Georges Scelle

Georges Scelle

Georges Auguste Jean Joseph Scelle (* 19. März 1878 in Avranches; † 8. Januar 1961 in Paris) war ein französischer Jurist, der im Bereich des Völkerrechts wirkte und sich insbesondere mit dem Minderheitenschutz, dem Seevölkerrecht zum Kontinentalschelf, dem internationalen Arbeitsrecht und dem Mandat des Völkerbundes beschäftigte. Er war von 1912 bis 1932 an der Universität Dijon sowie anschließend bis 1948 an der Universität Paris tätig, und gehörte von 1948 bis 1960 der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen an. Zentrales Element seiner Rechtsphilosophie war die Solidarität zwischen individuellen Menschen, die er als Basis der Rechts, der Gesellschaft sowie der staatlichen und internationalen Ordnung betrachtete. Er gilt neben dem österreichisch-britischen Juristen Hersch Lauterpacht als einer der einflussreichsten Völkerrechtler seiner Zeit und war Mitglied des Institut de Droit international sowie Ehrenmitglied der Amerikanischen Gesellschaft für internationales Recht.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Akademische Laufbahn

Georges Scelle wurde 1878 in Avranches in der Normandie geboren[1] und absolvierte nach dem Schulbesuch in seiner Heimatstadt ein Studium der Rechts- und Politikwissenschaften an der Universität Paris und an der École libre des sciences politiques, das er 1906 mit einer durch Antoine Pillet betreuten Dissertation abschloss. Anschließend nahm er, jedoch ohne Erfolg, an der Agrégation teil, der Zulassungsprüfung für den Schuldienst in Frankreich.[2] In der Folgezeit wirkte er 1907 als Sekretär der brasilianischen Delegation zur zweiten Haager Friedenskonferenz sowie der amerikanischen Delegation im Schiedsverfahren Orinoco Steamship Company zwischen den USA und Venezuela vor dem Ständigen Schiedshof in Den Haag.[2]

Nachdem er von 1908 bis 1910 als Professor für Völkerrecht an der Universität Sofia tätig war, kehrte er nach Frankreich zurück, wo er 1910/1911 an der juristischen Fakultät in Dijon und 1911/1912 in Lille unterrichtete. Er bestand 1912 die Agrégation und erhielt anschließend eine Stelle an der Universität Dijon, an der er bis 1932 für die Fächer Völkerrecht und Recht der Wirtschaftsbeziehungen zuständig war. Nach seiner Einberufung zum Wehrdienst zum Beginn des Ersten Weltkrieges wurde er Rechtsberater im Hauptquartier der achten Französischen Armee. Nach dem Ende des Krieges nahm er seine Tätigkeit an der Universität Dijon wieder auf, von 1929 bis 1932 wirkte er darüber hinaus auch an der Universität Genf und am Genfer Hochschulinstitut für internationale Studien. In den Jahren 1924/1925 fungierte er darüber hinaus auch als Abteilungsleiter im französischen Arbeitsministerium. 1932 akzeptierte Georges Scelle einen Ruf an die Universität Paris, an der er ab 1933 tätig war. Im Alter von 70 Jahren zog er sich 1948 von seinen Lehrverpflichtungen zurück.

Internationale Aktivitäten

Im diplomatischen Bereich war Georges Scelle unter anderem in den 1920er Jahren als Berater der französischen Delegation zur Versammlung des Völkerbundes tätig, an deren letzter Sitzung er 1946 selbst als Delegierter teilnahm. Von 1920 bis 1958 fungierte er als Mitglied des Expertenausschusses zu den Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation, außerdem gehörte er während dieser Zeit 20 Jahre lang dem Verwaltungsgericht der Internationalen Arbeitsorganisation an. Ab 1950 war er Mitglied des Ständigen Schiedshofs. Vor dem Internationalen Gerichtshof wirkte er 1949 in einem Fall als Berater Frankreichs und 1950 in einem weiteren Fall als Berater Perus. Von 1948 bis 1960 gehörte er der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen an. Für die Haager Akademie für Völkerrecht, an der er 1933 und 1936 auch unterrichtete, fungierte er von 1935 bis 1958 zunächst als erster Sekretär des Präsidenten und später als Generalsekretär, sowie von 1958 bis zu seinem Tod als Mitglied des Kuratoriums.

