Reichsverweser

Reichsverweser

Ein Reichsverweser nimmt die Vertretung des Monarchen während einer Thronvakanz wahr, also bei längerer Abwesenheit des Königs oder in der Zeit zwischen dessen Tod und der Thronbesteigung seines Nachfolgers. Der Begriff Verweser kommt von althochdeutsch firwesan und bedeutet „jemandes Stelle vertreten“.

Inhaltsverzeichnis

Reichsvikar im Heiligen Römischen Reich

Hauptartikel: Reichsvikar

Im Heiligen Römischen Reich war die Reichsverweserschaft im Amt des Reichsvikars institutionalisiert.

Im römisch-deutschen Reich gab es zeitweise Reichsvikare für die deutschen und italienischen Gebiete sowie für das Arelat. Für Deutschland schrieb 1356 die Goldene Bulle eine bereits früher bestehende Regelung zur Reichsverweserschaft endgültig fest: Danach war der Pfalzgraf bei Rhein Reichsvikar (vicarius imperii oder provisor imperii) für die Gebiete fränkischen Rechts, der Kurfürst von Sachsen dagegen für die Gebiete sächsischen Rechts. Zu ihren Kompetenzen gehörten unter anderem die Fortführung der laufenden Geschäfte des Königs, die Hofgerichtsbarkeit und die Vergabe von Reichslehen mit Ausnahme der Fahn- und Szepterlehen. Über das Reichsgut durften sie nicht verfügen.

Das Reichsvikariat über Italien, dessen Besetzung zeitweise die Päpste als ihr Recht beanspruchten, war zwischen den Herzögen von Savoyen und Mantua umstritten. Während der häufigen Abwesenheit Kaiser Friedrichs II. im Reich ernannte dieser als Stellvertreter und Vormund für seine Söhne Heinrich (VII.) und Konrad IV. sogenannte Reichsgubernatoren.

Reichsverweser in Deutschland

Der Reichsverweser 1848/49

Nach der Märzrevolution von 1848 schuf auch die Frankfurter Nationalversammlung für kurze Zeit das Amt des Reichsverwesers.

Proklamation vom 15. Juli 1848 nach Übernahme der provisorischen Zentralgewalt

Die in der Frankfurter Paulskirche tagende Nationalversammlung, das erste frei gewählte deutsche Parlament, schuf am 28. Juni 1848 aus eigener Machtvollkommenheit eine provisorische Zentralgewalt, die bis zur Verabschiedung einer Reichsverfassung und der Bestellung eines endgültigen Staatsoberhaupts die Leitung der Exekutive für ganz Deutschland übernehmen sollte. Als Haupt dieser provisorischen Zentralgewalt fungierte ein Reichsverweser – am Folgetag wurde Erzherzog Johann von Österreich in dieses Amt gewählt, das er so lange ausüben sollte, bis die Nationalversammlung einen Kaiser als endgültiges Staatsoberhaupt bestimmt hätte.

Die unter Erzherzog Johann arbeitende Reichsregierung hat aber nie tatsächliche Macht ausgeübt, da die deutschen Einzelstaaten die Exekutivgewalt in ihren Händen behielten. Nach der Ablehnung der Kaiserkrone durch König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen und dem damit verbundenen Scheitern der Paulskirchenverfassung trat Erzherzog Johann am 10. Dezember 1849 als Reichsverweser zurück.

Der Reichsverweser nach dem Ersten Weltkrieg

Nachdem Reichskanzler Max von Baden 1918 die Abdankung Kaiser Wilhelms II. verkündet und sein Amt Friedrich Ebert übergeben hatte, bat ihn Ebert, das Amt des Reichsverwesers als provisorisches monarchisches Staatsoberhaupt zu übernehmen. Von Baden lehnte dies ab, und die Position des deutschen Staatsoberhauptes blieb bis zur Wahl Eberts zum Reichspräsidenten im Folgejahr vakant.

