dass diese Gespräche abgebrochen würden.

In der Türkei arbeiten ungefähr 70.000 Armenier illegal. Die türkische Regierung hat bis jetzt nichts dagegen unternommen. Einige Nationalisten in der Türkei wollen die illegalen Arbeiter ausweisen.

„In meinem Land sind 170 000 Armenier ansässig, von denen 70 000 türkische Bürger sind. Im Notfall würde ich morgen den restlichen 100 000 sagen, dass sie unser Land verlassen. Ich tu das, weil sie nicht meine Bürger sind und ich nicht verpflichtet bin, sie in meinem Land zu unterhalten.“

Recep Tayyip Erdogan, türkischer Regierungschef[4]

Diskussionen in Frankreich

Laut der Meinung der Befürworter habe man eine moralische Verantwortung gegenüber den Opfern der Verfolgungen im Ersten Weltkrieg und müsse die Leugnung des Völkermordes bestrafen, um die Opfer nicht herabzuwürdigen oder zu vergessen. Aus diesen Gründen gibt es zum Beispiel in der Schweiz schon ein dem französischen Vorschlag entsprechendes Gesetz.

Gegner des Gesetzes befürchten, dass Frankreichs Wirtschaft Sanktionen und weitere negative Auswirkungen erwarten. Das Gesetz könnte ebenfalls Auswirkungen auf die Politik in Frankreich haben. Wenn das Gesetz bei den Wahlen Anfang Mai 2007 thematisiert wird, könnten die ca. 500.000 in Frankreich lebenden Armenier als Wählergruppe enormen Einfluss auf die Politik nehmen.

Stellungnahmen zum Gesetz

Teile der türkischen Bevölkerung sind der Meinung, das Gesetz solle die Türkei vor der Weltöffentlichkeit bloßstellen. In den Schulen der Türkei werden die historischen Fakten nicht unterrichtet, deshalb kennen viele Einwohner der Türkei die Hintergründe nicht. Türkische Politiker fordern, die Länder der EU sollten eigene Verbrechen der Vergangenheit kritisch aufarbeiten. So wird Norwegen das Verhalten gegenüber den Samen und Frankreich der Kolonialkrieg in Algerien vorgehalten.

Französische Historiker waren aus anderen Motiven über die Verabschiedung des Gesetzes im Parlament empört. Es sei Aufgabe der Historiker, in dieser Frage für Klarheit zu sorgen und nicht die des Parlaments. Diese Ansicht vertrat auch die französische Ministerin für Europaangelegenheiten Catherine Colonna.[5] Nur durch historische Aufarbeitung könne die Schuldfrage geklärt werden. Nur so sei eine Versöhnung mit den Armeniern möglich. Der Völkermord selbst und die historischen Fakten werden von der überwältigenden Mehrheit der Historiker nicht bestritten. Eine Versöhnung zwischen der Türkei und den Armeniern wird ohne eine historische Aufarbeitung schwer möglich sein. Nach Ansicht des EU-Kommissars für die Erweiterung Olli Rehn könnte dieses Gesetz aber der Aufarbeitung im Wege stehen.[6]

Literatur

Einzelnachweise

  1. French Senate Rejects Armenian-Genocide-Denial Bill , Radio Free Europe/Radio Liberty vom 5. Mai 2011 (englisch)
  2. Spiegel vom 16. November 2006
  3. vgl. Oliver Zwahlen: Die Anerkennung des Völkermord an den Armeniern in der Schweiz; http://www.zipr.ch/armenien/html/historikerstreit.htm
  4. neue-armenierverfolgung-in-der-tuerkei
  5. Sueddeutsche.de vom 12. Oktober 2006
  6. Die Presse.com vom 10. Oktober 2006

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