Georges Scelle starb 1961 in Paris.

Wirken

Rechtsphilosophische und politische Ansichten

Georges Scelle galt hinsichtlich seiner politischen Positionen als links-liberal bis sozialistisch sowie als überzeugter Unterstützer einer Organisation der internationalen Ordnung, wie sie in Form des Völkerbundes und später der Vereinten Nationen umgesetzt wurde.[3] Er betrachtete den Ersten Weltkrieg, an dem er selbst teilgenommen hatte, als Ende nationalstaatlichen Souveränitätsdenkens in den Sozial- und Politikwissenschaften zugunsten eines methodologischen Individualismus. Souverän sei seiner Meinung nach allein das Recht, und jedes Subjekt, das sich als souverän bezeichnen würde, würde sich über das Recht erheben und dieses verleugnen.[4] Menschen als Individuen seien seiner Meinung nach aufgrund ihrer Bedürfnisse durch Zusammenhalt in verschiedener Form und Intensität miteinander verbunden, worin er die Basis des gesellschaftlichen Lebens sah. Staaten betrachtete er in diesem Sinne als zufällige und vergängliche Ergebnisse solcher Solidarität zwischen individuellen Menschen. Sie entstünden durch Zusammenschluss kleinerer, durch Zusammenhalt gekennzeichneter Gemeinschaften wie Familien sowie lokalen und regionalen Strukturen zu größeren Einheiten, könnten umgekehrt aber auch wieder in kleinere Bestandteile zerfallen.

Gleiches würde auch für supranationale beziehungsweise internationale Organisationen und die „Weltgemeinschaft“ (Civitas maxima) sowie für nichtstaatliche Institutionen wie beispielsweise Glaubensgemeinschaften gelten. Die Entstehung des Völkerbundes sah er diesbezüglich als Ergebnis einer solchen Entwicklung der modernen Gesellschaft in Richtung einer föderalen Hierarchie. Die Rechtsphilosophie von Georges Scelle war weder positivistisch noch pragmatisch geprägt, sondern basierte vielmehr auf einer als idealistisch wahrgenommenen[5] und soziologisch geprägten Theorie des Rechts.[4] Dessen Aufgabe sei seiner Meinung nach die ausgewogene Verteilung von Zuständigkeiten an Individuen, welche diese Kompetenzen an den Interessen der Gemeinschaft orientiert auszuüben hätten. Eine zentrale Maxime seiner Rechtsphilosophie war der Grundsatz, dass das Recht die Verbindung von Ethik und Macht sei.[6] Das positive Recht, das er als „objektives Recht“ (droit objectif) vom Naturrecht abgrenzte, und die Institutionen zu dessen Durchsetzung betrachtete er dabei als Ausdruck der aus der individuellen Solidarität resultierenden gesellschaftlichen Normen und damit als notwendige Grundlage der Gesellschaft.

In diesem Sinne war er der Meinung, dass durch Verträge kein Recht entstehen würde, sondern dass diese vielmehr verkündenden Charakter hätten. Zweites Definitionskriterium des Rechts neben dem Solidaritätsprinzip sei der „Drang nach Sanktion“.[7] Zwischen nationalem und internationalem Recht sowie zwischen Privat- und öffentlichem Recht sah er keine normativen Unterschiede. Als einziges „echtes“ Rechtssubjekt betrachtete er das mit Freiheiten und Grundrechten ausgestattete Individuum. Auch die Grundlage der internationalen Beziehungen sei letztendlich nicht das Nebeneinander von Staaten, sondern die gegenseitige Durchdringung von Völkern auf der Basis individuellen Umgangs und gegenseitiger Kontakte über Ländergrenzen hinweg.[8] Das Völkerrecht diene in diesem Sinne der Regulierung der Beziehungen zwischen Individuen, welche die ihnen übertragenen Kompetenzen im Auftrag ihrer jeweiligen Staaten ausüben würden. Als größte Schwäche der internationalen Ordnung seiner Zeit sah er das Fehlen von angemessenen legislativen, judikativen und exekutiven Institutionen, die im Auftrag der internationalen Gemeinschaft handeln könnten. Die Aufgaben solcher Organe sollten seiner Meinung nach, im Sinne einer Rollenteilung (dédoublement fonctionnet), die Vertreter der nationalen Exekutivstrukturen der Staaten übernehmen.[8]