Der Reichsverweser nach den Staatsstreichplänen vom 20. Juli 1944

In den Planungen um den Staatsstreich, der beim Attentat vom 20. Juli 1944 scheiterte, war Ludwig Beck als Reichsverweser vorgesehen, um im Zweiten Weltkrieg als provisorisches Staatsoberhaupt den beabsichtigten Waffenstillstand Deutschlands mit den Alliierten einzuleiten.

Reichsverweser in Ungarn

Im Verlauf der Revolution von 1848/49 im Kaisertum Österreich weigerte sich die ungarische Regierung unter Ministerpräsident Lajos Kossuth, den neuen Monarchen Franz Joseph als König von Ungarn anzuerkennen. Franz Joseph war im Dezember 1848 Kaiser Ferdinand I. (bzw. als ungarischer Herrscher Ferdinand V.) nachgefolgt, der abgedankt hatte. Am 14. April 1849 erklärte der ungarische Reichstag die Unabhängigkeit des Landes und das Haus Habsburg-Lothringen in Ungarn für abgesetzt. Kossuth wurde zum Reichsverweser mit diktatorischen Vollmachten gewählt. Mit russischer Hilfe gelang den Österreichern in den folgenden Monaten die Niederschlagung des ungarischen Aufstands. Am 11. August 1849 sah sich Kossuth schließlich gezwungen, auf den Titel zu verzichten und wenig später ins Ausland zu fliehen.

Im Jahr 1867 wurde dem Königreich Ungarn ein Sonderstatus angeboten. Mit dem Österreichisch-Ungarischen Ausgleich wurde das Kaisertum Österreich in die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn umgewandelt. Die k.u.k. Monarchie Österreich-Ungarn löste sich 1918 in zahlreiche neue Staaten auf. Ungarn blieb nach einem kurzen republikanischen Zwischenspiel unter Mihály Károlyi und der Räterepublik unter Béla Kun weiterhin Königreich. Das Parlament bestellte 1920 Admiral Miklós Horthy zum Reichsverweser (kormányzó).

1921 unternahm König Karl IV., der am 13. November 1918 nicht abgedankt, sondern nur auf seinen Anteil an den Staatsgeschäften verzichtet hatte, von der Schweiz aus zwei Restaurationsversuche. Sein Rückhalt im Land war zu gering, einen Erfolg zu ermöglichen. Die Nachbarländer, zu denen altungarisches Gebiet gehörte, drohten mit dem Einmarsch. Der Reichsverweser weigerte sich daher, dem König die Macht zu übergeben. Am 6. November 1921 beschloss das ungarische Parlament die Dethronisation des Hauses Habsburg. Von nun an war Ungarn de facto und de jure ein Königreich ohne König. (In Ungarn kursierte damals der Scherz, ein Admiral ohne Flotte regiere ein Land ohne Küste als Königreich ohne König).

In der Absicht, seine Funktion als Staatsoberhaupt zu vererben, ließ Miklós Horthy im Februar 1942 seinen älteren Sohn István Horthy vom ungarischen Parlament zum „stellvertretenden Reichsverweser“ (kormányzóhelyettes) wählen. Bevor jedoch Horthy seine Pläne vollenden und seinem Sohnes auch das Nachfolgerecht sichern konnte, verunglückte dieser am 20. August 1942 tödlich. Nach dem von Adolf Hitler erzwungenen Rücktritt Horthys im November 1944 übte der Führer der faschistischen Pfeilkreuzler-Bewegung, Ferenc Szálasi, bis zum Kriegsende 1945 als „Führer der Nation“ und Ministerpräsident faktisch auch das Amt des Staatsoberhauptes aus, obschon dessen Funktionen von einem Staatsrat beziehungsweise Regentschaftsrat (anstelle eines einzigen Reichsverwesers) wahrgenommen wurden.

Nach der kommunistischen Machtübernahme 1945 bestand das Königreich Ungarn zwar formell noch bis Februar 1946 weiter, doch die Funktion des nicht vorhandenen Monarchen wurde nicht mehr durch einen Reichsverweser, sondern durch einen „Obersten Nationalrat“ ausgeübt.