Lebenswerk

Zu den völkerrechtlichen Themen, denen sich Georges Scelle widmete, zählten beispielsweise der Minderheitenschutz, das Seevölkerrecht zum Kontinentalschelf, das internationale Arbeitsrecht sowie das Mandat des Völkerbundes.[4] Weitere seiner Arbeiten betrafen Fragen der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit sowie der Souveränität und der Anerkennung von Staaten.[9] Diesbezüglich war er ein Vertreter der deklarativen Theorie der staatlichen Souveränität,[10] nach der die Existenz eines Staates beim Vorliegen bestimmter Merkmale unabhängig von der Anerkennung durch andere Staaten ist.

Darüber hinaus beschäftigte er sich, aus einer soziologischen Perspektive, auch mit rechts- und wirtschaftshistorischen Themen. So gilt seine unter dem Titel „La traité négrière aux Indes de Castille“ in zwei Bänden veröffentlichte Dissertationsschrift als Klassiker zum spanischen Sklavenhandel.[11] Zu seinen akademischen Schülern[1] gehörten unter anderem Guy Ladreit de Lacharrière, der von 1982 bis 1987 als Richter am Internationalen Gerichtshof fungierte, und René-Jean Dupuy, der ab 1979 als Professor am Collège de France wirkte.

Auszeichnungen und Würdigung

Georges Scelle wird neben dem österreichisch-britischen Juristen Hersch Lauterpacht als einer der bedeutendsten Völkerrechtler seiner Zeit angesehen.[12] Ähnlich wie Lauterpacht in Großbritannien und Dionisio Anzilotti in Italien beeinflusste er mit seinen Ansichten die Völkerrechtsdoktrin seines Heimatlandes Frankreich.[13] Ab 1929 war er assoziiertes und ab 1947 ordentliches Mitglied des Institut de Droit international, für das er außerdem 1948 als Vizepräsident fungierte. Von der Amerikanischen Gesellschaft für internationales Recht wurde er 1950 zum Ehrenmitglied ernannt.[14]

Nach ihm benannt sind der Place Georges Scelle, an dem sich in seiner Geburtsstadt Avranches die von ihm absolvierte Schule befindet, sowie der Prix Georges Scelle, der seit 1963 von der Universität Paris vergeben wird. An der Universität Dijon fand 2011 anlässlich des 50. Jahrestages seines Todes eine Konferenz unter dem Titel „L'actualité de Georges Scelle“ statt.

Werke (Auswahl)

  • La traité négrière aux Indes de Castille. Paris 1906
  • La morale des traités de paix. Paris 1920
  • La Société des Nations, sa nécessité, son but, ses origines, son organisation. Dijon 1922 (zweite Auflage, Paris 1924)
  • Le droit ouvrier. Paris 1922, 1929
  • Précis de droit des gens. Principes et systématique. Zwei Bände. Paris, 1932 und 1934
  • Théorie juridique de la révision des traités. Paris 1936
  • Manuel élémentaire de droit international public. Paris 1943
  • Droit international public. Paris 1934
  • Manuel de droit international public. Paris 1948

Einzelnachweise

  1. a b Die biographischen Informationen entstammen, sofern nicht anders angegeben, dem folgenden Artikel: Antonio Tanca, EJIL 1/1990, S. 240–249 (siehe Literatur)
  2. a b Martti Koskenniemi, Cambridge 2004, Fußnote 279 auf S. 327 (siehe Literatur)
  3. Die Informationen zu seinen rechtsphilosophischen und politischen Positionen entstammen, sofern nicht anders angegeben, dem folgenden Buch: Martti Koskenniemi, Cambridge 2004, S. 327–338 (siehe Literatur)
  4. a b c Hubert Thierry: The Thought of Georges Scelle. In: European Journal of International Law. 1/1990. Oxford University Press & European Society of International Law, S. 193–209, ISSN 0938-5428
  5. Georges Scelle (1878−1961). In: Janne Elisabeth Nijman: The Concept Of International Legal Personality: An Inquiry Into The History And Theory Of International Law. Cambridge University Press, Cambridge 2004, ISBN 9-06-704183-1, S. 192–242
  6. Peter Becker, Reiner Braun, Dieter Deiseroth: Frieden durch Recht? Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2010, ISBN 3-83-051721-1, S. 153
  7. Einfluß der Lehren von Georges Scelle. In: Rudolf Meyer: Bona fides und lex mercatoria in der europäischen Rechtstradition. Reihe: Quellen und Forschungen zum Recht und seiner Geschichte. Band 5. Wallstein Verlag, Göttingen 1994, ISBN 3-89-244072-7, S. 121–123
  8. a b Antonio Cassese: Remarks on Scelle's Theory of "Role Splitting" (dédoublement fonctionnet) in International Law. In: European Journal of International Law. 1/1990. Oxford University Press & European Society of International Law, S. 210–231, ISSN 0938-5428
  9. Martti Koskenniemi, Cambridge 2004, S. 327/328 (siehe Literatur)
  10. Recognition, Constitutive and Declaratory Theories of. In: Boleslaw Adam Boczek: International Law: A Dictionary. Scarecrow Press, Lanham 2005, ISBN 0-81-085078-8, S. 101/102
  11. Leslie Bethell: The Cambridge History of Latin America. Vierter Band. Cambridge University Press, Cambridge 2008, ISBN 0-52-123223-6, S. 603
  12. Martti Koskenniemi: International Law as Political Theology: How To Read the Nomos der Erde? In: Forum historiae iuris. Artikel vom 31. März 2006. Humboldt-Universität zu Berlin, ISSN 1860-5605
  13. Angelika Nußberger: Das Völkerrecht: Geschichte, Institutionen, Perspektiven. Reihe: Beck´sche Reihe. Band 2478. C.H. Beck, München 2009, ISBN 3-40-656278-7, S. 33
  14. Proceedings of the American Society of International Law. 56/1962. American Society of International Law, S. 65

Literatur

  • Antonio Tanca: Georges Scelle (1878−1961). Biographical Note With Bibliography. In: European Journal of International Law. 1/1990. Oxford University Press & European Society of International Law, S. 240–249, ISSN 0938-5428
  • Georges Berlia: In memoriam: Georges Scelle (1878−1961). In: Annuaire Français de Droit International. 6(6)/1960. Centre national de la recherche scientifique, S. 3–5, ISSN 0066-3085
  • The Solidarity Of Fact: Georges Scelle. In: Martti Koskenniemi: The Gentle Civilizer of Nations. The Rise and Fall of International Law 1870–1960. Cambridge University Press, Cambridge 2004, ISBN 0-52-154809-8, S. 327–338
  • Manfred Lachs: The Teacher in International Law: Teachings and Teaching. Martinus Nijhoff Publishers, Den Haag 1982, ISBN 90-247-2566-6, S. 97–99

Weiterführende Veröffentlichungen

  • Charles E. Rousseau: Georges Scelle (1878−1961). In: Revue Générale de Droit International Public. Editions A. Pedone, Paris 1961, S. 5–19
  • Hans Kelsen, Kurt Ringhofer, Robert Walter: Auseinandersetzungen zur reinen Rechtslehre: Kritische Bemerkungen zu Georges Scelle und Michel Virally. Springer-Verlag, Wien und New York 1987, ISBN 0-38-781950-9
  • Oliver Diggelmann: Anfänge der Völkerrechtssoziologie: Die Völkerrechtskonzeptionen von Max Huber und Georges Scelle im Vergleich. Schulthess Juristische Medien, Zürich 2000, ISBN 3-72-554020-9
  • Anja Wüst: Das völkerrechtliche Werk von Georges Scelle im Frankreich der Zwischenkriegszeit. Reihe: Studien zur Geschichte des Völkerrechts. Band 13. Nomos, Baden-Baden 2007, ISBN 3-83-292688-7

Weblinks


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