Reichsverweser in Finnland

Ähnliche Verhältnisse herrschten 1918/19 auch in Finnland, das von 1809 bis 1917 als Großfürstentum zum Russischen Reich gehört hatte. Nach der Abdankung des letzten Zaren Nikolaus II. im März 1917 erklärte das finnische Parlament im Dezember 1917 das Land für unabhängig, ohne über die endgültige Staatsform zu befinden. Der Leitende Minister Pehr Evind Svinhufvud amtierte zugleich provisorisch als Staatsoberhaupt. Nach dem deutsch-russischen Frieden von Brest-Litowsk geriet Finnland 1918 kurzfristig unter den Einfluss des Deutschen Reichs. Dies führte im Mai 1918 zur Proklamation des Königreiches Finnland, für das Svinhufvud die Funktion eines Reichsverwesers oder Regenten (finnisch: valtionhoitaja, schwedisch: riksföreståndare) bis zum Amtsantritt eines noch zu wählenden Monarchen übernahm. Im Oktober 1918 wählte der finnische Reichstag den deutschen Prinzen Friedrich Karl von Hessen zum König. Dieser nahm die Wahl zunächst an, trat das Amt jedoch aufgrund der wenig später erfolgten Kriegsniederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg und der Novemberrevolution von 1918 niemals an. Im Dezember 1918 verzichtete er formell auf die Krone.

Zugleich trat der bisherige Reichsverweser Svinhufvud zurück und wurde durch den Oberbefehlshaber der finnischen Armee, General Freiherr von Mannerheim, ersetzt. Hatte Svinhufvud vor allem mit den Deutschen zusammenarbeiten müssen, um Finnlands neue Unabhängigkeit zu sichern, ging es Mannerheim nunmehr um die internationale Anerkennung Finnlands als souveräner Staat durch die demokratischen Siegermächte der Entente. Der Ausgang des Weltkrieges hatte die Beibehaltung einer monarchischen Staatsform obsolet gemacht. Im Juli 1919 wurde Finnland daher zur Republik proklamiert und Reichsverweser Mannerheim durch einen gewählten Präsidenten ersetzt.

Reichsverweser in Russland

Nach der Ermordung der Zarenfamilie ernannte sich Admiral Koltschak zum Obersten Regenten (Reichsverweser) von Russland (1918–20).

Reichsverweser in Schweden

In Schweden wurde die Reichsverweserschaft im 13. Jahrhundert vom Jarl und im 14. Jahrhundert vom Drost wahrgenommen. 1438 wurde das erste Mal der Begriff Reichsvorsteher (Riksföreståndare) verwendet, der auch heute noch existiert. Der Reichsvorsteher entwickelte sich während der Kalmarer Union zu einem selbständigen Amt, das nicht nur den König vertrat, sondern den König ersetzte. Zwischen 1470 und 1523 regierten Reichsvorsteher mit nur kurzen Unterbrechungen (1497–1501 und 1520/21).

Mit der Wahl des Reichsvorstehers Gustav Wasa zum König 1523 wurde das Amt abgeschafft. Der Titel wurde 1595 bis 1599, als Herzog Karl die Regierung in Schweden anstelle des Königs Sigismund übernahm, und 1809, als Herzog Karl Gustav IV. Adolf ablöste, wieder aufgegriffen.

Nach dem schwedischen Verfassungsgesetz zur Regierungsform aus dem Jahr 1974 ist der Reichsvorsteher heute Stellvertreter des Königs, wenn der König an der Ausübung seines Amtes verhindert ist oder der Thronfolger/die Thronfolgerin noch unmündig ist. Der Reichsvorsteher/die Reichsvorsteherin wird vom Reichstag berufen. Er/sie ist ein Mitglied der königlichen Familie gemäß dem Thronfolgeprinzip oder – wenn keine solche Person zur Verfügung steht – der Reichstagspräsident.

Siehe auch


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